In Schönheit sterben?

Italiens vergessener Süden

Blick auf die Felsenstadt Matera
Blick auf die Felsenstadt Matera © Tilmann Kleinjung
Von Tilmann Kleinjung / Online-Text: mag · 16.08.2016
Italiens Süden ist kulturell reich und gleichzeitig bettelarm. Doch es gibt aufstrebende Orte wie Matera in der Basilikata - die Kulturhauptstadt Europas 2019. Tilman Kleinjung hat Menschen getroffen, die verhindern wollen, dass Süditalien zu Grunde geht.
Der Begriff des "Mezzogiorno" steht für den wunderschönen Süden Italiens, er wird aber auch oft als Synonym für "Problem" und für "Rückständigkeit" verwendet, denn das geringe Bruttosozialprodukt, die hohe Arbeitslosigkeit, die niedrige Industrieproduktion und eine stets anhaltende Emigration haben eine Kluft zwischen dem reichen Norden und dem Süden Italiens erzeugt. Vor allem junge Menschen verlassen scharenweise den Süden. Unter denen, die bleiben, sind 60 Prozent auf Jobsuche.
Doch es gibt auch positive Gegenbeispiele wie die Kleinstadt Matera - eine süditalienische pittoreske Felsenstadt in der Basilicata, die noch vor wenigen Jahrzehnten als "Schande" Italiens galt. "Sassi", das sind die Felsen, in denen bis in die 50er Jahre hinein 20.000 Menschen lebten.
Michele Plati führt Touristen durch die kleinen Gassen und Treppen der Felsenstadt. Er kennt das Leben in den Höhlen noch aus den Erzählungen seiner Großeltern. Die sind 1972 als eine der letzten Familien aus den Sassi ausgezogen:
"Ich erinnere mich, 1976, 77 liefen mein Vater und ich durch die Sassi. Es war ein verlassener Ort. Ein verbotener Ort. Meine Eltern hatten Angst, uns dahin zu lassen und wir waren trotzdem heimlich dort."
Eine herzförmige Fußmatte hängt an einer Wäscheleine vor dem Balkon eines Hauses in Matera
Eine herzförmige Fußmatte hängt an einer Wäscheleine vor dem Balkon eines Hauses in Matera© Tilmann Kleinjung
Höhle in den "Sassi" in Matera
Höhle in den "Sassi" in Matera© Tilmann Kleinjung
Der Archäologe Ferdinando Mirizzi forscht über Matera.
Der Archäologe Ferdinando Mirizzi forscht über Matera.© Tilmann Kleinjung
Es war eine Stadt mit eigenen Höhlenkirchen, einem ausgeklügelten Bewässerungssystem und gemeinschaftlich genutzten Öl- und Weinkeltern.
Der Anthropologe Ferdinando Mirizzi hat das Leben in den Höhlen erforscht:
"Die Häuser hatten einen einzigen großen Raum, der "la-mione" genannt wurde. Nur die Fassade war gemauert und es gab außer der Tür keine Öffnungen, vielleicht noch ein kleines Fenster über der Tür. Nur hier drangen Licht, Wärme und Luft durch."
Seitdem hat sich viel geändert. 1993 wurde die Felsenstadt von der UNESCO zum Weltkulturerbe ernannt. 2019 wird Matera Kulturhauptstadt Europas. Der Arbeitsmarkt boomt, es haben sich etliche Startup-Unternehmen angesiedelt. Matera genießt allerdings eine Ausnahmestellung in einer abgehängten Region.

