"In Nigeria gibt es zahlreiche Gewaltpotenziale"
Nicht nur religiöse Konflikte seien der Grund für die anhaltende Gewalt in Nigeria, sagt der Politologe Matthias Basedau, sondern auch ethnische und soziale Spannungen. Zusätzlich hätten Einflüsse aus Somalia, Pakistan, Saudi-Arabien und Iran zu einer Radikalisierung des Islam in Nigeria geführt.
Anne Françoise Weber: In den vergangenen Wochen gab es zahlreiche Tote in Nigeria. Schon an Weihnachten starben über 40 Menschen bei Sprengstoffanschlägen auf Kirchen, unter anderem in einem Vorort der Hauptstadt Abuja. Zu diesen Anschlägen bekannt hat sich die islamistische Sekte Boko Haram. Zu Jahresanfang hat sie alle Christen aufgerufen, den vorwiegend muslimisch geprägten Norden des Landes zu verlassen. Christliche Gruppierungen kündigen an, sich demnächst mit Gewalt gegen den Terror zu wehren, weil der Staat ihnen nicht genug unternimmt.
Konflikte zwischen Christen und Muslimen sind nichts Neues im bevölkerungsreichsten Land Afrikas. Entwickelt sich das zu einem neuen Religionskrieg, oder ist die Religion nur ein Deckmantel, unter dem sich ganz andere Konfliktfaktoren verbergen? Ich habe vor der Sendung mit Matthias Basedau gesprochen. Der Politikwissenschaftler am Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien in Hamburg forscht seit Langem zum Thema Religion und Bürgerkrieg im subsaharischen Afrika. Ich habe Matthias Basedau zunächst gefragt, was eigentlich das Ziel der Boko Haram ist – einer Gruppierung, die erst vor knapp zehn Jahren gegründet wurde und nur rund 450 Mitglieder haben soll.
Matthias Basedau: Soweit es bekannt ist, handelt es sich um eine Sekte, die insbesondere einer salafistischen Auslegung des Islam Geltung verschaffen will, also insbesondere der Scharia-Gesetzgebung landesweit, also im ganzen Nigeria zur Geltung verhelfen will und dazu eben auch bereit ist, offensichtlich Gewalt anzuwenden.
Weber: Ist es also wirklich die Durchsetzung einer strengen Auslegung des Islam, oder ist es auch eine Rebellion gegen einen Staat, der diese Leute ziemlich im Stich gelassen hat?
Basedau: Ja, das kommt drauf an, ob man auf die offenen Verlautbarungen achtgibt oder man versucht, ein bisschen dahinter zu schauen. Also viele vermuten natürlich, dass der relative Erfolg dieser Gruppierung auch damit zu tun hat, dass in Nigeria eben viele Entwicklungsleistungen, viele Leistungen für die Bürger und Bürgerinnen nicht erbracht werden und dass deshalb auch solche extremistischen Strömungen an Attraktivität gewinnen.
Weber: Der Süden ist erdölreicher, im Süden sind vor allem Christen angesiedelt, spielt das auch eine Rolle im Konflikt zwischen den Religionsgruppen?
Basedau: Ja, also in Bezug auf Boko Haram gibt es keinen direkten Zusammenhang, allerdings, weil Nigeria so stark von den Öleinnahmen abhängt, ist es immer eine Hintergrundvariable, die eine Rolle spielt. Es gab lange Zeit Machtkämpfe in Nigeria zwischen Norden und Süden, wo der Norden lange dominiert hat, und der Norden wollte den Süden insbesondere auch im Lande halten, weil er eben für den Ölreichtum verantwortlich ist und dem Norden diesen Reichtum auch gibt. Aber ich sehe jetzt keinen direkten Zusammenhang in der jüngsten Geschichte mit Boko Haram.
Weber: Weil Boko Haram auch nicht nur im Norden tätig ist, sondern im ganzen Land mittlerweile?
Basedau: Na ja, das weiß ich nicht, ob man das so sagen kann. Bisher sind sie, glaube ich, südlich von Abuja nicht in besonderer Weise aufgetreten, was sie aber natürlich können, wenn es um irgendwelche Anschläge geht, die man ja ohnehin nicht so ohne Weiteres verhindern kann.
