"In Holland darf sich der Bürger mehr zutrauen"

Moderation: Katrin Heise · 02.07.2008
Nach Ansicht des niederländischen Journalisten Willem Wansink ist Deutschland beim Thema Sterbehilfe "längst nicht so weit" wie das liberalere Holland. Angesichts einer immer älter werdenden Gesellschaft dürfe die Gesundheitsdebatte jedoch nicht nur über Geld definiert werden, warnte er: "Dann ist es eine ganz einfache Lösung, irgendwie aktive Sterbehilfe zu ermöglichen."
Katrin Heise: Die 79-Jährige war nicht sterbenskrank, sie litt auch nicht unter unerträglichen Schmerzen. Das sind ja oft die Gründe, die viele Menschen verstehen können, wenn es um Sterbehilfe geht, einem Todgeweihten das Leiden ersparen. Die Würzbürgerin führte ein selbstbestimmtes Leben, hatte aber Angst, dies bald so nicht mehr tun zu können. Der Publicity gewohnte Jurist und ehemaliger Hamburger Senator Roger Kusch besorgte die todbringenden Medikamente und filmte die Frau beim Sterben. Die mediale und juristische Aufklärung seitdem ist ihm nicht unrecht. Er will über die Sterbehilfe diskutieren, er will, dass darüber diskutiert wird.

In den Niederlanden sieht die Situation ganz anders aus. Es kann Sterbehilfe erlaubt werden. Seit 2002 gibt es ein entsprechendes Gesetz. Wie dort ein Fall wie der hier so heiß diskutierte gesehen wird, das interessiert mich jetzt. Ich begrüße den niederländischen Journalisten Willem Wansink. Seine Themen sind seit Jahren Gesundheitspolitik und auch Sterbehilfe. Guten Tag, Herr Wansink.

Willem Wansink: Schönen guten Tag, Frau Heise.

Heise: Handelt es sich bei dem geschilderten Fall um Sterbehilfe oder um Hilfe zum Selbstmord?

Wansink: Ich würde sagen, es handelt sich um Hilfe zum Suizid.

Heise: Wie ist Sterbehilfe in den Niederlanden definiert?

Wansink: Es gibt natürlich den Unterschied zwischen aktiver Sterbehilfe und passiver Sterbehilfe. Aktiv, das ist die gezielte Tötung, das ist nicht erlaubt. Und passiv, das ist ja der Verzicht eigentlich auf lebenserhaltende Maßnahmen im Krankheitsfall. Und dann sieht man auch genau den Punkt. In Holland ist es so, dass man nur jemanden helfen kann, der eine tödliche Krankheit hat, aussichtslos krank ist.

Heise: Sprechen wir über diese Kriterien mal genauer. Ich habe verstanden, aktive Sterbehilfe, das heißt das direkte Töten eines Menschen, zum Beispiel durch das Spritzen einer Überdosis von Medikamenten, ist definitiv verboten, auch nicht in Ausnahmefällen erlaubt?

Wansink: Na ja, es ist ja ganz, ganz schwierig. In Holland ist es so, der Patient muss es irgendwie verfasst haben. Wenn er noch geistig in der Lage ist, soll er seinen Willen so geäußert haben, dass er lieber nicht, wie soll man sagen, unerträglich leidet. Dann kommt der Arzt hinzu. Der Arzt muss aber auch einen anderen Arzt befragen, der muss auch mit dem Leichenbeschauer, glaube ich, heißt das auf Deutsch, sich später dann noch mal unterhalten. Das ist keine einfache Sache. Man kann es nicht so locker tun.

Heise: Was für Kriterien müssen genau erfüllt sein? Sie haben gesagt, todbringende Krankheit ist Voraussetzung.

Wansink: Das ist eigentlich die allerwichtigste Voraussetzung. Eine Frau, die keine Lust mehr hat zum Leben, weil die, wie die Würzbürgerin in Hamburg dann sagt, ja, ich möchte nicht ins Altersheim, das würde ich persönlich sehr, sehr respektieren. Aber das wäre in Holland nicht erlaubt.

Heise: Das heißt, es sind objektive Gründe notwendig, die von einem Arzt wirklich körperlich festgestellt werden können, jetzt so subjektive, psychische Leiden zum Beispiel und auch Depression usw. fallen nicht darunter?

