In der Mitte von Nirgendwo
Wenn eine Ehefrau davonläuft, dann können Farmer drei Tage lang durch das Küchenfenster beobachten, wohin sie geht. So beschreiben die Bewohner von Sasketchewan die Landschaft, in der sie leben: Eine endlose ebene Fläche. Die Provinz in der Mitte des Landes gilt als die Kornkammer Kandas. Sie ist doppelt so groß wie Deutschland, hat aber nur eine Million Einwohner.
"Einsamkeit, Stille, Leere" gehören zum Leben der Provinzeinwohner, von denen knapp ein Drittel Deutsche sind bzw. deutsche Ahnen haben. Eine Reportage von Peter Marx aus der Mitte von Nirgendwo, wie Sasketchewan auch beschrieben wird, das von Naturparks, endlosen Weizenfeldern, Indianer-Kasinos bis zu deutschen Skat-Klubs viel zu bieten hat.
Die Radiomoderatorin: "Ich habe mich oft gefragt, warum bin ich hier und habe dann furchtbare Sehnsucht nach Deutschland, aber vielleicht nach dem Deutschland, das ich mal gekannt habe, aber nicht nach dem heutigen Deutschland."
Die Parkrangerin: "Hier im Norden haben wir Wölfe, Schwarzbär, Luchs, Cougar, Wapiti-Hirsch, kleine Säugetiere, wie Fischotter, Biber, wir haben auch viele Seen mit Fisch. Wir haben alles hier."
Die Casino-Präsidentin: "Die Häuptlinge von Saskatchewan wussten, dass es an Arbeitsmöglichkeiten für Leute der ersten Nation fehlte. Unsere Arbeitslosenquote war wirklich hoch. Daher mussten wir Arbeitsmöglichkeiten schaffen. Und das war einer der Gründe, warum wir in das Casino Geschäft eingestiegen sind, um Arbeitsplatze für die Erste Nation zu schaffen."
Irgendwo hier muss die Abzweigung sein. Vorbei an der Broadway - und Victoria-Avenau- dann endlich das Schild: Highway 219. Zirka 20 Kilometer außerhalb der Stadt Saskatoon, dem Wirtschaftszentrum der kanadischen Provinz Saskatchewan, liegt das Indianer-Reservat der Dakota, White-Caps und Sioux. 30 Minuten später sind drei Bisons von der Straße aus zu sehen: tiefgraue, gusseiserne Tiere, auf einer Stein-Rampe vor dem Lichter blitzenden Eingang eines Casinos.
Im Casino - ein Bild, bei dem selbst Karl May den Glauben an edle Indianer verliert: Winnetou als Croupier oder Kartendealer, ohne Federschmuck, ohne Pfeil und Bogen, dafür mit pedikürten Fingernägeln und im dunklen Anzug, samt Krawatte. "Willkommen", sagt Pat Cook "im ersten indianereigenen Spielcasino". Dann zieht es die schwarzhaarige Frau in ihrem eleganten Kostüm zwischen die einarmigen Banditen: hunderte von Spielautomaten in einem fußballfeldgroßen Saal.
Pat-Cook-Band: "Anfangs hatten wir vier Casinos, das erste entstand hier in Saskatoon, und etwa 500 Mitarbeiter. Jetzt 13 Jahre später haben wir sechs Casinos in Saskatchewan und arbeiten mit 2100 Angestellten. 70 Prozent der Angestellten sind Menschen derEersten Nation. So haben wir wirklich eine Arbeitsmöglichkeit für unsere Leute geschaffen."
Der Saal bebt – unter dem Ansturm von Senioren, die direkt aus Pik-ups und Bussen an die Automaten hetzen: Hektisch schieben sie abgegriffene Dollar-Schein in die Automaten-Schlitze. Noch schnell, Kaffee oder Whiskey bestellen! Ein hastiger Blick auf den Kreditanzeiger des Nachbarn. Mitleid? Neid? Nichts geht mehr. Alles ist gut. Pat Cooks Blick streift eine Rentnerin mit schütterem Haar.
Sie versucht vergeblich ihren Schein in den Schlitz zu schieben. Schnell hilft ihr ein stämmiger Sioux-Indianer. Seine Vorfahren rauben früher noch die Siedler aus. Heute machen es die Nachfahren eleganter. "Und erfolgreicher", sagt die Präsidentin, ebenfalls Indianerin, die über den Vergleich allerdings nur gequält lächelt.
Pat-Cook-Band: "Dieses Jahr haben wir 67 Millionen Dollar für die Erste Nation und die Provinzen von Saskatchewan erwirtschaftet. Wir waren also dieses Jahr sehr erfolgreich."
