"In Pakistan fehlen politische Führer"

Moderation: Michael Groth · 27.10.2012
Die Wirtschaftskrise und schlechte Beziehungen zu den Nachbarn bringe Pakistan in eine instabile und ernste Lage, warnt der Journalist Ahmed Rashid. Außerdem fehle es an Vertrauen in die zivile Regierung: "Von einer funktionierenden Demokratie sind wir noch ein gutes Stück entfernt."
Deutschlandradio Kultur: Ihr neues Buch heißt "Am Abgrund” – der Titel bezieht sich auf ihre Heimat Pakistan. Steht das Land vor dem Zerfall, ist Pakistan ein gescheiterter Staat?

Ahmed Rashid: Das muss nicht so sein. Aber die Lage ist ernst. Da ist die Wirtschaftskrise, wir registrieren immer wieder Aufstände. Und das Verhältnis zu unseren Nachbarn ist auch schlecht. Hoffnung besteht erst, wenn wir das ändern. Wir müssen uns Indien annähern, und wir müssen in Afghanistan eine konstruktive Rolle spielen.
Der Westen betrachtet Pakistan inzwischen als Bedrohung. Die pakistanischen Taliban bilden Extremisten aus – auch Deutsche übrigens. Erst wenn dies aufhört, werden Investoren und westliche Regierungen wieder Vertrauen schöpfen.

Deutschlandradio Kultur: Gibt es ein funktionierendes politisches System, eine funktionierende öffentliche Ordnung In Pakistan? Bislang wurde noch jede gewählte Regierung in Pakistan durch einen Militärputsch abgelöst.

Rashid: Das System ist fragil. Wir hoffen, dass Präsident Zardari durchhält bis Februar kommenden Jahres. Wenn im März dann gewählt wird, werden wir zum ersten Mal eine politisch-demokratische Machtübergabe erleben. Bislang hat sich vorher noch jedes Mal das Militär eingeschaltet.
Im Kern geht es dabei immer um Außenpolitik. Wir waren zu Zeiten des Kalten Krieges komplett von Amerika abhängig. Heute unterstützt Pakistan islamistische Extremisten. Zum Beispiel in Kaschmir. Aber diese Unterstützung kommt nicht aus der zivilen Regierung. So etwas entscheidet das Militär. Dabei handelt es sich um geheime Operationen, über die in der Öffentlichkeit natürlich nicht gesprochen wird.

Deutschlandradio Kultur: Also spielt das Militär nach wie vor die größte gesellschaftliche Rolle?

Rashid: Die Innen- und die Wirtschaftspolitik wird weitgehend von Zivilsten konzipiert. Leider sind diese Zivilsten aber nicht in der Lage, Reformen einzuleiten. Die Regierung schafft es nicht, den Spielraum zu nutzen, den ihr das Militär überlässt. Pakistan leidet unter der engstirnigen Außenpolitik des Militärs und der Unfähigkeit seiner zivilen Regierung.

Deutschlandradio Kultur: Gibt es denn in Pakistan eine nationale Identität?

Rashid: Das ist ja das Problem. Pakistan wurde als Staat für Muslime gegründet. Jinnah, der Staatsgründer, versprach zugleich allen Minderheiten ein Leben in Sicherheit und mit freier Ausübung ihrer Religion. Leider trat genau das Gegenteil ein. Minderheiten leben heute keineswegs in Frieden. Sie werden zunehmend von den Extremisten attackiert. Von einer funktionierenden Demokratie sind wir noch ein gutes Stück entfernt. Die Zivilregierung hat keinen Einfluss auf den Militärhaushalt und die Militärpolitik. Und das, was sie entscheiden, entscheiden Zivilisten oft mit wenig Kompetenz.
Dazu passt die Korruption und der Mangel an Erfahrung. Dennoch hoffe ich, dass im kommenden Jahr die nächste Zivilregierung zum Zug kommt. Eine demokratische Wahl ist besser als jede andere Form der Machtübergabe.
Leider sind die zivilen Parteiführer sehr schwach. Wo immer sie hinschauen, eine Persönlichkeit, der die Menschen vertrauen, gibt es derzeit nicht.

Deutschlandradio Kultur: Pakistan ist ein sehr junges Land. 60 Prozent der Bevölkerung sind unter 25 Jahre. Wer vertritt die Interessen dieser Mehrheit?

