In der Tradition Zolas

13.01.2011
Der Schauspieler und Regisseur Samuel Benchetrit erzählt in seinem Roman von einem Jungen, der in den berüchtigten Banlieues von Paris zu überleben versucht. Sein älterer Bruder ist Junky und seine aus Mali stammende Mutter wird festgenommen.
Für seinen Roman "Rimbaud und die Dinge des Herzens" wurde Samuel Benchetrit mit dem Prix Populiste ausgezeichnet und nun ist der Roman im Aufbau Verlag erschienen, zwei Tatsachen, die dieses Buch, das man sonst vielleicht hätte stillschweigend ignorieren können, zu einem bemerkenswerten Symptom der Entwicklung sowohl des französischen als auch des deutschen Literaturbetriebs machen: Der Prix du roman populiste, 1929 gegründet, wird für Werke verliehen, deren Protagonisten in Tradition Zolas "Menschen aus dem Volk" sind, "unter der Bedingung, dass von ihnen eine authentische Humanität ausgeht".

Erstere Bedingung erfüllt Benchetrit perfekt: Er lässt in einer Art Logorrhö einen Zehnjährigen namens Charly den Tag beschreiben, an dem dessen über alles geliebte Mutter, die aus Mali stammt, festgenommen wird. Der Vater hatte sich einen Monat nach der Geburt des Jungen aus dem Staub gemacht, der ältere Bruder ist Junky, und die Rumpffamilie lebt in einer der berüchtigten banlieues, den zu Gettos verkommenen Satellitenstädten der französischen Hauptstadt. Wie Faïza Guènes Roman "Paradiesische Aussichten" oder Abdellatif Kechiches Film "Nicht ja, nicht nein" bewiesen haben, kann man durchaus Kunst aus der Lebenserfahrung von Kids aus den 'schwierigen' Vorstädten machen.

Ein Zehnjähriger indes, der einen großen Teil seiner Zeit mit ästhetischen Reflexionen über die architektonische Zumutung seiner gewohnten Umgebung verbringt, ist einfach zu unglaubwürdig, zumal wenn er sich zu Sätzen wie diesem aufschwingt: "Ich habe mich in diesem Augenblick gefragt, wie viel ein Blick eigentlich aushalten kann."

Zwar wird die Mutter verhaftet, da sie seit rund zehn Jahren ohne Papiere lebt und schwarzarbeitet, doch bekommt sie von der Familie, für die sie putzt und kocht, regelmäßig Parfum und Blumen geschenkt; zudem verdient sie dort genug, um regelmäßig mit ihrem Sohn ins Kino und Restaurant gehen zu können. Bei so viel heiler Welt wundert es nicht, dass Charly ausgerechnet an diesem einen Tag, an dem er durch die Gegend stromert, anstatt zur Schule zu gehen, im Viertel der Einfamilien-Häuser die bislang nur aus der Ferne angebetete Mélanie Renoir (!) trifft, die ihm prompt ihre Liebe gesteht.

Ist dieser Roman überhaupt der Rede wert? Durchaus, da er zum einen zeigt, dass es in Frankreich mitunter mehr darauf ankommt, WER etwas schreibt, als WAS er oder sie schreibt. Schließlich ist Samuel Benchetrit dort kein Unbekannter, sondern als Schauspieler und Regisseur Mitglied der Pariser Szene. Überdies kam er unschuldig zu trauriger Berühmtheit, als 2003 seine Ehefrau Marie Trintignant von ihrem Geliebten totgeschlagen wurde. So startete sein Verleger gleich mit einer Auflage von 20.000 Exemplaren, und Virgin Megastore machte den Kunden das Angebot "satisfait ou remboursé", zu Deutsch: zufrieden oder Geld zurück, was der Kritiker der "Libération" auch annahm und ausführlich darüber berichtete.

In Deutschland nun erscheint der Roman in dem Verlag, der sich lange Zeit mit Balzac und Zola Verdienste um die Verbreitung der französischen Literatur in Deutschland erworben hat und heute die großartige Fred Vargas verlegt – ein Symptom für die Entwicklung der deutschen Verlagslandschaft und Lesegewohnheiten.

Besprochen von Carolin Fischer

Samuel Benchetrit: Rimbaud und die Dinge des Herzens. Roman.
Übersetzt von Olaf Matthias Roth.
Aufbau Verlag, Berlin 2011. 16,95 Euro