Wansink: Die fallen offiziell nicht darunter. Es gibt noch eine Grauzone, natürlich. Und jeder kann sich auch selber entscheiden, was er tut. Zum Beispiel, man kann von einem Dach herunterspringen, zwölf Meter hoch und man ist tot. Und komischerweise findet diese Beendigung des Lebens auch etwas öfter statt als früher, weil das Gesetz ist Thema, ist hervorragend, aber sehr, sehr streng und sehr genau definiert.

Heise: Das heißt, das Gesetz, das 2002 in Kraft getreten ist, das wird gar nicht so häufig in Anspruch genommen, oder wie sind da die Erfahrungen?

Wansink: Es wird weniger häufig in Anspruch genommen, als anfänglich gedacht, weil die Ärzte finden es doch ziemlich komplex. Es dauert, man muss viele Formulare betrachten, man muss dann alles auch überlegen, mit dem Patienten, mit der Verwandtschaft, mit anderen Ärzten, die muss man hinzuziehen. Es ist kein einfaches Ding für einen Arzt. Es geht ihm unter die Haut. Der tut das nicht so nebenbei, als ob man jemanden eine einfache Pille verschreibt. Es ist schon heftig.

Heise: Ist es auch vorgekommen, dass wenn eine solche Kommission oder wenn die Ärzte sich verständigen, dass einem Patienten sein Todeswunsch abgelehnt wird?

Wansink: Darüber weiß ich nicht genau Bescheid, denn darüber liest man so wenig. Natürlich wird es stattfinden, und natürlich ist es auch noch so, dass es andere Arten gibt, worüber ich schon vorher gesprochen habe. Man kann den Tod ja selber auch auf eine andere Weise wählen. Man kann Medikamente ansammeln, zum Beispiel, selber, und das tun. Die offizielle Regelung ist, der Arzt muss dabei sein, dann darf man eine natürliche Spritze setzen. Wenn der Arzt nicht dabei ist und man den umgeht, ja dann kommt man in diese Grauzone, und die ist nicht definiert.

Heise: Die Debatte um Sterbehilfe aus niederländischer Sicht, unser Thema im "Radiofeuilleton" mit dem Journalisten Willem Wansink. Wenn ich Sie richtig verstehe, geht eigentlich das Gesetz in den Niederlanden auch ein bisschen an der Realität vorbei?

Wansink: Man dachte, dass dieses Gesetz sehr realitätsnah sein würde. Das große Problem ist aber, in Holland genau wie in Deutschland, dass die Gesetzgeber nicht genau wissen, was Menschen wollen, was die Bevölkerung will. In Holland hat man schon mehr auf zum Beispiel institutionelle Selbstbestimmung gesteuert. Der Bürger darf sich mehr zutrauen. Aber in Deutschland zum Beispiel ist man längst nicht so weit. Das ist auch der große Unterschied zwischen den beiden Ländern.

Heise: Wie kommt es zu diesem Unterschied?

Wansink: Meines Erachtens hat das historische und philosophische Gründe. Man kann da weit zurückgehen, 15., 16. Jahrhundert, Erasmus von Rotterdam. Das ist ein Name, den jeder kennt, würde ich fast sagen. Ein Holländer, zwar in Basel gestorben, weil die Niederländer den damals auch nicht so mochten. Aber im Unterschied zu Luther zum Beispiel ist in Holland auf dieser erasmissianischen, humanistischen Basis vielmehr der Gedanke der freien Volkes, des freien Willens entwickelt worden. Erasmus war ein Vordenker. Er fand den freien Willen wichtiger als die Gnade Gottes, die Martin Luther verteidigte.

Und das ist schon ein Ansatz. Wir waren ja auch, letzter Punkt für mich, besetzt von den spanischen Katholiken. Und es hat einen langen Freiheitskampf gegeben. Die Holländer wollen lieber nicht, dass sich einer einmischt. Und das weiß eine Regierung, obwohl auch die heutige Regierung da eher wieder zurückhaltend ist und nicht genau weiß, was die Bevölkerung will.