Rashid: Die Jugend stellt den Status Quo infrage, der der Armee und den Politikern die komplette Macht zuspricht. Nehmen Sie den Fall dieses 14 Jahre alten Mädchens, das vor kurzem von den pakistanischen Taliban schwer verletzt wurde – nur weil sie es wagte, sich in einem Blog der BBC zu äußern. Die Proteste gegen dieses Verbrechen kamen vor allem von jungen Menschen. Sie wollen Veränderung. In der Kultur wird das deutlich: in der Musik, die sie hören, in der Kunst, die sie bewundern. Hier passiert viel Ermutigendes. Leider fand dieser Aufbruch bislang nicht den Weg in die Politik. Wenn wir nach Ägypten schauen: Von den Protesten am Tahrir-Platz hat die Muslim-Brüderschaft am meisten profitiert – eine gut organisierte politische Kraft. In Pakistan fehlen politische Führer, es fehlt eine Bewegung, der sich die Jugend anschließen könnte.

Deutschlandradio Kultur: Dieses Mädchen, das zum Opfer der Taliban wurde – wie wurde diese Geschichte in Pakistan diskutiert?

Rashid: Der Vorfall bot dem Militär und der Zivilregierung die Möglichkeit, ihre Haltung zu verändern. Das Maß an Sympathie für das Mädchen, die Sorge um ihr Leben einerseits und die umfassende Kritik an den Taliban andererseits hatten einen Umfang – das habe ich so noch nie erlebt. Man hätte diesen Moment nutzen können. Die ganze Nation hätte den Kampf gegen die Taliban unterstützt. Wir hätten über unsere Außenpolitik diskutieren können. Aber wir ließen die Chance aus. Weder die Armee, noch die Regierung, noch das Parlament noch die Parteien: Niemand griff das auf. So ein Augenblick kommt vielleicht nicht wieder.

Deutschlandradio Kultur: Welche Rolle spielen die religiösen Fundamentalisten?

Rashid: Eine sehr negative! Leider ist es nicht so wie in Nordafrika. Dort zeigten sich viele islamistische Parteien nach dem arabischen Frühling ziemlich progressiv. Frauenrechte, Bildung – das war plötzlich ein Thema. In Pakistan sind diese Parteien noch genauso reaktionär wie vor 20 Jahren. Einen modernen Islamismus, wie es ihn zum Beispiel in der Türkei gibt, kann ich bei uns nicht erkennen. In Pakistan unterstützen die islamistischen Parteien die Extremisten. Sie distanzieren sich weder von Al Kaida, noch von den Taliban. Unsere religiösen Führer sind zwar in der Regel keine Extremisten. Aber sie erheben eben auch ihre Stimme nicht gegen Jene, die den Islam falsch interpretieren.

Deutschlandradio Kultur: Normalerweise bestimmt die Innenpolitik das Geschick eines Landes. In Pakistan ist das anders. Erklären Sie uns, warum.

Rashid: In den meisten Ländern ist die Außenpolitik ein Spiegel der Innenpolitik. In Pakistan ist es anders herum.
Hier dominiert die Außenpolitik. Wir bewaffnen die Jihadisten in Kaschmir, wir schicken Jihadisten nach Afghanistan, in einigen Landesteilen herrschen die pakistanischen Taliban. Leider sind sich das Militär und die Zivilregierung einig, wenn es darum geht, die Außenpolitik über Training und Einsatz islamistischer Kämpfer zu definieren. Dies ist der Leitfaden und er reicht bis in die Innenpolitik. Der Militärhaushalt beansprucht zwischen 25 und 30 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Dann fehlt eben Geld für die Gesundheitsvorsorge, für Bildung und Entwicklung. Unsere Schulen sind in erbärmlichen Zustand – weil die Mittel fehlen. Aber Bildung ist natürlich nicht zuletzt deshalb wichtig, um diese vereinfachenden Islam-Interpretationen korrigieren zu können, die uns so sehr schaden.

Deutschlandradio Kultur: Wie sicher sind die pakistanischen Atomwaffen?

Rashid: Diese Frage kann ich nicht beantworten. Das ist natürlich streng geheim. Jedenfalls wird das Atomprogramm vom Militär kontrolliert, nicht von der zivilen Regierung. Dennoch glaube ich, dass von Pakistan derzeit keine Gefahr ausgeht, etwa was die Weiterverbreitung angeht. Wenn das nicht so wäre, würden die Amerikaner reagieren. Solange wir in dieser Sache nichts aus Washington hören, glaube ich, dass das Militär alles unter Kontrolle hat.

Deutschlandradio Kultur: Die Atomwaffen richten sich gegen den "Erzfeind" Indien. Seit einiger Zeit reden die Regierungen in Islamabad und Delhi wenigstens wieder miteinander. Dürfen wir auf Entspannung hoffen?