Weber: Es ist ja – das klingt da schon raus – immer schwierig zu sagen, wie sehr ist die Religion selbst eigentlich ein Konfliktfaktor. Also vor einigen Tagen gab es eine Fehde um Land, bei der über 50 Menschen umkamen, jetzt diese Woche gibt es Proteste gegen die massive Benzinpreiserhöhung, die auch schon wieder gewaltsam niedergeschlagen werden. Ist es einfach so, dass in diesem Land ein großes Gewaltpotenzial ist, dass dann auf ganz verschiedene Weisen und in ganz verschiedenen Konflikten eigentlich mobilisiert wird?
Basedau: Ja, also es ist vollkommen richtig, in Nigeria gibt es zahlreiche Gewaltpotenziale, und die haben zum großen Teil gar nichts oder wenig mit Religion zu tun. Es geht um soziale und ökonomische Geschichten, auch teilweise um Konflikte zwischen ethnischen Gruppen, die nicht religiös aufgeladen sind. Sie haben diesen Vorfall genannt, vor wenigen Tagen, also das war ein ethnischer Konflikt um Land, wo die Religionszugehörigkeit überhaupt keine Rolle gespielt hat. In einigen Konflikten ist es aber so, dass die Religion sich nun mit anderen Konfliktlagen vermischt. Meiner Ansicht nach muss man es so sehen, dass die Religion eben zusammen mit den anderen Faktoren eine Rolle spielt, also sie ist nicht nur ein Deckmantel, sondern sie spielt auch eine Rolle, mal mehr, mal weniger. Und insbesondere konfliktreich ist es natürlich, wenn sich verschiedene religiöse Zugehörigkeiten, Aufladung und extremistischen Ideen mit sozioökonomischen und anderen politischen Konfliktlagen vermengen. Also ich glaube, das ist eine sehr explosive Mischung. Und in Nigeria gibt das da eine Reihe von Ansatzpunkten für solche explosive Konfliktpotenziale.
Weber: Wenn nun Boko Haram versucht, die Christen aus dem Norden zu vertreiben und die Muslime im Süden aufruft, doch auch in den Norden zu kommen, dann heißt das ja eben auch, dass das Land gespalten ist, dass es weniger alltägliches Zusammenleben zwischen Muslimen und Christen gibt und dass dann eben genau diese anderen Faktoren möglicherweise sich noch mehr mit der Religionszugehörigkeit decken, oder?
Basedau: Also ich würde darauf antworten mit einem Ja und Nein. Einerseits ist es natürlich richtig, dass durch eine räumliche Trennung auch die gegenseitige Andersartigkeit oder grundsätzlich die Polarisierung verstärkt. Andererseits waren lokale Konflikte, wo eingewanderte Christen oder eingewanderte Muslime in Konflikt gerieten mit Ortsansässigen, waren in der Vergangenheit oft auch der Grund für große Konflikte. Also das ist ein bisschen auch eine Glaubensfrage, ob mehr Zusammenleben grundsätzlich mehr Frieden schafft oder ob in manchen Fällen nicht auch eine räumliche Trennung kurz- oder mittelfristig auch Erleichterung verschafft. Ich glaube nicht, dass dieser Aufruf von absolut nachhaltigem Erfolg geprägt sein wird, also die meisten, insbesondere jene, die sich nicht in den direkten Konfliktzonen befinden, die werden diesem Aufruf nicht nachkommen, weil die sich natürlich auch in die jeweiligen Siedlungsgebieten eingerichtet haben.
Weber: Nigeria ist ein großes und sehr wichtiges Land im Süden der Sahara – wird denn der Verlauf eines solchen Konflikts auch Signalwirkung für andere Länder haben, die ja auch zum Teil muslimisch und christlich bevölkert sind?