An der Saaldecke leuchten auf Plasma-Bildschirmen Namen und Gesichter von Gewinnern auf: von 1000 Dollar bis 150.000 Dollar. In ihren blauen Sesseln verfolgen Spieler konzentriert die Automaten-Anzeigen. Lautstark klimpert, klirrt und surrt es. Einzelne Jubelschreie sind kaum zu hören. Eine Frau, deutlich über 70, wechselt den Spieltisch. Unter der Nase eine dünne Sauerstoff-Sonde, an ihrem Rulator befestigt - eine meterlange Sauerstoffflasche.
Pat-Cook-Band: "Unsere heutige Bevölkerung besteht hauptsächlich aus älteren Menschen und das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum sie so gerne in die Casinos kommen, um soziale Kontakte zu knüpfen, um sich zu unterhalten oder einfach, um aus dem Haus zu kommen. Das heißt in unseren Casinos sehen sie hauptsächlich Pensionisten und diese Altergruppe."
Pat Cook schiebt eine Haarsträhne aus dem Gesicht, winkt Sicherheitsleute heran, als der Ansturm der Senioren zunimmt. Die Gesichter der Männer wie aus einem Indianer-Bilderbuch. Korrekter: alles First-Nations-People – so die offizielle Bezeichnung für Indianer. "Die Idee für die Casinos war grandios", sagt Pat Cook und geht zwischen den Automatenreihen durch. 120.000 Indianer gibt es in der Provinz. Und alle haben etwas davon.
Pat-Cook-Band: "Wir sind die Betreiber, SIGA die Glücksspiel Behörde, wir betreiben die Casinos. Wir sind eine gemeinnützige Gesellschaft im wahrsten Sinn des Wortes. Alle unsere Gewinne gehen zurück an die Menschen der Ersten Nation und die Regierung von Saskatchewan. Das Glücksspiel-Abkommen ist so zu verstehen, dass 50 Prozent der Gewinne an den Erste Nation Trust (Treuhand) geht, weitere 25 Prozent gehen an die Provinzen von Saskatchewan. Und das Geld, das die Erste Nation Treuhand zu verwalten hat, geht weiter an die 74 Ersten Nationen von Saskatchewan."
Die Stämme bauen neue Schulen, Bürgerhäuser, reparieren Straßen, vergeben Kredite.
Die Glückspielbehörde dagegen, so die Vizepräsidentin auf ihrem Rundgang, investiert in Golfplätze und Hotels. "Alles neue Arbeitsplätze für Indianer", sagt sie und benutzt lächelnd das deutsche Wort. Dann- ein schnelles "Good bye". Sie verschwindet hinter den Kulissen des Casinos, wo Besucher keinen Zutritt haben.
Eine schmale Holzkirche mit Zwiebeldach wird zum Fluchtpunkt für die Augen. Sie taucht im Meer der Weizenfelder auf, einsam, ohne Gemeinde, verschwindet nach wenigen Minuten wieder im Rückspiegel. Sonst – nur Weizenfelder – bis zum Horizont. Von Kilometer eins bis 100, von 101 bis fast zum Ziel, dem Prince Albert Nationalpark hoch im Norden der Provinz Saskatchewan. Was in der Sprache der Cree-Indianer so viel bedeutet wie "der Fluss, der schnell fließt".
Die Fahrt in den Park – pure Langeweile. Immer geradeaus - Verfahren unmöglich! Aus dem Autoradio des Dodge dudelt Country-Musik, was zur Landschaft und zu den Bewohnern der Region passt. Eine Million Menschen leben in Saskatchewan, das flächenmäßig doppelt so groß ist wie Deutschland. Was alles sagt. Stille, Leere, Einsamkeit und das Gefühl "verlassen zu sein"; in dieser Provinz in der Mitte Kanadas gehört das zum täglichen Leben.
Der Radio-Sender wechselt automatisch. Auf dem Display leuchtet CRSoS auf, das Kürzel für Community-Radio-society of Saskatoon. Es ist Sonntag, 13 Uhr.
Kirmse: "Guten Tag und herzlich willkommen zum Treffpunkt Deutschland, dem deutschen Sonntagnachmittagsprogramm. Hier im Studio des Community-Programms begrüßt sie ganz herzlich ihre Gastgeberin Sigrid Kirmse. Heute ist ein wunderschöner Tag und wir beginnen mit den lustigen Musikanten."
Sigrid Kirmse ist eine Starmoderatorin dieses freien Radios für ethnische Gruppen in Saskatchewan. Weit über 70 Jahre alt, moderiert die schlanke Frau aus Bielefeld seit 32 Jahren das deutsche Radioprogramm. Jede Woche – zwei Stunden lang für Deutsche, deutsche Aussiedler oder Kanadier mit deutschen Wurzeln. Immerhin jeder dritte in dieser Provinz.
Kirmse: "Mein Mann war ein Bergwerksingenieur und hier brauchte man speziell ausgebildete Leute, die Abteufung von Schächten im Kali-Bergbau machten. Eine Gruppe von diesen Männern wurde 1965 hierher geschickt. Da waren viele Bergwerksgesellschaften beteiligt und das war ein Vertrag für höchstens ein Jahr. Und ich habe dann meine Kinder drei Monate später geschnappt und wir sind nach Saskatoon gekommen, um hier einige Monate zu bleiben. Wir wollten nach Weihnachten nach Deutschland zurück und wir sind immer noch hier."