Rashid: Die Lage hat sich dramatisch verbessert. Das gilt für den Handel und für Verkehrsverbindungen. Es gibt auch Reiseerleichterungen. Über die wirklich wichtigen Punkte wird aber nicht gesprochen. Über Kaschmir, zum Beispiel. Ich sehe da ein Hindernis, dass solche Themen erst gar nicht aufkommen lässt. Die Inder verlangen, dass Pakistan den Extremisten Einhalt gebietet, die aus Punjab heraus Indien infiltrieren. Erinnern Sie sich an den Angriff in Mumbai: mehr als 160 Menschen wurden damals von pakistanischen Terroristen getötet. Die Inder werden darauf bestehen – Fortschritt nur dann, wenn Pakistan hier etwas unternimmt.

Deutschlandradio Kultur: Wie wird Pakistan auf diese Forderung reagieren?

Rashid: Ich hoffe, dass es in Afghanistan friedlicher wird. Dass es einen Dialog zwischen Präsident Karzai und den Taliban gibt. Vielleicht lässt dann die pakistanische Unterstützung für die miIitanten Gruppen nach. Wahrscheinlich wird man diese Gruppen militärisch nicht besiegen können. Aber man kann sie demobilisieren. Entwaffnet sie! Bildet sie aus! Schickt sie in die Schule! Bietet ihnen wirtschaftliche Perspektiven!
Dafür braucht man natürlich einen Plan. Ohne Hilfe und Rat aus dem Ausland wird das nicht funktionieren. Ich hoffe, dass das Militär das begreift. Wir brauchen ein gutes Verhältnis zu Indien, wir brauchen auch Investitionen aus Indien.

Deutschlandradio Kultur: Das Verhältnis Pakistans zu den Vereinigten Staaten ist schwer belastet. Es gab den geheimen Angriff auf Bin Laden, der sich – mit oder ohne Wissen des pakistanischen Geheimdienstes – jahrelang im Land aufhielt; es gibt die amerikanischen Drohnenangriffe, denen auch pakistanische Zivilisten und Soldaten zum Opfer fallen. Haben die USA Indien als Feindbild Nr. 1 abgelöst?

Rashid: Ja, es gibt eine dramatische Veränderung. Viele Pakistanis halten Amerika für ihren gefährlichsten Gegner. Der Anti-Amerikanismus trägt Früchte. Übrigens überall, nicht nur unter den Fundamentalisten. Auch in der Armee und unter den Zivilsten. Das Ganze hat sich hochgeschaukelt. Die Vereinigten Staaten haben seit 9/11 viele Fehler gemacht. Und Pakistan hat den Taliban Unterschlupf gewährt, möglicherweise hat es Bin Laden unterstützt – eine Untersuchung darüber gibt es übrigens bis heute nicht. Die internationale Gemeinschaft wartet auf Antworten. Zur Verbesserung der Beziehungen zu den USA trägt das alles nicht bei.
Zwischen 2001 und 2010 haben wir Finanzhilfen in Höhe von rund 20 Milliarden Dollar erhalten. Der US-Kongress will das jetzt auf Null fahren.
Aber wir hängen am Tropf der internationalen Geber. Die Finanzkrise trifft uns in diesem Zusammenhang besonders stark. Die Lage ist sehr kompliziert.

Deutschlandradio Kultur: In Ihrem jüngsten Buch setzen Sie sich in diesem Zusammenhang kritisch mit Präsident Obama auseinander. Was macht er falsch?

Rashid: Ich glaube, die USA haben die Rolle, die Pakistan in Afghanistan spielt, nicht verstanden. Pakistan ist unser Verbündeter, also haben wir gleiche Interessen: so denkt man in Washington. Das stimmt eben nicht. Pakistan hat andere Interessen: das haben weder Bush noch Obama kapiert. Bush hat sechs Jahre lang ignoriert, dass der Nachwuchs der Taliban aus Pakistan kommt. Obama hat dieses Problem zwar erkannt: Die internen Kämpfe seiner Regierung haben indes jede Lösung verhindert. Außenministerium gegen Weißes Haus gegen Pentagon gegen CIA und so weiter. Obama hat das alles laufen lassen. Übrigens auch den Streit darüber, ob man mit den Taliban sprechen solle. Der amerikanische Präsident hat sich dafür viel zu wenig eingesetzt. Und dann haben sich die durchgesetzt, die solche Gespräche verhindern wollten.

Deutschlandradio Kultur: Man kann über Pakistan nicht reden, ohne über Afghanistan zu sprechen – und umgekehrt. Wünscht Pakistan Frieden im Nachbarland?