Basedau: Ich denke, das kommt ein bisschen auf die Länder an. Also es gibt eine Reihe von Nachbarländern von Nigeria, wo auch zum Beispiel ethnische Gruppen leben, die auch in Nigeria leben, da ist natürlich die Gefahr eines Überschwappens oder eine Signalwirkung oder noch eine direktere Wirkung wahrscheinlich. Also ich denke da an Niger, teilweise an Kamerun und Benin auch noch. In den anderen Ländern kommt es ein bisschen auf die lokalen Verhältnisse an. Ich würde nicht sagen, was in Nigeria passiert, wird überall anderswo nachgeahmt – es gibt nämlich ähnliche Konfliktlagen, jedenfalls was Spaltung zwischen Christen und Muslimen betrifft, auch in einer Reihe von anderen westafrikanischen oder ostafrikanischen Ländern –, aber ich glaube nicht, dass alles eine direkte Auswirkung haben wird. Wir haben zum Beispiel den Fall der Côte d'Ivoire, wo es ja auch gewaltsame Auseinandersetzungen gibt, die waren aber keinesfalls, obwohl es auch eine Spaltung zwischen Christen und Muslimen gibt, keinesfalls so religiös aufgeladen.
Weber: Das heißt, da gibt es auch nicht eine derart militante islamistische Sekte wie die Boko Haram?
Basedau: Ja, in vielen dieser Länder gibt es genau das nicht. Das korrespondiert so ein bisschen mit dem traditionellen Charakter des afrikanischen Islam, der stark synkretistisch war, das heißt auch den Islam verbunden hat mit traditionellen Elementen der Religion, und früher zumindest relativ resistent galt gegenüber extremistischen Strömungen. In den letzten Jahren mag das vielleicht etwas abgenommen haben, aber grundsätzlich ist genau das der Punkt. Der organisierte religiöse Extremismus ist in vielen afrikanischen Ländern – anders als in Nigeria – nicht so stark.
Weber: Das wäre natürlich schöner, wenn man jetzt erklären könnte, warum, denn dann könnte man auch bessere Vorhersagen treffen, oder? Warum kommt es in Nigeria zu so einer Sektenbildung?
Basedau: Das ist eine sehr schwierige Frage. Das hat hauptsächlich natürlich auch historische Gründe. Es gab islamische Reiche – im Norden Nigerias haben sie Sokoto, es gibt ja heute noch diesen Emir von Sokoto, also damit hat es vielleicht zu tun. Es gibt aber auch noch einen anderen Grund. Der Grund sind ausländische Einflüsse, die sich natürlich nicht auf Nigeria beschränken, aber vielleicht auf Nigeria konzentrieren, weil es eben ein sehr großes Land ist und dass es deswegen besonders lohnenswert ist, dort zu agieren. Also es gibt Gerüchte, oder mehr noch als nur Gerüchte, dass eben Einflüsse aus Somalia, aus Pakistan, aus Saudi-Arabien und Iran dazu beigetragen haben, dass sich der Islam in Nigeria stärker organisatorisch radikalisiert hat als in anderen Ländern in Afrika. Es könnte aber natürlich sein, dass in anderen Ländern diese Entwicklung noch bevorsteht. Aber ich glaube, dieser externe Einfluss hat eine große Rolle gespielt in diesem Zusammenhang.
Weber: Es gibt in Nigeria ja auch Initiativen, die eben durch interreligiöse Begegnungen Spannungen abbauen wollen, schon 1999 wurde da ein interreligiöser Rat gegründet. Sehen Sie da Erfolgschancen?
Basedau: Ja, natürlich gibt es da Erfolgschancen. Ich meine, es ist aber auch immer die Frage, wir wissen ja nicht, was wäre geschehen, wenn es diesen Rat nicht gegeben hätte. Es könnte ja sein, dass es dann noch schlimmer gekommen wäre. Wir haben auch in unserem Forschungsprojekt versucht nachzuweisen, dass solche interreligiösen Netzwerke oder Dialoge eine Frieden stiftende Wirkung haben, wir konnten das bisher nur begrenzt nachweisen. Das liegt aber natürlich zum einen auch daran, dass es einen – ich mag es mal so nennen – strukturellen Vorteil der Gewalt gibt. Das heißt, für den Frieden müssen alle mitmachen, für die Gewalt reichen einige wenige Extremisten. Und selbst wenn die große Mehrheit den Frieden will, dann genügt es eben, wenn eine kleine Gruppe gewalttätig auftritt. Und die kann dann die Beziehungen zwischen den Gruppen zusätzlich vergiften und zur Eskalation beitragen. Es gibt aber – also wenn ich dieses vergleiche mit anderen Ländern – gibt es aber wahrscheinlich durchaus Erfolge. In der Côte d'Ivoire gab es auch ein interreligiöses Netzwerk, interreligiösen Dialog, und der hat zumindest verhindert, dass die Auseinandersetzungen da einen stärkeren religiösen Unterton erhalten haben und dass sich so der Bürgerkrieg in einen religiösen Bürgerkrieg ausgeweitet hat. In Nigeria, wie gesagt, ist es schwierig zu sagen, inwieweit diese Begegnungen Erfolg gezeitigt haben, denn es gab ja Gewalt …
Weber: Es gab 14.000 Tote seit Gründung des interreligiösen Rates.