Das erzählt die Rentnerin nicht im Radio. Sie lädt ein in das Funkhaus in Saskatoon. Aufrecht, stolz läuft sie über die knarrenden Dielen des Backsteinhauses, erzählt alles über sich, zeigt alles - vom Sendestudio bis Musikarchiv.
Kirmse: "Ich spiele für die mittlere bis ältere. Die wollen Volkslieder haben, alte Schlager. Ich habe Programm von der Deutschen. Und ein Herr in Wuppertaler Gegend sendet mir jeden Monat eine CD mit Ansichten aus Deutschland. Das sind Interviews, Gespräche, was da neu los ist in Deutschland."
Die Hits von Zarah Leander, Peter Alexander und Rudi Schurike. Dann hört es für die Moderatorin musikalisch auf. Die Fünfzigerjahre eben. Moderneres, jüngeres! "Auf gar keinen Fall", fügt sie trotzig hinzu, geht weiter durch das Radio-Haus.
Kirmse: "Meine Hörer sind Leute, die ungefähr zur gleichen Zeit wie ich, nach Kanada gegangen sind. Die noch die alten Volkslieder kennen. Wir haben jetzt sehr viele neue Einwanderer und wir haben einige nach bestimmten Weihnachts- und Volkslieder gefragt. Die hatten die noch nie gehört, die kannten die gar nicht."
Sigrid Kirmse begrüßt Kollegen, drückt sich vorbei an der Küche, begrüßt den Programmdirektor, der sie umarmt und küsst. Die Moderatorin genießt sichtlich ihren regionalen Ruhm. Wie kommt eine Hausfrau zum Radio? Sie lächelt, verschränkt ihre Hände, erzählt.
Kirmse: "Das ist ganz ulkig eigentlich. Der Leiter des Radiosenders der Universität, bombardierte mich eine ganze Zeit lang, ein deutsches Programm zu machen. Und ich habe immer gesagt, ich will das nicht, ich kann das nicht usw. Eine junge Studentin, sie ging noch zur Oberschule, die sprach ich an und die sagte, oh ja, das machen wir zusammen. 1977 habe ich angefangen."
Die heutige Kanadierin ist Vorstandsmitglied im Saskatchewan German Council: ein Zusammenschluss aller deutschen Clubs in der Provinz. Alle zwei Jahre, erzählt sie, während sie vor einem Studio wartet, fährt sie in ihre alte Heimat. Aber immer öfters "mit gemischten Gefühlen". Das neue Deutschland passt nicht in ihr altes Bild von Deutschland.
Kirmse: "Vielleicht die Hetzerei. Jeder will besser sein als der andere. Die Arroganz. Hier sagt man, die Kanadier arbeiten, um zu leben, und die Deutschen leben, um zu arbeiten. Wenn ich drei Wochen drüben bin, dann steht es mir bis oben hin und ich sage: Bloß wieder weg."
Zwei Stunden und vier Kurven später auf dem Highway. Ortschaftsschilder mit deutschen Namen am Straßenrand: St. Meinhard, St. Cunigunda, Thiel-Krentz, Münster, St. Gregor - ehemalige Siedlungsgebiete deutscher Katholiken. Der Radio-Empfang wird schlechter ...
Kirmse: "Ja, inzwischen sind wir zum Ende gekommen. Es ist gleich drei Uhr und wir müssen uns schon verabschieden. Die nächsten warten schon hinter mir. Ich sage Ihnen alles gute, alles liebe, schöne für Sie und für Sie. Ihre Sigrid Kirmse."
Die Landschaft ändert sich. Endlich. Statt Weizenfelder, erste Hügel und Wälder.
Prince Albert Nationalpark. Die Straße wird schmaler und rauer. Eine Herde Wapiti-Hirsche kreuzt die Fahrbahn, ein Coyote versucht sich zu verstecken. Der Park dehnt sich über eine Fläche von 3874 Quadratkilometer aus, mehr als die Bundesländer Saarland, Berlin und Bremen zusammen. Davon ein Fünftel mit Wasser bedeckt: Seen, Flüsse, Teiche.
Colleen Gerwing Band: "”Wir haben 250 Kilometer für Wandern und auch Kanufahren, Kajak. Man kann schwimmen gehen. Aber es ist ein bisschen kalt, aber sehr frisch. Besonders: Wilde Tiere beobachten. Und im Herbst ist es so schön hier. Die Herbst-Farben. Auch im Winter kommen die Leute zum Langlaufen. Wir haben über 150 Kilometer langes Langlaufnetz und Schneeschuhwandern. Manchmal kommen die Wölfe nach Waskasiu ins Dorf. Und die Leute fotografieren und filmen die Tiere.""
