In einer gottverlassenen Kleinstadt

06.03.2009
Immer wieder entführt uns das Halbblut Louise Erdrich in den indianischen Mikrokosmos - so auch in ihrem neuen Roman "Solange du lebst". Vor dem Hintergrund eines ungesühnten Mordes erzählt die US-Autorin von fremden Ehrvorstellungen, rassistischen Diskriminierungen und menschlichen Dramen.
Seit sie mit 28 ihren ersten Roman "Liebeszauber" veröffentlichte, gilt Louise Erdrich als die Stimme der "native americans", der amerikanischen Indianer. Sie selbst ist ein Halbblut, das heißt, ihre Mutter stammt aus dem Volk der Chippewa und hat zudem französische Vorfahren, ihr Vater hat deutsche Wurzeln.

Sie wuchs in der Kleinstadt Wahpeton in North Dakota auf, am Rande eines Indianerreservats, in dem ihr Vater als Lehrer unterrichtete, ihre Mutter als Sozialarbeiterin. Nach Schule und Anthropologie-Studium heiratete sie einen Schriftsteller und fing selbst an zu schreiben, erst Gedichte und Kurzgeschichten, dann Romane.

Man kann Louise Erdrichs zwölf Romane durchaus ohne diesen Hintergrund verstehen, aber er erschließt jene Welt, in der all ihre Geschichten angesiedelt sind. So auch ihr jüngster Roman "Solange du lebst".

Er spielt in Pluto, North Dakota, einer gottverlassenen, aussterbenden Kleinstadt am Rande des Chippewa-Reservats und beginnt mit einem Mord, der fortan alles überschattet. Er ist das dunkle Geheimnis, über das keiner richtig reden will, denn er zog ein nicht weniger schlimmes Unrecht nach sich. Als eine weiße Farmerfamilie bis auf ein Baby erschossen aufgefunden wird, fällt der Verdacht auf einige Indianer.

Ein weißer Mob lyncht sie bis auf einen Jungen - zu Unrecht wie sich bald herausstellt. Das eine wie das andere Verbrechen werden nie gesühnt. Obwohl sie inzwischen lange zurückliegen, überschatten diese Morde das Leben mehrerer Kleinstadtfamilien bis heute.

Louise Erdrich nähert sich wie schon in ihren früheren Romanen dieser Geschichte durch mehrere Erzählerstimmen. Sie verschmelzen zu einem Chor, der letztlich das Geheimnis lüftet. Aber es ist kein Krimi, der zielgerichtet auf eine Lösung hinstrebt. Die Schriftstellerin folgt vielmehr den bisweilen bizarren Lebenswegen ihrer Erzähler, die sich berühren, überschneiden, verwirren, ineinander haken.

Ein ganzes Jahrhundert des Zusammenlebens von Weißen und Indianern breitet sich vor uns aus. Von der Eroberung der großen Ebenen North Dakotas im 19. Jahrhundert bis zum Niedergang der Region heute reicht die Spanne. Ein indianischer Pfarrer spielt dabei ebenso eine Rolle wie ein betrügerischer Kleinstadtbankier, ein ehrbarer Richter und eine ehebrecherische Ärztin, ein Teufelsgeiger und ein gewalttätiger Sektengründer.

Sie alle sind durch komplizierte und ziemlich verwirrende Liebes- und Verwandtschaftsverhältnisse miteinander verbunden. Die erschließen sich einem denn auch erst allmählich durch den Wechsel der Erzähler und damit der Perspektiven.

Louise Erdrich entführt den Leser in ihrem Roman aufs Neue in die unbekannte Welt indianischen Lebens, in der eigene Regeln gelten, ungewöhnliche Ehrbegriffe. Religiöse Elemente mischen sich mit magischen Riten. Dabei kommen die Kirchen nicht besonders gut bei weg. Die Schriftstellerin findet für sie nicht viel mehr als leisen Spott. Hier erweist sie sich als humorvolle Erzählerin.

Selbst die Rechtsprechung kennt ungewöhnliche Auswege. So wie Philip Roth die jüdische männliche Welt, Tony Morrison die schwarze weibliche immer wieder in all ihren Facetten erkunden, so öffnet uns Louise Erdrich den indianischen Mikrokosmos in seiner Vielfalt, seinen Abgründen und Höhenflügen, steten Kämpfen mit rassistischen Diskriminierungen, menschlichen Dramen. Die allerdings erscheinen uns trotz all ihrer Fremdheit doch sehr vertraut.

Rezensiert von Johannes Kaiser

Louise Erdrich: Solange du lebst
Aus dem Amerikanischen von Chris Hirte
Insel Verlag Frankfurt 2009
397 Seiten, 22,80 Euro