In Zukunft ohne Goethe und Schiller?

Von Wolfgang Herles |
Dem deutschen Gymnasium gilt schon lange nicht mehr der gebildete Bürger als Ziel allen Bemühens, sondern die funktionstüchtige Kraft. Die Industriegesellschaft im globalen Wettbewerb braucht Manager und Ingenieure. Fremdsprachenkenntnisse haben Konjunktur, solides Grundwissen in den Fächern, die lehren, was die Materie zusammenhält. Physik, Chemie, Biologie, natürlich Mathematik.
Deutschland indes versteht noch immer sich auch als Kulturnation. Das dazu notwendige geistige Fundament jedoch wird immer poröser, woran die Schulen ihren Anteil haben. Denn dieses Fundament besteht nicht nur aus Nützlichem.

Musik und Kunst etwa werden skandalös vernachlässigt. Das gilt im auf seine Schulen so maßlos stolzen Bayern kaum weniger als in Ländern wie Hamburg, die seit jeher im Rufe stehen, es Schülern vor allem leicht zu machen.

Was Hamburg jetzt mit seinem neuen "Rahmenplan Deutsch" vorexerziert, sieht aus wie ein weiteres Sargnägelchen am Abendland nach deutscher Version. Die gewaltigsten Werke und Werte der deutschen Literatur, der Faust, die Buddenbrooks, die Blechtrommel, sie müssen nicht mehr gelesen, ja vielleicht nicht einmal mehr zu Kenntnis genommen werden. Abitur ohne Faust? Welch Abgrund an Bildungs-Verrat tut sich da auf! Wirklich?

Kein Zweifel: Bis zum Abitur häufen Schüler immenses Faktenwissen an, aber das Wissen um die Zusammenhänge, die Bedeutung, den Sinn all dieser Fakten kommt zu kurz. Fakten, Fakten, Fakten: Damit lässt sich vielleicht ein Nachrichtenmagazin betreiben aber nicht die Fähigkeit bilden zur "Teilhabe an der Kultur", wie das pädagogische Ziel so schön lautet.

Gerade der Deutschunterricht muss deshalb mehr bieten als literarisches Faktenwissen. Es wäre ein Irrtum zu glauben, Abiturienten, die dazu gezwungen werden, einen ganzen Kanon deutscher Klassiker zu lesen, seien bereit für ein Leben mit guten, wertvollen Büchern. Häufiger dürfte das schiere Gegenteil der Fall sein. Abgeschreckt und immunisiert für immer, stellen sie mit der Reifeprüfung Wahres, Gutes und Schönes ein für allemal ins spärlich gefüllte Regal. Mit einem fest verordneten Kanon als Wissensstoff lässt sich Interesse an Literatur nicht erzwingen.

Literatur ist aber auch nicht nach dem Vorbild von Chartshows im Fernsehen zu vermitteln. "Unsere besten Klassiker": Selbst mit Reich-Ranicky statt mit Kerner wäre das eher ein Format für pensionierte Handarbeitslehrerinnen als für junge Leute. Und am Ende wird nur noch über Literatur gequatscht. Genau diese Gefahr droht nun an den Hamburger Gymnasien. In Hamburg wird Lektüre zur unverbindlichen Option. Sie ist aber unersetzlich.

Dass große Literatur meist durchaus auch "Unterhaltung" ist, nur von den allermeisten Schülern nicht als solche wahrgenommen wird, liegt nicht nur an langweiligen Lehrern. Der Begriff der Unterhaltung ist längst pervertiert, vor allem durch Massenmedien, die glauben lassen, Unterhaltung müsse Denken überflüssig machen und dem Geist aus dem Weg gehen.

Unterhaltung wird in unseren Tagen vor allem als bequem und leicht konsumierbar definiert. Sie habe schlicht und voraussetzungslos zu sein und müsse auch noch deren borniertesten Ignoranten vermittelbar sein. Aus dem Sport weiß aber sogar der Dümmste, dass der Genuss erst aus der Anstrengung kommt. Warum sollte das in der Kultur anders sein?

Das aber wäre die wichtigste Aufgabe des Schulfachs Deutsch: Der allgemeinen Verblödung entgegenzuwirken. Den jungen Leuten Mittel zur Verfügung zu stellen, einem Schicksal als Couchpotatoe vielleicht doch zu entgehen. Zu vermitteln, wie ungeheuer elegant, raffiniert und kraftvoll Sprache sein kann. Zu zeigen, dass Form und Tiefe des Inhalts miteinander zu tun haben.

Anders als der Unterricht in Mathematik und Französisch sollte Deutsch an der Schule Raum bieten, über die Bedingungen menschlicher Existenz nachzudenken. Dazu braucht man große Literatur. Was Schiller im Don Carlos über die Macht sagt, kann kein Geschichtsbuch ersetzen. Über Recht und Gewalt ist in keinem Sozialkundeunterricht Tieferes zu erfahren als in Kleists Novelle Michael Kohlhaas.

Über die Grenzen des Fortschrittsglaubens ist nirgends mehr zu hören als in Max Frischs Homo Faber. Und die Untiefen der deutschen Seele und die Ursachen der großen Katastrophe kann nur verstehen, wer Goethes Faust kennt und die wilhelminische Geistesverkrümmung im "Untertan" von Heinrich Mann genossen hat.

Wahrscheinlich ist es wirklich nicht sehr vernünftig, Schüler mit so manchem ziegelsteindicken Klassiker zu quälen, der Zeit für Sinnvolleres verschlingt. Auch Kanons müssen immer wieder überdacht und der jeweiligen Zeit angepasst werden, sie sind nicht in Stein gemeißelte Gebote. Aber ganz ohne verbindliche Texte, die um ihrer selbst willen gelesen werden, geht es auch nicht.

Wolfgang Herles studierte Neuere deutsche Literatur, Geschichte und Psychologie in München. Nach seiner Promotion 1980 und dem Besuch der Deutschen Journalistenschule war er zunächst Korrespondent für den Bayerischen Rundfunk in Bonn und Redakteur des TV-Magazins "Report". Von 1987 an leitete er das ZDF-Studio Bonn und moderierte später auch die ZDF-Talkshow "Live". Er ist jetzt Leiter des ZDF-Kulturmagazins "aspekte".
Wolfgang Herles
Der Publizist und Journalist Wolfgang Herles.© privat