In Kalabrien präsentiert sich die Mafia als letzte Ordnungsmacht

Keine Region Süditaliens ist so tief von der organisierten Kriminalität durchdrungen wie Kalabrien. Und keine Region ist ökonomisch, ökologisch und politisch so heruntergewirtschaftet. Die 'Ndrangheta präsentiert sich in der von ihr verursachten Krise als letzte Ordnungsmacht. Wer da nicht mitspielen will, muss fliehen oder mutig sein wie Pippo Calippo, Besitzer des "Popilia Country Resorts", eines Vier-Sterne-Feriendomizils bei Pizzo. Er zeigt auf sein Kingelschild.
"Schau, dreimal haben sie geschossen: Hier, da und der dritte Schuss da. Die anderen Schüsse gingen in die Wand über dem Fenster. Sie hätten sich wahrscheinlich gewünscht, dass ich mich an den Boss des Ortes wende, damit er mein Problem löst. Leider machen das auch viele meiner Kollegen und das ist negativ. Denn wenn du in die Falle tappst, kommst du nicht mehr heraus."
Feriendomizil-Besitzer Pippo Callipo mit Korrespondent Tilmann Kleinjung
Feriendomizil-Besitzer Pippo Callipo mit Korrespondent Tilmann Kleinjung© Tilmann Kleinjung
Das Klingelschild des "Popilia Country Resorts" in Kalabrien - mit Spuren vom letzten Anschlag.
Das Klingelschild des "Popilia Country Resorts" in Kalabrien - mit Spuren vom letzten Anschlag.© Tilmann Kleinjung
Die Reise durch den "Mezzogiorno" führte Tilmann Kleinjung weiter nach Taranto in Apulien. Hier steht das größte Stahlwerk Europas, die größte Dreckschleuder Italiens. Und nach Sutera auf Sizilien, das nach dem Zweiten Weltkrieg noch 5000 Einwohner hatte - und heute nur 1500.

Geflüchtete bringen Leben nach Sutera

Sutera ist ein kleines Städtchen auf einem Hügel. Agrigento, die nächste, größere Stadt ist 50 Autominuten entfernt. Das Meer kann man hinter den Bergen Siziliens nur erahnen. Und dennoch hat die jüngste Geschichte von Sutera mit dem Meer zu tun: Im Oktober 2013 ertranken vor der Mittelmeerinsel Lampedusa mehr als 350 Flüchtlinge.
"Nach der Tragödie von Lampedusa wurden die Gemeinden aufgefordert, Grabstätten auf ihren Friedhöfen zur Verfügung zu stellen. Wir hatten keine und haben gedacht: Es ist besser lebende statt tote Menschen aufzunehmen."
Giuseppe Grizzanti, der Bürgermeister von Sutera, musste am Anfang natürlich Überzeugungsarbeit leisten. Nicht alle im Ort waren von der Aussicht begeistert, Flüchtlinge aufzunehmen. "Es gab etwas Opposition", sagt Grizzanti. Doch die ist verschwunden, als die ersten Familien ankamen, in die leeren Wohnungen zogen und seine Stadt wieder mit Leben erfüllten.
Lehrer Pino Landro hat neue Schüler:
"Es sind sehr aufgeweckte Kinder, bereit, ziemlich auf Zack. Wenn sie erst einmal das Sprachproblem überwunden haben, verständigen sie sich ganz schnell mit den anderen Kindern aus Sutera."
Sutera auf Sizilien
Sutera auf Sizilien© Tilmann Kleinjung
Lehrer Pino Landro aus Sutera vor seiner Klasse
Lehrer Pino Landro aus Sutera vor seiner Klasse© Tilmann Kleinjung
Wenn es die Flüchtlingskinder nicht gäbe, müsste Pino Landro vielleicht schon woanders unterrichten. Wegen geringer Nachfrage stand die Schule von Sutera lange auf der Kippe. Wer verirrt sich schon nach Sutera?
Die meisten zieht es mangels Perspektive eher weg. Und so freut sich Bürgermeister Grizzanti auch darüber, dass sechs Bürgerinnen und Bürger seiner Stadt für die Betreuung von Flüchtlingsfamilien eingestellt werden konnten.
"Da springt auch für das Dorf etwas heraus. Die Menschen bekommen Arbeit. Dann werden die meisten Einkäufe hier vor Ort getätigt. Die Flüchtlinge geben ihr Geld also hier aus. All das war zwar nicht der Hauptgrund für das Projekt, aber nützlich war es schon."
Wer dem Projekt deshalb nur eigennützige Motive unterstellt, tut den Menschen von Sutera Unrecht. Das Wort "accoglienza", das mit "Aufnahme" nur schlecht übersetzt ist, wird in ganz Sizilien groß geschrieben.
Angst vor Überfremdung oder gar dem Untergang des Abendlandes haben die Sizilianer nicht. Dazu haben sie schon zu viele auf dieser Insel aufgenommen: die Griechen, die Römer, die Araber, die Normannen, die Staufer, die Spanier. Und sie haben erfahren, dass Vielfalt reich macht und nicht arm.
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