Rashid: Ich glaube, inzwischen machen sich in Pakistan auch die Armee und der Geheimdienst Sorgen darüber, was aus Afghanistan wird und welche Rolle die Taliban in ihrem Land spielen. Eine Fortsetzung des Bürgerkrieges in Afghanistan würde zu einer Bedrohung für Pakistan. Die Regierung in Kabul ist schwach, aber sie ist immer noch stark genug, eine Machtergreifung der Taliban zu verhindern. Ich glaube auch nicht, dass die Taliban den Krieg fortsetzen wollen. Sie wollen einen Waffenstillstand, und sie wollen an der Macht beteiligt werden. Die Pakistanis trauen weder den Amerikanern noch Präsident Karzai. Es wird schwierig, Pakistan in eine wie auch immer geartete Lösung einzubeziehen. Der komplette Stillstand der Beziehungen zwischen Washington und Islamabad nach der Bin Laden-Aktion hat uns wertvolle Zeit gekostet. Jetzt wird die Zeit knapp. 2014 zieht sich die internationale Gemeinschaft aus Afghanistan zurück. In weniger als 18 Monaten.

Deutschlandradio Kultur: Wird sich Präsident Karzai darauf einlassen, mit den Taliban zu sprechen?

Rashid: Karzai will diese Gespräche. Er kann 2014 nicht ein drittes Mal kandidieren. Er möchte eine Erbschaft hinterlassen – er möchte als Friedensstifter in die Geschichte eingehen. Er weiß, dass dieser Frieden ohne die Taliban nicht möglich ist.
Vergessen Sie nicht: Karzai ist Pashtune. Die Taliban sind auch Pashtunen. Das macht solche Gespräche etwas leichter. Schwieriger wird es da schon, die anderen Ethnien in Afghanistan in die Verhandlungen einzubeziehen. Karzai muss die Usbeken, die Tadschiken, und die Hazaras davon überzeugen, dass der Frieden in ihrem Interesse ist. Derzeit sind alle skeptisch. Sie fürchten, von Karzai über den Tisch gezogen zu werden. Die Gespräche werden nur Erfolg haben, wenn es Karzai gelingt, sie als einzige Lösung für alle Afghanen zu präsentieren.

Deutschlandradio Kultur: 2014 wird die Internationale Gemeinschaft abziehen. Die Afghanen sind dann selbst für Ihre Sicherheit verantwortlich. Es wird dann auch eine neue Regierung geben. Glauben Sie, dass zu diesem Zeitpunkt der Krieg beendet sein wird?

Rashid: Der Krieg kann erst dann enden, wenn Amerikaner und Taliban und Karzai miteinander reden. Ohne diese gemeinsame Basis wird es keinen Waffenstillstand geben. Und erst nach einem Waffenstillstand kann man über die zukünftige Verteilung der Macht sprechen. Das ist dann natürlich eine rein afghanische Sache. Wenn es 2014 diesen Waffenstillstand nicht gibt, sehe ich schwarz. Die afghanischen Sicherheitskräfte können nicht gleichzeitig Krieg gegen die Taliban führen und für innere Ordnung sorgen.

Deutschlandradio Kultur: Ist die Nato in Afghanistan gescheitert?

Rashid: Nicht komplett. Dennoch waren die meisten Aktionen und Pläne der Amerikaner und der Nato kurzsichtig oder falsch.
Ich sage Ihnen, warum: Erstens hat man es nicht geschafft, eine dauerhaft intakte Wirtschaft aufzubauen. Es flossen Hilfsgelder in Höhe von 60 Milliarden Dollar – wo ist das Ergebnis?
Zweitens schenkte die internationale Gemeinschaft der politischen Entwicklung des Landes zu wenig Aufmerksamkeit. Man starrte auf das Militär und vernachlässigte die Zivilgesellschaft.
Drittens hat man es nicht geschafft, Pakistan in die Entwicklung einzubinden. Gleiches gilt, viertens, für die anderen Nachbarn Afghanistans. Wenn es hier nicht bald eine Lösung gibt, werden diese Nachbarn nach dem Abzug der Amerikaner die verschiedenen Fraktionen wieder bewaffnen, um ihren Einfluss am Hindukusch zu behalten und zu verstärken.

Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie mit Blick auf die Region nach vorne schauen – sind Sie Optimist oder Pessimist?

Rashid: Derzeit bin ich wenig optimistisch. Wenn alle in den kommenden 18 Monaten richtig handeln, dann haben wir eine Chance.
Ich sehe eher das Gegenteil: eine Art Flucht. Der Westen zieht sich zurück. Was anschließend passiert, scheint dabei nicht allzu bedeutend zu sein. Und Pakistan ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Die internationale Gemeinschaft wendet sich auch hier ab. Statt zu helfen das Land auf die richtige Spur zu bringen, schaut man in die andere Richtung. Die nächsten Krisen sind ja schon da. Irans Atomprogramm, die mögliche Reaktion Israels, der Bürgerkrieg in Syrien mit seinen Folgen für Al Kaida und die Jihadisten. Die Region wird sicher nicht stabiler werden.
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