Basedau: Ja, ja, aber es wäre jetzt natürlich auch falsch zu sagen, aufgrund der Gründung des religiösen Netzwerkes …
Weber: Natürlich.
Basedau: … Also das ist kausaltheoretisch, wenn ich es mal so ausdrücken darf, schwierig zu sagen. Allerdings muss man auch doch sagen, dass die Wirkung bisher begrenzt ist. Ich meine, oft ist es auch so bei diesen interreligiösen Netzwerken, man predigt zu den bereits Bekehrten, das heißt, man schließt diejenigen Leute ein, die ohnehin friedenswillig sind, und diejenigen, die nicht friedenswillig sind, also die Extremisten, die werden nicht eingeschlossen. Und dazu kommt dann noch die grausame Logik von Revanche, wenn es mal eine Aktion gibt gegen Christen oder gegen Muslime, dann gerade im Middle Belt in Nigeria, in Jos, kam es dann immer wieder zu Vergeltungsakten, und solche Teufelskreise sind schwer zu durchbrechen – gerade allein nur durch solche Dialoge.
Weber: Sie haben schon von Ihrem Forschungsprojekt gesprochen, darin haben Sie ja eben vor allem Côte d'Ivoire, also Elfenbeinküste, Nigeria und Tansania erforscht und eben mit dieser Ausgangshypothese, Religion kann Konflikt befördern, kann ihn auch befrieden. Sie sagen selbst, es ist schwierig zu messen. Gibt es denn ein Ergebnis, was Sie so sagen könnten, da haben wir wirklich gesehen, in diesem Kontext ist Religion eher ein Gewaltfaktor oder ist eher ein Friedensfaktor?
Basedau: Also entscheidend ist, wie sich Religion zu anderen Konfliktlagen verhält. Und wenn es diese ungünstige Mischung gibt, dann können wir erwarten, dass Religion da auch konfliktfördernd wirkt. Wenn es diese Faktoren nicht gibt, wenn die Religion zum Beispiel eine ethnisch gespaltene Gesellschaft versöhnt, dann können wir eher eine umgekehrte Wirkung erwarten.
Weber: Herzlichen Dank, Matthias Basedau, Politikwissenschaftler am Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien in Hamburg!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Konflikte zwischen Christen und Muslimen sind nichts Neues im bevölkerungsreichsten Land Afrikas. Entwickelt sich das zu einem neuen Religionskrieg, oder ist die Religion nur ein Deckmantel, unter dem sich ganz andere Konfliktfaktoren verbergen? Ich habe vor der Sendung mit Matthias Basedau gesprochen. Der Politikwissenschaftler am Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien in Hamburg forscht seit Langem zum Thema Religion und Bürgerkrieg im subsaharischen Afrika. Ich habe Matthias Basedau zunächst gefragt, was eigentlich das Ziel der Boko Haram ist – einer Gruppierung, die erst vor knapp zehn Jahren gegründet wurde und nur rund 450 Mitglieder haben soll.
Matthias Basedau: Soweit es bekannt ist, handelt es sich um eine Sekte, die insbesondere einer salafistischen Auslegung des Islam Geltung verschaffen will, also insbesondere der Scharia-Gesetzgebung landesweit, also im ganzen Nigeria zur Geltung verhelfen will und dazu eben auch bereit ist, offensichtlich Gewalt anzuwenden.
Weber: Ist es also wirklich die Durchsetzung einer strengen Auslegung des Islam, oder ist es auch eine Rebellion gegen einen Staat, der diese Leute ziemlich im Stich gelassen hat?
Basedau: Ja, das kommt drauf an, ob man auf die offenen Verlautbarungen achtgibt oder man versucht, ein bisschen dahinter zu schauen. Also viele vermuten natürlich, dass der relative Erfolg dieser Gruppierung auch damit zu tun hat, dass in Nigeria eben viele Entwicklungsleistungen, viele Leistungen für die Bürger und Bürgerinnen nicht erbracht werden und dass deshalb auch solche extremistischen Strömungen an Attraktivität gewinnen.
