"In dieser Kreditgeschichte wirkt alles wie eine Fiktion"

Bernd Gäbler im Gespräch mit Christopher Ricke · 10.01.2012
Bundespräsident Christian Wulff hat im Zuge der Aufklärung der Affäre um seine Person Informationen ins Internet gestellt. Diese seien nichts anderes als eine anwaltliche Verteidigungsschrift auf sechs Seiten, bemängelt Bernd Gäbler, Professor für Medienwissenschaften in Bielefeld.
Christopher Ricke: Der Fall Wulff, jeden Tag gibt es etwas. Die Meldung heute, sie stammt aus der Berliner Zeitung "Tagesspiegel". "Wulff verweigert die Herausgabe der Antworten zur Kreditaffäre." Also die 400 Antworten und die 400 Fragen, die uns ja in dem großen Interview in ARD und ZDF noch versprochen worden sind, sie werden nun doch nicht veröffentlicht.
Was ist Wulff? Ist er Täter, ist er Opfer? Ist der moralische Maßstab, der angelegt wird, vielleicht einfach zu lang? Muss man sich vielleicht mit Wulff solidarisieren, weil doch jeder schon mal herumgedruckst hat, vielleicht auch ungern etwas zugegeben hat, oder vielleicht sogar mal einen Vorteil genutzt hat? Oder ist der Bundespräsident eben nicht dieser "Jeder", der aus der Mitte der Gesellschaft kommt und der auch nicht anderen moralischen Maßstäben genügen muss als ein normaler Bürger in Deutschland? – Hören sie Aussagen unserer Hörer!

"Es wäre Zeit, dass er zurücktritt. Das wäre die schönste Sache."
"Lasst doch diesen Mann ganz einfach in Ruhe. Er hat nichts verbrochen, er hat nur von einem Unternehmerehepaar Geld genommen, und ich täte das genauso machen."
"Natürlich muss er zurücktreten. Interessant würde dann nur noch sein, wem er die Schuld dafür zuschiebt."
"Ich denke nun nicht, dass Wulff zurücktreten sollte, weil das vermeintliche Vergehen sicher kein wirkliches ist."
"Diese ganze Medienmeute, diese Geiferer, diese widerwärtigen Hetzkampagnen, also das ist das Allerletzte!"
"Was hat der Mann verbrochen? Gar nichts. Trotzdem wird er beschimpft, beleidigt, runtergemacht, als wäre er der größte Verbrecher, den es gibt. Der hat überhaupt nichts gemacht!"
"Wir sollten keinen Heiligen als Bundespräsidenten haben. So groß ist sein Vergehen nicht. Jeder Kritiker sollte in sich gehen nach dem Motto, wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf ihn."
"Ich würde mir wünschen, dass er die Gelegenheit nimmt, zurückzutreten."
"Selbstverständlich bleibt unser Bundespräsident im Amt!"
"Zurücktreten!"
"Ich weiß es nicht, ob er zurücktreten muss oder nicht, aber widerlich finde ich diese Hetzjagd und Treibjagd, die man da veranstaltet."
"Wer sich mit der "Bild"-Zeitung anlegt, ist ein toter Mann."

Ricke: Medienmeute, Geiferer, widerwärtige Hetzkampagne – öffentliche Meinung und veröffentlichte Meinung ist durchaus unterschiedlich. Im Mediengespräch begrüße ich jetzt Bernd Gäbler, er ist Professor für Medienwissenschaften in Bielefeld. Guten Morgen, Herr Gäbler.

Bernd Gäbler: Guten Morgen, Herr Ricke!

Ricke: Haben wir denn eine widerwärtige Hetzkampagne?

Gäbler: Das sehe ich nicht so. Aber das Phänomen, dass es eine Differenz gibt zwischen öffentlicher Meinung und veröffentlichter Meinung, ist so neu nicht. Das haben wir in vielen Streitfragen in der letzten Zeit gehabt: Bei Thilo Sarrazin, bei Guttenberg, bei Stuttgart 21 war es ähnlich. Ich habe auch den Eindruck, dass es eher ein gespaltenes Votum ist und dass viele Menschen jetzt nicht rasende Sympathie und Begeisterung für Wulff empfinden, sondern eher ein unbehagliches Gefühl, dass hier so viel Medienmacht eine Rolle spielt. Das ist teilweise verständlich.

Ricke: Diese Solidarisierungseffekte, wie setzen die ein?