Heise: Wenn Freiheitsfälle sich nicht irgendwie reinreden lassen, ein selbstbestimmtes Leben bis zum Schluss irgendwie den Vorrang hat, ist doch aber auch die Frage und, wenn ich Sie richtig verstanden habe, scheitert es ja daran letztendlich auch, die niederländische Form versucht, diese Selbstbestimmtheit dann aber doch irgendwie in bürokratische Grenzen zu verweisen, was dann ja eigentlich dem Ganzen widerspricht.

Wansink: Genau, da haben Sie also völlig recht. Das ist zum Beispiel die damalige Gesundheitsministerin Els Borst, linksliberal, D66, heißt die Partei, die wollte sogar viel weiter gehen, die wollte eine Sterbepille einführen. Und darüber ist viel diskutiert, die Pille von Trijon, das ist ein Arzt. Und sie sagte, wenn ich mal so alt und schwach und krank bin, dann möchte ich am liebsten mich selbst entscheiden und diese Pille nehmen. Ich befürworte das auch. Das ist die Freiheit, die man einem Menschen gönnen kann.

Der Punkt ist aber, wenn man letztendlich selber in diese Phase eintritt, dann hat man doch oft wieder Angst vor dem Tod. Und da ist man so genau und jeder so vorsichtig, weil in unserer Gesellschaft der Tod, der gehört ja nicht ganz dazu. Und wir wollen, die Ärzte ja auch, jeden solange wie möglich am Leben erhalten. Und das ist die Diskussion, die man führen sollte.

Heise: Ich würde gerne noch einen anderen Punkt anführen. Kann man tatsächlich von Selbstbestimmtheit und von einem selbstbestimmten Lebensende sprechen, wenn der gesellschaftliche Druck eigentlich immer mehr wächst, bloß nicht zur Last fallen zu können oder zu wollen?

Wansink: Ja, da haben Sie ja recht. Und das ist natürlich die Diskussion, die uns allen bevorsteht. Es ist ja so, dass wir Menschen im Westen, in Europa, in Amerika viel älter werden. Wenn wir älter werden, werden wir auch anfälliger für viele Krankheiten. Das ist teuer. Wenn man jetzt die ganze Diskussion über das Gesundheitswesen nur über Geld definiert, dann ist es eine ganz einfache Lösung, irgendwie aktive Sterbehilfe zu ermöglichen. Das ist aber eine ganz gefährliche Debatte. Denn Selbstbestimmung, wer kann denn sein Ende wirklich selbst bestimmen? Das ist ganz, ganz kleiner Teil. Die meisten Menschen sind letztendlich abhängig. Und abhängig von wem? Von Ärzten und von Verwandtschaft. Und wenn die Verwandtschaft denkt, der Opa, die Oma, die Mutter, ich kann es nicht mehr ertragen, dann kommen da doch ganz andere emotionale und sekundäre Argumente in die Debatte rein.

Heise: Wie offen wir denn da in den Niederlanden drüber debattiert?

Wansink: Jetzt wird überhaupt nicht mehr debattiert. Es ist ganz, ganz komisch. Seitdem wir das so organisiert haben, staatlich, rechtlich, bürokratisch, ist es irgendwie abgeschoben. Man sieht aus den Zahlen, dass die Sterbehilfe von Ärzten rückgängig ist. Aber keiner spricht eigentlich mehr drüber, wie wir das machen. Eigentlich ist es so, dass die Lösung, die jetzt in den Krankenhäusern gefunden ist, ist ja palliativer, Palliatives Sedajon nennen wir das. Man gibt Menschen so letztendlich ...

Heise: Schmerzlindernde Therapie.

Wansink: ... schmerzlindernde Mittel, dass sie langsam einschlafen. Das ist eigentlich die Praxis geworden.

Heise: Und eigentlich fehlt inzwischen eine notwendige Debatte über Sterbehilfe. Ich danke Ihnen! Willem Wansink war das, ein Journalist aus den Niederlanden, der sich mit dem Thema Sterbehilfe und Gesundheitssystem seit Jahren beschäftigt. Am Freitag berät der Deutsche Bundesrat über Gesetzentwürfe einiger unionsregierter Länder zur Sterbehilfe. Danach wäre gewerbliche Sterbehilfe strafbar. Wir werden berichten.