Colleen Gerwing ist Parkrangerin. Sie will heute die alte Hütte des ersten kanadischen Umweltschützers vorstellen: Grey Owl, der in den Dreißigerjahren im Park lebt und Bücher über das Leben in und mit der Natur verfasst. Der Weg zur Hütte von Grey Owl, der grauen Eule, führt über Waldpfade und zwei Seen.
Die Rangerin zieht zunächst das dunkelblaue Aluminium-Boot auf eine Lore und schiebt es über Schienen durch den Wald vom Waskesiu zum Kingsmare See. Schweißtreibend, was die Mücken in Ekstase treibt. Doch Colleen Gerwing, circa 60 Jahre alt, im Parka und grüner Rangerhose klagt nicht, lächelt, schwärmt weiter von der grauen Eule:
Gerwing Band 2 A-Seite 396 – 419:
"Grey Owl kommt aus England. Und seit er ein Kind war, wollte er ein Indianer werden. Ich weiß nicht warum, es war immer so. Und er hat so viel gelesen über Indianer, über Kanada, Er konnte sich gut vorstellen, wie es in Kanada ist. Er, Belaney, das war sein richtiger Name. Und später wurde daraus Grey Owl, sein Name als Schriftsteller. Hier im Prince Albert Nationalpark feiern wir Grey Owl, er war ein berühmter Schriftsteller, Naturschützer und Visionär."
Colleen Gerwing bleibt ruckartig am Bootsanleger stehen, schiebt ihren grünen Schlapphut über die grauen Locken. Ein Haufen Scheiße macht sie unruhig. "Hier sind Bären" haucht sie, nestelt an ihrem Rucksack, zieht eine 20 Zentimeter große Spraydose heraus.
Gerwing, Band 2 A-Seite 494-512:
"Ich habe ein Bärenspray mit. Das ist neu für mich. Im Frühling hatte ich ein großes Problem mit einem Bär. Ich war alleine im Kanu. Das war ein enger Bach und kleines Kanu. Es war schön am Abend. Und plötzlich ein Bär kommt aus dem Wald rennt auf mich zu, schreit. Ich hatte soviel Angst, ich konnte nicht patteln."
Kein Bär zu sehen. Alles bleibt ruhig und die Rangerin legt langsam die Spraydose aus der Hand.
Nach einstündigem Fußmarsch ist die Hütte von Grey Owl zu sehen: Gebaut aus Holzstämmen, direkt am See und teilweise über einem großen Biberbau. Der Naturschützer will das Leben der Biber studieren, lebt mit den Tieren zusammen. Ein Holztisch, ein Bett aus grob behauenen Baumstämmen, Regale, ein Kanonenofen erinnern noch an den Schriftsteller, der hier "Pilgrimms of the wild" schreibt. Hier stirbt Grey Owl am 13. April 1938.
Die Stein-Gräber von ihm und seiner Frau, sind das letzte, was Colleen Gerwing zeigt, dann steigt sie in ihr mitgebrachtes Kanu. Sie will die Wildnis noch alleine genießen. Die rote Pfefferspraydose gegen Bären liegt zwischen ihren Füßen
Highway 2. Richtung Regina, der Hauptstadt von Saskatchewan. Keine Raser im Rückspiegel, keine Sonntagsfahrer vor der Haube. Links, rechts Weizen- und Roggenfelder. Mähdrescher, zwei- und dreistöckig mit extrabreiten Mähmaschinen ziehen stundenlang Spuren durch den Weizen, bevor sie einmal wenden. Das Klischee von der endlosen Weite stimmt. "Einen Hund, der von Zuhause wegläuft, sieht man noch drei Tage vom Küchenfenster aus", sagen die Farmer dazu, die, um mit dem Nachbarn Kaffee zu trinken, schon mal 20, 30 Kilometer weit fahren müssen. So ist das eben in einer Provinz mit dem wenig schmeichhaften Titel: "the middle of nowwhere.", die Mitte von Nirgendwo.
Alle 100 Kilometer eine Kleinstadt, nach kanadischer Lesart: 10, 20 Holz-Häuser, 5 große Campingcaravans auf einer Wiese, eine Grundschule, am Straßenrand Werkstatt, Bar und Burger-Restaurant, Tankstelle. Quasi das Ausrufezeichen jeder Stadt: der riesige Getreidespeicher am Ortsrand, modern aus Metall, historisch aus Holz.
Regina, die Hauptstadt, politisches Zentrum der Provinz. Eine junge Stadt, erst 1892 im Zuge des Eisenbahnbaus gegründet: Die Baumixtur zeigt es an: historische Gebäude neben Versicherungs-Hochhäuser, Backsteinvillen neben schmucklosen Holzhäusern. Für die Farmer "eine hektische Stadt", für die Bewohner eine ruhige, zu ruhige Stadt.
Etwas außerhalb, zwischen Autobahnring und Zentrum, die Schule der Mounties, der Royal Canadian Mounted Police, zu deutsch etwa königliche kanadische berittene Polizei.