Weber: Der Süden ist erdölreicher, im Süden sind vor allem Christen angesiedelt, spielt das auch eine Rolle im Konflikt zwischen den Religionsgruppen?
Basedau: Ja, also in Bezug auf Boko Haram gibt es keinen direkten Zusammenhang, allerdings, weil Nigeria so stark von den Öleinnahmen abhängt, ist es immer eine Hintergrundvariable, die eine Rolle spielt. Es gab lange Zeit Machtkämpfe in Nigeria zwischen Norden und Süden, wo der Norden lange dominiert hat, und der Norden wollte den Süden insbesondere auch im Lande halten, weil er eben für den Ölreichtum verantwortlich ist und dem Norden diesen Reichtum auch gibt. Aber ich sehe jetzt keinen direkten Zusammenhang in der jüngsten Geschichte mit Boko Haram.
Weber: Weil Boko Haram auch nicht nur im Norden tätig ist, sondern im ganzen Land mittlerweile?
Basedau: Na ja, das weiß ich nicht, ob man das so sagen kann. Bisher sind sie, glaube ich, südlich von Abuja nicht in besonderer Weise aufgetreten, was sie aber natürlich können, wenn es um irgendwelche Anschläge geht, die man ja ohnehin nicht so ohne Weiteres verhindern kann.
Weber: Es ist ja – das klingt da schon raus – immer schwierig zu sagen, wie sehr ist die Religion selbst eigentlich ein Konfliktfaktor. Also vor einigen Tagen gab es eine Fehde um Land, bei der über 50 Menschen umkamen, jetzt diese Woche gibt es Proteste gegen die massive Benzinpreiserhöhung, die auch schon wieder gewaltsam niedergeschlagen werden. Ist es einfach so, dass in diesem Land ein großes Gewaltpotenzial ist, dass dann auf ganz verschiedene Weisen und in ganz verschiedenen Konflikten eigentlich mobilisiert wird?
Basedau: Ja, also es ist vollkommen richtig, in Nigeria gibt es zahlreiche Gewaltpotenziale, und die haben zum großen Teil gar nichts oder wenig mit Religion zu tun. Es geht um soziale und ökonomische Geschichten, auch teilweise um Konflikte zwischen ethnischen Gruppen, die nicht religiös aufgeladen sind. Sie haben diesen Vorfall genannt, vor wenigen Tagen, also das war ein ethnischer Konflikt um Land, wo die Religionszugehörigkeit überhaupt keine Rolle gespielt hat. In einigen Konflikten ist es aber so, dass die Religion sich nun mit anderen Konfliktlagen vermischt. Meiner Ansicht nach muss man es so sehen, dass die Religion eben zusammen mit den anderen Faktoren eine Rolle spielt, also sie ist nicht nur ein Deckmantel, sondern sie spielt auch eine Rolle, mal mehr, mal weniger. Und insbesondere konfliktreich ist es natürlich, wenn sich verschiedene religiöse Zugehörigkeiten, Aufladung und extremistischen Ideen mit sozioökonomischen und anderen politischen Konfliktlagen vermengen. Also ich glaube, das ist eine sehr explosive Mischung. Und in Nigeria gibt das da eine Reihe von Ansatzpunkten für solche explosive Konfliktpotenziale.
Weber: Wenn nun Boko Haram versucht, die Christen aus dem Norden zu vertreiben und die Muslime im Süden aufruft, doch auch in den Norden zu kommen, dann heißt das ja eben auch, dass das Land gespalten ist, dass es weniger alltägliches Zusammenleben zwischen Muslimen und Christen gibt und dass dann eben genau diese anderen Faktoren möglicherweise sich noch mehr mit der Religionszugehörigkeit decken, oder?
