In Gedanken verloren sein

Von Barbara Wiegand · 16.02.2006
Von der Antike bis zur Gegenwart haben sich Künstler immer wieder mit dem "Generalthema" Melancholie befasst. Dürers Melencolia oder Francesco Furinis tränenreiche Maria Magdalena zählen zu den bekanntesten Werken, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen. Die Neue Nationalgalerie hat nun rund 300 Exponate aus internationalen Museen und Sammlungen zu der Ausstellung "Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst" zusammengetragen.
Den Kopf so schwer, wie es den Abgebildeten wohl ums Herz ist, auf die Hand aufgestützt richtet sich der Blick ausdruckslos in unerreichbarer Ferne. Oder er verliert sich, nach unten gerichtet in bodenlose Tiefen. Es ist diese eine gedankenverlorene Geste, mit der Künstler die Melancholie durch die Jahrhunderte hindurch darstellten.

Zum Beispiel Dürers Melencolia als engelsgleiches Wesen umgeben von Symbolen für Wissenschaft, Endlich und – Ewigkeit, Franz von Stucks düster den Betrachter durchschauender Lucifer, Francesco Furinis tränenreiche Maria Magdalena mit barock entblößter Schulter oder die traurige Platzanweiserin in Edward Hoppers Kino – mit dieser typischen Haltung sind sie Sinnbilder der Tristesse, die der These der Ausstellung nach ein Quell künstlerischen Schaffens ist. Kurator Moritz Wullen:

"Die Melancholie basiert auf einer Grundidee. Nämlich die Grundidee, dass die Menschen in der Lage sind, sich mehr mit sich selbst zu beschäftigen, als mit ihrer Umwelt. Aus dieser Beschäftigung mit sich selbst und aus diesem Ausblenden der Umwelt ergibt sich zum einen die Möglichkeit einer ganz großen geistigen Freiheit, zum anderen natürlich aber auch die Gefahr des Wahnsinns. Wer keinen Bezug zur Wirklichkeit hat, dreht auch leicht durch. Das ist das Thema der Ausstellung und das ist auch die Idee der Melancholie, die sich von der Antike bis in die Gegenwart zieht."
Gezeigt werden aus der Melancholie heraus entstandene Bilder, vereint aus namhaften internationalen Museen. Manche Werke sind nicht aus der französischen Hauptstadt in die Deutsche gekommen, andere sind dafür erstmals in der opulent ausgestatteten, reichlich aus Berliner Sammlungen ergänzten Ausstellung zu sehen. Eine Schau, die nicht nur Parallelen in der Darstellung der Melancholie aufzeigt, sondern auch Unterschiede. Von den fast meditativen Allegorien auf Leben und Tod in den Vanitas-Stilleben der Renaissance über die im Barock ausladender ins Bild gesetzte unvermeidliche Vergänglichkeit und die Sehnsucht der Romantik in Caspar David Friedrichs Abtei im Eichwald, bis hin zu den bleiernen Tafeln Anselm Kiefers und den in einer großen Black Box im Obergeschoß gezeigten Videos, die die althergebrachten melancholischen Bilder verfremden.

Filme, die ohne jede Leichtigkeit einstimmen auf den schwermütigen Rundgang, der bei allem Trübsinn erstaunlich sinnlich ist. Peter Klaus Schuster, Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin

"Es ist kein Trübsinn. Es ist das Pathos des Genies, das zuweilen trübsinnig werden kann. Sie können ja nicht nur im Frohsinn leben. Es gibt auch kein Melancholieverbot."

Erlaubt ist vor allem auch zeitgenössische Kunst in der Berliner Melancholie Ausstellung, deren chronologische Hängung immer wieder mutwillig durchbrochen wird. Nochmals Kurator Moritz Wullen:

"Ja, jede Chronologie ist langweilig, wenn sie nur aus Chronologie besteht. Es gibt sehr wohl eine Reihenfolge, aber hin und wieder gibt es Störfaktoren. Die Gegenwart ragt überall mit hinein. Es ist ja ganz gut, wenn man als Besucher in einen Barock-Raum tritt und nicht nur etwas über das Barock erfährt, sondern gleichzeitig auch warum eben dieser Barockraum für die Gegenwart so wichtig ist. Das ist vielleicht auch das Besondere an dieser Ausstellung: Dass man auf Schritt und Tritt merkt, dass die Melancholie einen unerhörten Gegenwartsbezug hat. Es ist eine Geschichte, die uns jetzt angeht."
Diese Aktualität wird dem Besucher erschreckend klar, wenn er auf Weg von der Antike zum Barock dem von Ron Mueck übergroß und dabei brillant lebensecht geformten alten Mann begegnet, der ihm griesgrämig nachschaut. In seiner Nacktheit, mit kahlem Schädel vor kahlen Wänden sitzend offenbart sich die Melancholie hier nicht nur als Quell der Inspiration, sondern auch als verzweifelt trauriger Gemütszustand. Ein "In Gedanken verloren sein", bei dem die Gefahr besteht, verloren zu gehen.


Service: Die Ausstellung "Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst" ist vom 17. Februar bis zum 7. Mai 2006 in der Neuen Nationalgalerie zu sehen.