Identitätspolitik

Wenn das eigene Selbstverständnis spaltet

04:13 Minuten
Eine Illustration zeigt viele verschiedene Menschen, stellvertretend für die unterschiedlichsten Identitäten im urbanen Raum.
Roman Schack kritisiert, die permanente Zerlegung der Gesellschaften in unterschiedliche Subgruppen gefährde gesellschaftliche Stabilität. © imago / Panthermedia
Ein Standpunkt von Ramon Schack |
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Die aktuelle Identitätspolitik bietet keine Lösung, um gesellschaftliche Missstände zu beseitigen, meint der Politologe Ramon Schack. Im Gegenteil: Statt Zugehörigkeit zu schaffen, verschärfe sie Konflikte, ohne Probleme der Diskriminierung zu lösen.
Seit einiger Zeit bin ich Jude. Zumindest wurde ich in der letzten Zeit häufiger gefragt, ob ich ein Jude bin.
In einem Kommentar auf einer islamfeindlichen und rechtspopulistischen Website las ich, dass ich ein "selbsthassender Jude" sei. Ein Kollege von mir, den ich neulich an einem Berliner S-Bahnhof traf, war sich ganz sicher, dass ich "jüdisch aussehen" würde.
Noch vor einigen Jahren fungierte ich als Pakistani – zumindest gelegentlich, obschon auch als Araber, Portugiese, Inder, Spanier, Schwabe, Schweizer, Rheinländer, Sinto, jemand mit einem "französischen Touch", Albaner, Italiener.
Während einer Polenreise meinte einmal eine ältere Dame, ich sehe aus wie ein Teufel, also wie ein Bulgare. Diese Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. Würde ich also diese mannigfaltigen Zuordnungen der Frage nach meiner Herkunft ernst nehmen, dann käme ich aus mehreren Kontinenten und höchst unterschiedlichen Kulturkreisen.
Die Frage nach meiner Herkunft, häufig vorgetragen in der Form "Wo kommen Sie denn wirklich her?", verfolgt mich, seit ich als Jugendlicher langsam in das Erwachsenenalter hineinwuchs.

Die Frage nach der Herkunft ist legitim

Ich bin Deutscher, erblickte in Deutschland das Licht der Welt, definiere mich als Deutscher – vielleicht als deutscher Weltbürger, pathetisch formuliert. Das alles, ohne mir etwas darauf einzubilden. Es entspricht nun einmal den Fakten. Trotzdem werde ich in regelmäßigen Abständen nach meiner Herkunft befragt. Oder vielleicht besser: ausgefragt.
Um nicht missverstanden zu werden: Die Frage nach der Herkunft ist natürlich legitim. Ich habe diese auch schon selbst häufig gestellt, sie soll also nicht unter Generalverdacht gestellt werden.
Ich mache aber seit Jahrzehnten die Erfahrung, dass meine Antwort selten befriedigt, nicht als ausreichend und allumfassend angesehen wird, weshalb häufig noch einmal nachgehakt wird, nicht selten auch häufiger als nur einmal. Als hätte ich nicht ganz die Wahrheit erzählt oder entscheidende Informationen unter den Tisch fallen lassen. Ja, als würde ich etwas verschweigen – etwas, das die Schublade klemmen lässt, in der man mich einsortieren möchte.
Ich denke aber gar nicht daran mir irgendwelche Attribute zu geben, in Form von Migrationshintergründen oder Bindestrich-Identitäten.
Trotz oder gerade aufgrund dieser diffizilen Rahmenbedingungen, bin ich kein Anhänger der Identitätspolitik, zumindest nicht, wie sie größtenteils heute im öffentlichen Diskurs vertreten wird.

Identitätspolitik unterminiert den Zusammenhalt der Gesellschaft

Diese Identitätspolitik, die in den westlichen Gesellschaften bisweilen seltsame Blüten treibt, hat die Tore zu neuen Perspektiven aufgestoßen, aber auch neue Konfliktlinien freigelegt.
Der amerikanische Politologe Francis Fukuyama, schreibt in seinem lesenswerten Buch "Identität, wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet":
"Menschen werden nach ihrer Hautfarbe, ihrem Geschlecht, ihrer Nationalität, ihrem Aussehen, ihrer Ethnizität oder ihrer sexuellen Orientierung beurteilt. Jede Person und jede Gruppe erlebt Missachtungen auf unterschiedliche Art, und jede strebt nach ihrer eigenen Würde. Somit bringt die Identitätspolitik eine Dynamik hervor, durch die sich Gesellschaften in immer kleinere Gruppen mit speziellen ‚Erlebnissen‘ der Schikanierung teilen."
Diese Einschätzung Fukuyamas ist absolut treffend, und selbst frage ich mich seit geraumer Zeit: Was hält unsere modernen, westlichen Gesellschaften eigentlich noch zusammen? Diese Frage kann ich bisher nicht beantworten. Ich bin mir aber sicher, dass die permanente Zerlegung der Gesellschaften in unterschiedliche Subgruppen, die sich gegenüberstehen, der Stabilität jeder Gesellschaft dauerhaft zuwiderläuft, ohne die Probleme der Diskriminierung, der Ausgrenzung wirksam lösen zu können.

Ramon Schack, Jahrgang 1971, ist Diplom-Politologe, Journalist und Publizist. Er schreibt für die "Neue Zürcher Zeitung", "Süddeutsche Zeitung", "Die Welt", "Berliner Zeitung", "Wiener Zeitung" und "Handelsblatt". Seit 2018 moderiert Schack die Internetsendung "Impulsiv TV", in der er Gäste aus Politik, Wirtschaft und Kultur interviewt.

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