In einem unbekannten Land
1950 brach Sew'jan Weinshtein zu einer ersten Expedition nach Tuwa auf - einem kleinen, im Westen weitgehend unbekannten Land an der Grenze zur Mongolei. Heute ist Weinshtein Professor am Institut für Anthropologie an der Moskauer Akademie der Wissenschaften und einer der führenden Ethnologen Russlands. Seine Berichte über die einzigartige Fauna und die kulturellen Besonderheiten des Landes sind nun auf Deutsch erschienen.
Tuwa am Rande der Mongolei - keine Region auf der Erde liegt so weit von den Ozeanen entfernt. In Asiens Mitte sind die Sommer glühend heiß und die Winter eiskalt. Die geographische Lage hat eine einzigartige Fauna hervorgebracht: Rentier, Kamel, Schneehuhn und Trappe leben hier einträchtig nebeneinander. Und die Menschen respektierten sie - als nomadisierende Viehhüter lebten die Tuwiner Jahrhunderte lang in enger Gemeinschaft mit der Natur - und in Abhängigkeit von ihr. Fast fünfzig Jahre lang hat der Ethnologe Sew'jan Weinshtein die Hirtensippen Tuwas erkundet, hat den Menschen zugehört, nach archäologischen Spuren gegraben und Tagebuch geführt - in einer Sprache von erlesener Schönheit. Weinshtein beschreibt die tuwinische Kultur so dicht, dass man meint, mit in der engen Jurte zu sitzen. Vor allem der tuwinische Kehlkopfgesang fasziniert den Forscher.
Dabei singt der Sänger oder Sängerin eine Melodie und begleitet sich gleichzeitig mit rhythmischen Tönen in unterschiedlicher Höhe.
"In der Dämmerung wirkte sein Gesicht konzentriert, der Mund war leicht geöffnet. Der Tiefe seiner Brust entströmten seltsame Laute, und das Geheimnisvolle an ihnen schien durch die zauberhafte Landschaft um uns noch verstärkt zu werden. Man hatte das Gefühl, die Töne verschmölzen mit den immer matter werdenden violetten und dunkelorangenen Farben des Gebirges, mit der sich zum Schlaf anschickenden endlosen Steppe. "
Sew'jan Weinshtein steht in der Tradition der großen russischen Forschungsreisenden. Er schreibt wie ein Dichter und beobachtet wie ein Forscher, alles will er ergründen, vor nichts schreckt er zurück. Schon bei seiner ersten Expedition kämpft sich der Forscher auf Ponys quer durch die Wildnis, ernährt sich von Rentiermilch und gebratenem Eichhörnchenfleisch und lauscht den Tuwinern einfühlsam Mythen und Märchen, Lieder und Gebete ab. Weinshteins Texte wirken auch im Deutschen kraftvoll und sinnlich.
"Zum ersten Male werde ich einem Märchenerzähler lauschen können. Duktug hat ein ausdrucksvolles faltiges Gesicht, einen spärlichen grauen Kinnbart und müde, ein wenig tränende Augen. Er sitzt mit gekreuzten Beinen auf dem Ehrenplatz und raucht schweigend seine lange Pfeife. "Schyjanam”, sagt er schließlich leise, und einer der Gäste wiederholt ein wenig lauter dieses Wort: "Es war einmal”."
Neben solch poetischen Passagen erzählt Weinshtein auch von der wechselvollen Geschichte des Landes. Tuwa gehörte zum Mongolenreich und zum chinesischen Kaiserreich, geriet unter sowjetischen Einfluss und gehört heute der Russischen Föderation an. Die Tuwiner sind längst Minderheit unter den 300.000 im eigenen Land, wo vor allem Russen, Kasachen und Mongolen leben. Zwangsumsiedlungen zur Sesshaftigkeit in den 60er Jahren drohten zwar ihre uralte Kultur und Lebensweise auszurotten, doch die Tuwiner haben trotz allem ihr Nomadentum, ihren Schamanen-Glauben und ihre alttürkische Sprache immer bewahren können . Heute kehren mehr und mehr Familien in die Jurten zurück, es gibt es eine kleine Grundschule, wo die Kinder ihre Sprache die alten Lieder lernen können.
Das alles mag in unseren Ohren exotisch oder romantisch klingen - doch die Rückkehr zur alten Lebensweise ist schwer. Einige harte Winter haben die Ernährungsgrundlagen für Mensch und Tier zerstört, die Armut der Tuwiner schnellte adäquat und extrem hoch , zumal jede staatliche Unterstützung weggefallen ist.