Und täglich grüßen die Kadetten, zu Pferd, zu Fuß, begleitet von der eigenen Musikkapelle die Direktoren der Schulen. Die Sergeant Majors-Parade. Der tägliche Drill vor Ausbildern und Besuchern der Schule.
Band 3 A-Seite 264 – 270: "Natürlich gibt es hier einen starken britischen Einfluss, aber man muss bedenken, dass Kanada drei oder vier Jahre alt war, als die RCMP gegründet wurde und sie war von Leuten beherrscht, die aus England kamen. Deshalb stammen viele der traditionellen Dingen, aus England, Dinge wie diese Parade Sie haben die Idee dazu aus einer alten britischen Tradition übernommen."
Jeanette drängt die Besucher hinter die blaue Kordel auf dem Exerzierplatz, vor dem roten Klinkerbau der Schule. Die schlanke Frau mit dem Pferdeschwanz arbeitet im polizeieigenen Museum, erläutert die Geschichte der – neben dem amerikanischen FBI – wohl berühmtesten Bundespolizei der Welt. Gegründet in einer Zeit, als dieser Teil Kanadas noch zum Wilden Westen gehört: Angefangen bei Sitting Bull bis Al Capone, sagt Jeanette.
Band 3 A-Seite 273 – 280: "Whisky Händler kamen aus dem nördlichen Teil der Vereinigten Staaten in unser Gebiet hier. Das verursachte große Probleme wie Gewalt Mord, Verbrechen und Ähnliches. Dazu kam, dass Kanada selbst kein sehr gutes Verhältnis hatte mit den Menschen aus der Ersten Nation. Das sollte verbessert werden. Das ging damit los, dass man mehr Provinzen schuf, die Eisenbahn hierher brachte. Und all diese Dinge überzeugten sie, dass eine Polizeimacht nötig war."
Kadetten rennen vorbei, die Hände unnatürlich an die Brust gewinkelt. "Alles nur Drill", lacht die Führerin. Keiner der Kadetten lacht zurück. Über 2000 Kadetten werden an der Mountie-Schule in halbjährlichen Lehrgängen ausgebildet, nur ein kleiner Teil darf später die berühmte Uniform tragen, betont Jeanette und führt die Besucher weiter über das Gelände.
Band 3 , A-Seite 431- 440: "Der braune Hut heißt Stetson, das ist ein Hut mit breiter Krempe und den tragen sie als Teil der traditionellen Uniform. So wie die rote Jacke, die braunen Stiefel und Hut usw. Das tragen sie nicht bei ihrer Arbeit im normalen Dienst. Da tragen sie ihren kleinen blauen Polizeihut, normale Hosen und Armeestiefel, das ist ihr Alltagsoutfit. Aber diesen Hut tragen sie nur zu der speziellen Uniform. Der Grund, warum sie diesen Hut tragen, liegt darin, dass, als sie durch die Prärie hierher kamen, war ihnen nicht bewusst, dass es hier so flach war und es keine Bäume gab. Ihre Hüte damals waren kleine runde Hüte, ein winzig kleiner Hut, der absolut keinen Sonnenschutz bot. Dann haben sie die U. S. Kavallerie gesehen, die damals die Polizei war, und die trugen Hüte, die ihre Augen schützten. Die haben sie sich dann auch besorgt."
Rückfahrt nach Saskatoon, das eigentliche Zentrum der Provinz. Aufregung, Bremsen, die Abwechslung genießen. Endlich ist was los auf dem Highway. Ein Stau, fünf Autos hinter einem breiten Mähdrescher der alle zwei Fahrbahnspuren benötigt. Nach nicht einmal zehn Minuten wieder geradeaus, die Langeweile kommt zurück. Am Rande von Saskatoon ein hässlicher, langgestreckter Flachbau. "Concordia" steht an der Hauswand, davor ein Schild: Deutscher Koch, Today, Lunch, Rouladenstew mit Kartoffeln.
Der deutsch-kanadische Club, gegründet von Auswanderer als Fußballclub. Heute - ein Zentrum mit bayrisch geschmücktem Hochzeits-Saal, deutschem Bier, Trachten- und Schuhplattlergruppe sowie Gesangsverein und Skatclub. Aus den Boxen des Restaurants klingt deutsches Liedgut, in der kleinen Leseecke gibt’s Bücher mit dem Titel "Rommel ruft Kairo." Jedes Vorurteil, jedes Klischee über Deutsche und Deutschland findet sich wieder. Mittendrin, die deutsche Honorarkonsulin Barbara Hoggard-Lulay, die nicht alles was an der Wand hängt, glücklich macht:
"Ja, es gibt natürlich unterschiedliche Gruppen von Einwanderer, die auch unterschiedliche Deutschlandbilder mitbringen. Und da im Moment die Einwanderung wieder stark zunimmt, finden sich natürlich ganz, ganz viele Wissenschaftler, alle Berufsgruppen, auch Handwerker und die bringen natürlich alle ihr Deutschlandbild mit und pflegen das hier auch weiter."