Basedau: Also ich würde darauf antworten mit einem Ja und Nein. Einerseits ist es natürlich richtig, dass durch eine räumliche Trennung auch die gegenseitige Andersartigkeit oder grundsätzlich die Polarisierung verstärkt. Andererseits waren lokale Konflikte, wo eingewanderte Christen oder eingewanderte Muslime in Konflikt gerieten mit Ortsansässigen, waren in der Vergangenheit oft auch der Grund für große Konflikte. Also das ist ein bisschen auch eine Glaubensfrage, ob mehr Zusammenleben grundsätzlich mehr Frieden schafft oder ob in manchen Fällen nicht auch eine räumliche Trennung kurz- oder mittelfristig auch Erleichterung verschafft. Ich glaube nicht, dass dieser Aufruf von absolut nachhaltigem Erfolg geprägt sein wird, also die meisten, insbesondere jene, die sich nicht in den direkten Konfliktzonen befinden, die werden diesem Aufruf nicht nachkommen, weil die sich natürlich auch in die jeweiligen Siedlungsgebieten eingerichtet haben.
Weber: Nigeria ist ein großes und sehr wichtiges Land im Süden der Sahara – wird denn der Verlauf eines solchen Konflikts auch Signalwirkung für andere Länder haben, die ja auch zum Teil muslimisch und christlich bevölkert sind?
Basedau: Ich denke, das kommt ein bisschen auf die Länder an. Also es gibt eine Reihe von Nachbarländern von Nigeria, wo auch zum Beispiel ethnische Gruppen leben, die auch in Nigeria leben, da ist natürlich die Gefahr eines Überschwappens oder eine Signalwirkung oder noch eine direktere Wirkung wahrscheinlich. Also ich denke da an Niger, teilweise an Kamerun und Benin auch noch. In den anderen Ländern kommt es ein bisschen auf die lokalen Verhältnisse an. Ich würde nicht sagen, was in Nigeria passiert, wird überall anderswo nachgeahmt – es gibt nämlich ähnliche Konfliktlagen, jedenfalls was Spaltung zwischen Christen und Muslimen betrifft, auch in einer Reihe von anderen westafrikanischen oder ostafrikanischen Ländern –, aber ich glaube nicht, dass alles eine direkte Auswirkung haben wird. Wir haben zum Beispiel den Fall der Côte d'Ivoire, wo es ja auch gewaltsame Auseinandersetzungen gibt, die waren aber keinesfalls, obwohl es auch eine Spaltung zwischen Christen und Muslimen gibt, keinesfalls so religiös aufgeladen.
Weber: Das heißt, da gibt es auch nicht eine derart militante islamistische Sekte wie die Boko Haram?
Basedau: Ja, in vielen dieser Länder gibt es genau das nicht. Das korrespondiert so ein bisschen mit dem traditionellen Charakter des afrikanischen Islam, der stark synkretistisch war, das heißt auch den Islam verbunden hat mit traditionellen Elementen der Religion, und früher zumindest relativ resistent galt gegenüber extremistischen Strömungen. In den letzten Jahren mag das vielleicht etwas abgenommen haben, aber grundsätzlich ist genau das der Punkt. Der organisierte religiöse Extremismus ist in vielen afrikanischen Ländern – anders als in Nigeria – nicht so stark.
Weber: Das wäre natürlich schöner, wenn man jetzt erklären könnte, warum, denn dann könnte man auch bessere Vorhersagen treffen, oder? Warum kommt es in Nigeria zu so einer Sektenbildung?
Basedau: Das ist eine sehr schwierige Frage. Das hat hauptsächlich natürlich auch historische Gründe. Es gab islamische Reiche – im Norden Nigerias haben sie Sokoto, es gibt ja heute noch diesen Emir von Sokoto, also damit hat es vielleicht zu tun. Es gibt aber auch noch einen anderen Grund. Der Grund sind ausländische Einflüsse, die sich natürlich nicht auf Nigeria beschränken, aber vielleicht auf Nigeria konzentrieren, weil es eben ein sehr großes Land ist und dass es deswegen besonders lohnenswert ist, dort zu agieren. Also es gibt Gerüchte, oder mehr noch als nur Gerüchte, dass eben Einflüsse aus Somalia, aus Pakistan, aus Saudi-Arabien und Iran dazu beigetragen haben, dass sich der Islam in Nigeria stärker organisatorisch radikalisiert hat als in anderen Ländern in Afrika. Es könnte aber natürlich sein, dass in anderen Ländern diese Entwicklung noch bevorsteht. Aber ich glaube, dieser externe Einfluss hat eine große Rolle gespielt in diesem Zusammenhang.