Gäbler: Na ja, wenn Sie meine Meinung zunächst mal hören wollen: Ich sehe es nicht so, dass es eine große Pressekampagne ist. Aber die Menschen – und Herr Ricke, wir müssen das konstatieren – haben eine sehr schlechte Meinung von Journalisten und Medien. Ein Trost der Journalisten ist fast immer, dass die Meinung über die Politiker noch schlechter ist. Sie glauben nicht, dass die Handelnden da nur edle Motive haben, sondern unterstellen Eigennutz, also Auflage, Quote, Skandaleffekte, Aufmerksamkeit und so weiter. Das ist ja zunächst einmal auch nicht eine so völlig falsche Vermutung, vielleicht hier und da sogar eine kritische Unterstellung gegenüber den Medien. Und jetzt haben wir eine ungewöhnliche Allianz verschiedener Medien, konservativer Blätter, des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" und des größten Boulevard-Blatts, der "Bild"-Zeitung. Da werden viele Leute skeptisch.

Ricke: Es gibt ja noch andere Formen der Meinungsbildung, moderne Formen im Internet. Da gibt es online Online-Votings – man muss immer ausdrücklich dazu sagen, die sind natürlich nicht so wie eine von Soziologen durchgeführte Meinungsumfrage -, aber solche Votings bedeuten auch etwas. Und da kommen wir auf Werte: 85, 90 Prozent der Menschen, die sich daran beteiligen, sind einer Meinung.

Gäbler: Ja, das ist so. Aber das ist eben der Vorteil von Medien, oder sagen wir es genauer: von redaktionell geführten Medien. Eine Zeitung, die nach dem Prinzip Redaktion funktioniert, also nach einer Gewichtung von Tatsachen, Meldungen, Behauptungen, Meinungen, von Nachrichten und Kommentaren, ist eben ein bewusster Akteur und etwas anderes als die Zusammenfassung von Blogs. Oder ein redaktionell geführter Hörfunksender ist eben etwas anderes als das reine Abbild der durchschnittlichen Hörermeinung. Das ist auch gut so! Das ist auch die Funktion der Medien. Denn wenn sie es durchdenken, käme sonst nie etwas Neues in die Welt. Medien, die immer nur das tun, was die Leute ohnehin denken, würden sich selber überflüssig machen, und das ist in diesem Fall nicht der Fall. Sie sind nicht überflüssig, sie müssen nachsetzen, sie müssen Argumente aufführen.
Was einem die Lage so unbehaglich macht ist, dass dieser Bundespräsident eigentlich jeden Beobachter, jeden normalen Deutschen in eine Lage manövriert hat, wo er entscheiden muss, wem glaube ich mehr, dem Staatsoberhaupt oder dem Boulevard-Blatt. Die Integrität des Boulevard-Blatts steht auf einmal im gewissen Sinne auf einer Maßstabstufe mit der Integrität des Staatsoberhauptes. Das macht es einem unbehaglich, da fühlt man sich nicht wohl, das ist eine ganz verquere Frage.

Ricke: Wir diskutieren in diesen Tagen ja auch den Investigativ-Journalismus. Das sind also die Journalisten, die wühlen, die etwas herausfinden, die graben. Sind denn die, die nach solchen medialen Trüffeln wühlen, Schweine?

Gäbler: Nein, sicher nicht. Also es ist eine sehr, sehr wichtige Funktion, man nennt es ja oft auch den Whistleblower, der im eigenen Laden, in einer geschlossenen Gesellschaft oft dann als Verräter gilt, der aber für Transparenz sorgt. Nun behauptet ja der Bundespräsident auch, er sei geradezu ein Musterbeispiel an Transparenz, weil er jetzt alles ins Internet stelle, was da infrage stünde. Wenn man aber sieht, was da steht – Sie haben es in Ihrer Anmoderation angesprochen -, das was da steht ist nichts anderes als eine anwaltliche Verteidigungsschrift auf sechs Seiten. Wir haben – das ist der Unterschied zu wirklicher Transparenz – keinerlei Quelle, kein Dokument, was veröffentlicht ist, und darum bleibt es dabei, wie schwer man im Einzelnen das auch gewichten mag: In dieser Kreditgeschichte wirkt alles wie eine Fiktion. Da sollte der Kreditgeber erst nicht verraten werden, dann durfte es nicht der Herr Geerkens sein, dann war es die Frau Geerkens, dann sind die Konditionen und die Zinssätze unklar, dann gibt es diese ständigen Umschuldungen, wo man nicht weiß, warum wird dieser Kredit in andere Formen gewandelt. Alles das ist immer noch etwas dubios und unklar.

Ricke: Bernd Gäbler ist Professor für Medienwissenschaften in Bielefeld. Vielen Dank, Herr Gäbler.

Gäbler: Ich danke Ihnen.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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