Und die kanadischen Gäste? "Oh, die sind glücklich", sagt der Manager. Nicht nur wegen des deutschen Biers, der deutschen Gemütlichkeit. Und wer weiß von den Gästen schon, dass eine deutsche Roulade nie in einem Mixer kommt und zerfetzte Rouladenstücke einfach nicht schmecken. "Wir sind hier im Herzen des Nirgendwo", heißt es dann. Was irgendwie alles entschuldigt und dass der deutsche Koch frustriert gekündigt hat, muss kein Gast wissen.
Die Radiomoderatorin: "Ich habe mich oft gefragt, warum bin ich hier und habe dann furchtbare Sehnsucht nach Deutschland, aber vielleicht nach dem Deutschland, das ich mal gekannt habe, aber nicht nach dem heutigen Deutschland."
Die Parkrangerin: "Hier im Norden haben wir Wölfe, Schwarzbär, Luchs, Cougar, Wapiti-Hirsch, kleine Säugetiere, wie Fischotter, Biber, wir haben auch viele Seen mit Fisch. Wir haben alles hier."
Die Casino-Präsidentin: "Die Häuptlinge von Saskatchewan wussten, dass es an Arbeitsmöglichkeiten für Leute der ersten Nation fehlte. Unsere Arbeitslosenquote war wirklich hoch. Daher mussten wir Arbeitsmöglichkeiten schaffen. Und das war einer der Gründe, warum wir in das Casino Geschäft eingestiegen sind, um Arbeitsplatze für die Erste Nation zu schaffen."
Irgendwo hier muss die Abzweigung sein. Vorbei an der Broadway - und Victoria-Avenau- dann endlich das Schild: Highway 219. Zirka 20 Kilometer außerhalb der Stadt Saskatoon, dem Wirtschaftszentrum der kanadischen Provinz Saskatchewan, liegt das Indianer-Reservat der Dakota, White-Caps und Sioux. 30 Minuten später sind drei Bisons von der Straße aus zu sehen: tiefgraue, gusseiserne Tiere, auf einer Stein-Rampe vor dem Lichter blitzenden Eingang eines Casinos.
Im Casino - ein Bild, bei dem selbst Karl May den Glauben an edle Indianer verliert: Winnetou als Croupier oder Kartendealer, ohne Federschmuck, ohne Pfeil und Bogen, dafür mit pedikürten Fingernägeln und im dunklen Anzug, samt Krawatte. "Willkommen", sagt Pat Cook "im ersten indianereigenen Spielcasino". Dann zieht es die schwarzhaarige Frau in ihrem eleganten Kostüm zwischen die einarmigen Banditen: hunderte von Spielautomaten in einem fußballfeldgroßen Saal.
Pat-Cook-Band: "Anfangs hatten wir vier Casinos, das erste entstand hier in Saskatoon, und etwa 500 Mitarbeiter. Jetzt 13 Jahre später haben wir sechs Casinos in Saskatchewan und arbeiten mit 2100 Angestellten. 70 Prozent der Angestellten sind Menschen derEersten Nation. So haben wir wirklich eine Arbeitsmöglichkeit für unsere Leute geschaffen."
Der Saal bebt – unter dem Ansturm von Senioren, die direkt aus Pik-ups und Bussen an die Automaten hetzen: Hektisch schieben sie abgegriffene Dollar-Schein in die Automaten-Schlitze. Noch schnell, Kaffee oder Whiskey bestellen! Ein hastiger Blick auf den Kreditanzeiger des Nachbarn. Mitleid? Neid? Nichts geht mehr. Alles ist gut. Pat Cooks Blick streift eine Rentnerin mit schütterem Haar.
Sie versucht vergeblich ihren Schein in den Schlitz zu schieben. Schnell hilft ihr ein stämmiger Sioux-Indianer. Seine Vorfahren rauben früher noch die Siedler aus. Heute machen es die Nachfahren eleganter. "Und erfolgreicher", sagt die Präsidentin, ebenfalls Indianerin, die über den Vergleich allerdings nur gequält lächelt.
Pat-Cook-Band: "Dieses Jahr haben wir 67 Millionen Dollar für die Erste Nation und die Provinzen von Saskatchewan erwirtschaftet. Wir waren also dieses Jahr sehr erfolgreich."
An der Saaldecke leuchten auf Plasma-Bildschirmen Namen und Gesichter von Gewinnern auf: von 1000 Dollar bis 150.000 Dollar. In ihren blauen Sesseln verfolgen Spieler konzentriert die Automaten-Anzeigen. Lautstark klimpert, klirrt und surrt es. Einzelne Jubelschreie sind kaum zu hören. Eine Frau, deutlich über 70, wechselt den Spieltisch. Unter der Nase eine dünne Sauerstoff-Sonde, an ihrem Rulator befestigt - eine meterlange Sauerstoffflasche.
