In himmlischer Ruh' - ein Kulturkampf ums Hinhören

Von Matthias Thibaut · 24.12.2010
John Cage hat das Stück 4’33 im Jahre 1952 komponiert. 4 Minuten 33 Sekunden Stille in drei Sätzen - der perfekte Song für die Stille und Heilige Nacht. Dank einer Gruppe kämpferischer britischer Musiker hat es das Stück in die am härtesten umkämpfte Hitparade Europas gebracht.
Am Nikolaustag fanden sich ein paar Dutzend britische Rockmusiker, Produzenten und Popstars im Dean Street Studio in London ein, packten Guitarren aus, rückten das Schlagzeug zurecht und schlugen die Partituren der Edition Peters mit 4’33 von John Cage auf. Die Musiker kamen auf Einladung der Künstler Dave und Julie Hilliard, die vor der Aufnahme eine kleine Rede hielt:

Eure Erfahrung heute ist, im Hier und Jetzt zu sein. Als Musiker und Kreative wisst ihr alle, dass Musik mehr ist als Noten und formale Arrangements. Wir machen heute hier etwas Besonderes. Wir halten ein und genießen den Raum zwischen den Dingen, die unabsichtlichen Töne, die unsere Welt ausmachen. Dann lud Julie die Musiker ein, John Cages Kulturbeitrag zu ehren und dem Werk eine ganz persönliche Interpretation zu geben. So begann die Aufnahme, 4’33.

John Cage wollte eigentlich auf die Töne neben und hinter der Musik verweisen. In England wurde er dieses Weihnachten aber zum Motor einer Kulturrevolution. In den vergangenen Wochen konnte man die 4’33-Aufnahme dann bei iTunes oder Amazon herunterladen: 4’33 Nebentöne und Stille gegen den Weihnachtsrummel für 79 Pence, veröffentlicht wurde der Retake, mit dem Klappern eines Blackberrys.

Die Sache hatte als Witz begonnen, mit einer Facebook-Seite "Cage against the Machine". Es ging bei allem um den Hitparadenplatz Nummer 1 in der Weihnachtswoche, der nicht nur kommerziell besonders lukrativ ist, sondern kulturhistorische Bedeutung hat. Viele Briten erinnern sich bis ins Alter an diese Weihnachtshits. Harry Belafontes "Mary’s Boy Child" in 1957 und dann wieder mit Boney M 1978, die Hardrock-Gruppe Slade mit "Merry Christmas Everybody", Pink Floyds "The Wall", Band Aid mit dem Hungerhilfe-Hit "Do they know it’s Christmas" 1984 und dann noch einmal 2004. Auch Figuren aus dem Kinderprogramm hatten ihre Glanzstunden wie Mr. Blobby und Bob the Builder und natürlich, mehrfach, die Beatles, Cliff Richard und, gleich dreimal hintereinander, die Spice Girls.

Aber seit fünf Jahren hat ein Mann diesen Platz für sich allein gepachtet, der vielen in der britischen Kultur- und Musikszene schon lange auf die Nerven geht. Simon Cowell, Erfinder, Impressario, Besitzer und Schiedsrichter der globalen TV-Hitsendung "X-Factor". Hier wird der Sieger termingerecht kurz vor Weihnachten gewählt. Millionen Briten verfolgen das und unweigerlich erobern Cowells Schützlinge mit ihrer synthetischen Maschinenmusik den begehrten Chartplatz Nummer 1. Leona Lewis, Leon Jackson, Alexandra Burke - wer erinnert sich noch an sie.

Im letzten Jahr aber schaffte es eine Facebook- und Internetkampagne, dem X-Faktor-Produkt Joe McElderry den Platz Nummer 1 streitig zu machen. Die Rebellen kauften massenhaft einen ganz unweihnachtlichen Song der alten Altrocker "Rage against the Machine". Deshalb hieß die Kampagne in diesem Jahr: "Cage against the Machine". Die Stille von John Cage gegen den Lärm der Popmaschine Simon Cowell, ein Kulturkampf ums Hinhören. Mitspieler Luke Pritchard von Kooks, hatte eigentlich keine Zweifel, wer gewinnen müsste:

Es wäre wunderbar. Und wenn man eine halbe Million für gute Zwecke einnehme, wäre es eine gute Sache für die Öffentlichkeit. Er verglich X-Faktor mit einem modernen Kolosseum, wo Leute zur Schau gestellt und zerrissen werden.

John Cages 4’33 steht auf der morgigen Weihnachtshitparade nur auf Platz 25. Es wäre zu schön gewesen. Aber Geld wurde unter anderem für die Tinitus Gesellschaft und ihre Hörgeschädigten gespendet, Amazon-Käufer schrieben humorvolle Kritiken, über 94.000 klickten sich auf der Facebook-Seite ein.

Auf Platz 1 kam programmgemäß das neuste X-Faktor Produkt Matt Cardle mit dem Song "When we collide", aber John Cage und 4 Minuten und 33 Sekunden ohne Lärm sind nach bald 60 Jahren so up to date wie je. Und auf der "Cage against the machine" Facebook-Seite wird schon diskutiert, welches Stück im nächsten Jahr gegen den X-Faktor in die Schlacht geschickt wird.