Interessanterweise erscheint die deutsche Übersetzung von Weinshteins Buch noch vor einer russischen Ausgabe - offenbar setzt man auf das westliche Interesse an Schamanen-Kulten. Als besonderes Extra hat der deutsche Verlag dem Buch eine DVD beigelegt, neben Fotos und Musik finden sich hier historische Aufnahmen der Expeditionen. Man mag Weinshtein vorwerfen, sich dem Gegenstand seiner Forschung zu gefühlvoll zu nähern. Doch ist kühle Sachlichkeit wirklich der beste Weg, ein so komplexes - und so menschliches - Phänomen wie eine andere Kultur zu erfassen? Weinshtein taucht ein. Und es ist ein Erlebnis, ihn auf seiner Reise lesend zu begleiten.
Sew'jan Weinshtein: Geheimnisvolles Tuwa - Expeditionen in das Herz Asiens
Alouette Verlag
39,90 Euro
Dabei singt der Sänger oder Sängerin eine Melodie und begleitet sich gleichzeitig mit rhythmischen Tönen in unterschiedlicher Höhe.
"In der Dämmerung wirkte sein Gesicht konzentriert, der Mund war leicht geöffnet. Der Tiefe seiner Brust entströmten seltsame Laute, und das Geheimnisvolle an ihnen schien durch die zauberhafte Landschaft um uns noch verstärkt zu werden. Man hatte das Gefühl, die Töne verschmölzen mit den immer matter werdenden violetten und dunkelorangenen Farben des Gebirges, mit der sich zum Schlaf anschickenden endlosen Steppe. "
Sew'jan Weinshtein steht in der Tradition der großen russischen Forschungsreisenden. Er schreibt wie ein Dichter und beobachtet wie ein Forscher, alles will er ergründen, vor nichts schreckt er zurück. Schon bei seiner ersten Expedition kämpft sich der Forscher auf Ponys quer durch die Wildnis, ernährt sich von Rentiermilch und gebratenem Eichhörnchenfleisch und lauscht den Tuwinern einfühlsam Mythen und Märchen, Lieder und Gebete ab. Weinshteins Texte wirken auch im Deutschen kraftvoll und sinnlich.
"Zum ersten Male werde ich einem Märchenerzähler lauschen können. Duktug hat ein ausdrucksvolles faltiges Gesicht, einen spärlichen grauen Kinnbart und müde, ein wenig tränende Augen. Er sitzt mit gekreuzten Beinen auf dem Ehrenplatz und raucht schweigend seine lange Pfeife. "Schyjanam”, sagt er schließlich leise, und einer der Gäste wiederholt ein wenig lauter dieses Wort: "Es war einmal”."
Neben solch poetischen Passagen erzählt Weinshtein auch von der wechselvollen Geschichte des Landes. Tuwa gehörte zum Mongolenreich und zum chinesischen Kaiserreich, geriet unter sowjetischen Einfluss und gehört heute der Russischen Föderation an. Die Tuwiner sind längst Minderheit unter den 300.000 im eigenen Land, wo vor allem Russen, Kasachen und Mongolen leben. Zwangsumsiedlungen zur Sesshaftigkeit in den 60er Jahren drohten zwar ihre uralte Kultur und Lebensweise auszurotten, doch die Tuwiner haben trotz allem ihr Nomadentum, ihren Schamanen-Glauben und ihre alttürkische Sprache immer bewahren können . Heute kehren mehr und mehr Familien in die Jurten zurück, es gibt es eine kleine Grundschule, wo die Kinder ihre Sprache die alten Lieder lernen können.
Das alles mag in unseren Ohren exotisch oder romantisch klingen - doch die Rückkehr zur alten Lebensweise ist schwer. Einige harte Winter haben die Ernährungsgrundlagen für Mensch und Tier zerstört, die Armut der Tuwiner schnellte adäquat und extrem hoch , zumal jede staatliche Unterstützung weggefallen ist.
Interessanterweise erscheint die deutsche Übersetzung von Weinshteins Buch noch vor einer russischen Ausgabe - offenbar setzt man auf das westliche Interesse an Schamanen-Kulten. Als besonderes Extra hat der deutsche Verlag dem Buch eine DVD beigelegt, neben Fotos und Musik finden sich hier historische Aufnahmen der Expeditionen. Man mag Weinshtein vorwerfen, sich dem Gegenstand seiner Forschung zu gefühlvoll zu nähern. Doch ist kühle Sachlichkeit wirklich der beste Weg, ein so komplexes - und so menschliches - Phänomen wie eine andere Kultur zu erfassen? Weinshtein taucht ein. Und es ist ein Erlebnis, ihn auf seiner Reise lesend zu begleiten.
Sew'jan Weinshtein: Geheimnisvolles Tuwa - Expeditionen in das Herz Asiens
Alouette Verlag
39,90 Euro