Pat-Cook-Band: "Unsere heutige Bevölkerung besteht hauptsächlich aus älteren Menschen und das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum sie so gerne in die Casinos kommen, um soziale Kontakte zu knüpfen, um sich zu unterhalten oder einfach, um aus dem Haus zu kommen. Das heißt in unseren Casinos sehen sie hauptsächlich Pensionisten und diese Altergruppe."
Pat Cook schiebt eine Haarsträhne aus dem Gesicht, winkt Sicherheitsleute heran, als der Ansturm der Senioren zunimmt. Die Gesichter der Männer wie aus einem Indianer-Bilderbuch. Korrekter: alles First-Nations-People – so die offizielle Bezeichnung für Indianer. "Die Idee für die Casinos war grandios", sagt Pat Cook und geht zwischen den Automatenreihen durch. 120.000 Indianer gibt es in der Provinz. Und alle haben etwas davon.
Pat-Cook-Band: "Wir sind die Betreiber, SIGA die Glücksspiel Behörde, wir betreiben die Casinos. Wir sind eine gemeinnützige Gesellschaft im wahrsten Sinn des Wortes. Alle unsere Gewinne gehen zurück an die Menschen der Ersten Nation und die Regierung von Saskatchewan. Das Glücksspiel-Abkommen ist so zu verstehen, dass 50 Prozent der Gewinne an den Erste Nation Trust (Treuhand) geht, weitere 25 Prozent gehen an die Provinzen von Saskatchewan. Und das Geld, das die Erste Nation Treuhand zu verwalten hat, geht weiter an die 74 Ersten Nationen von Saskatchewan."
Die Stämme bauen neue Schulen, Bürgerhäuser, reparieren Straßen, vergeben Kredite.
Die Glückspielbehörde dagegen, so die Vizepräsidentin auf ihrem Rundgang, investiert in Golfplätze und Hotels. "Alles neue Arbeitsplätze für Indianer", sagt sie und benutzt lächelnd das deutsche Wort. Dann- ein schnelles "Good bye". Sie verschwindet hinter den Kulissen des Casinos, wo Besucher keinen Zutritt haben.
Eine schmale Holzkirche mit Zwiebeldach wird zum Fluchtpunkt für die Augen. Sie taucht im Meer der Weizenfelder auf, einsam, ohne Gemeinde, verschwindet nach wenigen Minuten wieder im Rückspiegel. Sonst – nur Weizenfelder – bis zum Horizont. Von Kilometer eins bis 100, von 101 bis fast zum Ziel, dem Prince Albert Nationalpark hoch im Norden der Provinz Saskatchewan. Was in der Sprache der Cree-Indianer so viel bedeutet wie "der Fluss, der schnell fließt".
Die Fahrt in den Park – pure Langeweile. Immer geradeaus - Verfahren unmöglich! Aus dem Autoradio des Dodge dudelt Country-Musik, was zur Landschaft und zu den Bewohnern der Region passt. Eine Million Menschen leben in Saskatchewan, das flächenmäßig doppelt so groß ist wie Deutschland. Was alles sagt. Stille, Leere, Einsamkeit und das Gefühl "verlassen zu sein"; in dieser Provinz in der Mitte Kanadas gehört das zum täglichen Leben.
Der Radio-Sender wechselt automatisch. Auf dem Display leuchtet CRSoS auf, das Kürzel für Community-Radio-society of Saskatoon. Es ist Sonntag, 13 Uhr.
Kirmse: "Guten Tag und herzlich willkommen zum Treffpunkt Deutschland, dem deutschen Sonntagnachmittagsprogramm. Hier im Studio des Community-Programms begrüßt sie ganz herzlich ihre Gastgeberin Sigrid Kirmse. Heute ist ein wunderschöner Tag und wir beginnen mit den lustigen Musikanten."
Sigrid Kirmse ist eine Starmoderatorin dieses freien Radios für ethnische Gruppen in Saskatchewan. Weit über 70 Jahre alt, moderiert die schlanke Frau aus Bielefeld seit 32 Jahren das deutsche Radioprogramm. Jede Woche – zwei Stunden lang für Deutsche, deutsche Aussiedler oder Kanadier mit deutschen Wurzeln. Immerhin jeder dritte in dieser Provinz.
Kirmse: "Mein Mann war ein Bergwerksingenieur und hier brauchte man speziell ausgebildete Leute, die Abteufung von Schächten im Kali-Bergbau machten. Eine Gruppe von diesen Männern wurde 1965 hierher geschickt. Da waren viele Bergwerksgesellschaften beteiligt und das war ein Vertrag für höchstens ein Jahr. Und ich habe dann meine Kinder drei Monate später geschnappt und wir sind nach Saskatoon gekommen, um hier einige Monate zu bleiben. Wir wollten nach Weihnachten nach Deutschland zurück und wir sind immer noch hier."