Weber: Es gibt in Nigeria ja auch Initiativen, die eben durch interreligiöse Begegnungen Spannungen abbauen wollen, schon 1999 wurde da ein interreligiöser Rat gegründet. Sehen Sie da Erfolgschancen?
Basedau: Ja, natürlich gibt es da Erfolgschancen. Ich meine, es ist aber auch immer die Frage, wir wissen ja nicht, was wäre geschehen, wenn es diesen Rat nicht gegeben hätte. Es könnte ja sein, dass es dann noch schlimmer gekommen wäre. Wir haben auch in unserem Forschungsprojekt versucht nachzuweisen, dass solche interreligiösen Netzwerke oder Dialoge eine Frieden stiftende Wirkung haben, wir konnten das bisher nur begrenzt nachweisen. Das liegt aber natürlich zum einen auch daran, dass es einen – ich mag es mal so nennen – strukturellen Vorteil der Gewalt gibt. Das heißt, für den Frieden müssen alle mitmachen, für die Gewalt reichen einige wenige Extremisten. Und selbst wenn die große Mehrheit den Frieden will, dann genügt es eben, wenn eine kleine Gruppe gewalttätig auftritt. Und die kann dann die Beziehungen zwischen den Gruppen zusätzlich vergiften und zur Eskalation beitragen. Es gibt aber – also wenn ich dieses vergleiche mit anderen Ländern – gibt es aber wahrscheinlich durchaus Erfolge. In der Côte d'Ivoire gab es auch ein interreligiöses Netzwerk, interreligiösen Dialog, und der hat zumindest verhindert, dass die Auseinandersetzungen da einen stärkeren religiösen Unterton erhalten haben und dass sich so der Bürgerkrieg in einen religiösen Bürgerkrieg ausgeweitet hat. In Nigeria, wie gesagt, ist es schwierig zu sagen, inwieweit diese Begegnungen Erfolg gezeitigt haben, denn es gab ja Gewalt …
Weber: Es gab 14.000 Tote seit Gründung des interreligiösen Rates.
Basedau: Ja, ja, aber es wäre jetzt natürlich auch falsch zu sagen, aufgrund der Gründung des religiösen Netzwerkes …
Weber: Natürlich.
Basedau: … Also das ist kausaltheoretisch, wenn ich es mal so ausdrücken darf, schwierig zu sagen. Allerdings muss man auch doch sagen, dass die Wirkung bisher begrenzt ist. Ich meine, oft ist es auch so bei diesen interreligiösen Netzwerken, man predigt zu den bereits Bekehrten, das heißt, man schließt diejenigen Leute ein, die ohnehin friedenswillig sind, und diejenigen, die nicht friedenswillig sind, also die Extremisten, die werden nicht eingeschlossen. Und dazu kommt dann noch die grausame Logik von Revanche, wenn es mal eine Aktion gibt gegen Christen oder gegen Muslime, dann gerade im Middle Belt in Nigeria, in Jos, kam es dann immer wieder zu Vergeltungsakten, und solche Teufelskreise sind schwer zu durchbrechen – gerade allein nur durch solche Dialoge.
Weber: Sie haben schon von Ihrem Forschungsprojekt gesprochen, darin haben Sie ja eben vor allem Côte d'Ivoire, also Elfenbeinküste, Nigeria und Tansania erforscht und eben mit dieser Ausgangshypothese, Religion kann Konflikt befördern, kann ihn auch befrieden. Sie sagen selbst, es ist schwierig zu messen. Gibt es denn ein Ergebnis, was Sie so sagen könnten, da haben wir wirklich gesehen, in diesem Kontext ist Religion eher ein Gewaltfaktor oder ist eher ein Friedensfaktor?
Basedau: Also entscheidend ist, wie sich Religion zu anderen Konfliktlagen verhält. Und wenn es diese ungünstige Mischung gibt, dann können wir erwarten, dass Religion da auch konfliktfördernd wirkt. Wenn es diese Faktoren nicht gibt, wenn die Religion zum Beispiel eine ethnisch gespaltene Gesellschaft versöhnt, dann können wir eher eine umgekehrte Wirkung erwarten.
Weber: Herzlichen Dank, Matthias Basedau, Politikwissenschaftler am Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien in Hamburg!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