Das erzählt die Rentnerin nicht im Radio. Sie lädt ein in das Funkhaus in Saskatoon. Aufrecht, stolz läuft sie über die knarrenden Dielen des Backsteinhauses, erzählt alles über sich, zeigt alles - vom Sendestudio bis Musikarchiv.
Kirmse: "Ich spiele für die mittlere bis ältere. Die wollen Volkslieder haben, alte Schlager. Ich habe Programm von der Deutschen. Und ein Herr in Wuppertaler Gegend sendet mir jeden Monat eine CD mit Ansichten aus Deutschland. Das sind Interviews, Gespräche, was da neu los ist in Deutschland."
Die Hits von Zarah Leander, Peter Alexander und Rudi Schurike. Dann hört es für die Moderatorin musikalisch auf. Die Fünfzigerjahre eben. Moderneres, jüngeres! "Auf gar keinen Fall", fügt sie trotzig hinzu, geht weiter durch das Radio-Haus.
Kirmse: "Meine Hörer sind Leute, die ungefähr zur gleichen Zeit wie ich, nach Kanada gegangen sind. Die noch die alten Volkslieder kennen. Wir haben jetzt sehr viele neue Einwanderer und wir haben einige nach bestimmten Weihnachts- und Volkslieder gefragt. Die hatten die noch nie gehört, die kannten die gar nicht."
Sigrid Kirmse begrüßt Kollegen, drückt sich vorbei an der Küche, begrüßt den Programmdirektor, der sie umarmt und küsst. Die Moderatorin genießt sichtlich ihren regionalen Ruhm. Wie kommt eine Hausfrau zum Radio? Sie lächelt, verschränkt ihre Hände, erzählt.
Kirmse: "Das ist ganz ulkig eigentlich. Der Leiter des Radiosenders der Universität, bombardierte mich eine ganze Zeit lang, ein deutsches Programm zu machen. Und ich habe immer gesagt, ich will das nicht, ich kann das nicht usw. Eine junge Studentin, sie ging noch zur Oberschule, die sprach ich an und die sagte, oh ja, das machen wir zusammen. 1977 habe ich angefangen."
Die heutige Kanadierin ist Vorstandsmitglied im Saskatchewan German Council: ein Zusammenschluss aller deutschen Clubs in der Provinz. Alle zwei Jahre, erzählt sie, während sie vor einem Studio wartet, fährt sie in ihre alte Heimat. Aber immer öfters "mit gemischten Gefühlen". Das neue Deutschland passt nicht in ihr altes Bild von Deutschland.
Kirmse: "Vielleicht die Hetzerei. Jeder will besser sein als der andere. Die Arroganz. Hier sagt man, die Kanadier arbeiten, um zu leben, und die Deutschen leben, um zu arbeiten. Wenn ich drei Wochen drüben bin, dann steht es mir bis oben hin und ich sage: Bloß wieder weg."
Zwei Stunden und vier Kurven später auf dem Highway. Ortschaftsschilder mit deutschen Namen am Straßenrand: St. Meinhard, St. Cunigunda, Thiel-Krentz, Münster, St. Gregor - ehemalige Siedlungsgebiete deutscher Katholiken. Der Radio-Empfang wird schlechter ...
Kirmse: "Ja, inzwischen sind wir zum Ende gekommen. Es ist gleich drei Uhr und wir müssen uns schon verabschieden. Die nächsten warten schon hinter mir. Ich sage Ihnen alles gute, alles liebe, schöne für Sie und für Sie. Ihre Sigrid Kirmse."
Die Landschaft ändert sich. Endlich. Statt Weizenfelder, erste Hügel und Wälder.
Prince Albert Nationalpark. Die Straße wird schmaler und rauer. Eine Herde Wapiti-Hirsche kreuzt die Fahrbahn, ein Coyote versucht sich zu verstecken. Der Park dehnt sich über eine Fläche von 3874 Quadratkilometer aus, mehr als die Bundesländer Saarland, Berlin und Bremen zusammen. Davon ein Fünftel mit Wasser bedeckt: Seen, Flüsse, Teiche.
Colleen Gerwing Band: "”Wir haben 250 Kilometer für Wandern und auch Kanufahren, Kajak. Man kann schwimmen gehen. Aber es ist ein bisschen kalt, aber sehr frisch. Besonders: Wilde Tiere beobachten. Und im Herbst ist es so schön hier. Die Herbst-Farben. Auch im Winter kommen die Leute zum Langlaufen. Wir haben über 150 Kilometer langes Langlaufnetz und Schneeschuhwandern. Manchmal kommen die Wölfe nach Waskasiu ins Dorf. Und die Leute fotografieren und filmen die Tiere.""
Colleen Gerwing ist Parkrangerin. Sie will heute die alte Hütte des ersten kanadischen Umweltschützers vorstellen: Grey Owl, der in den Dreißigerjahren im Park lebt und Bücher über das Leben in und mit der Natur verfasst. Der Weg zur Hütte von Grey Owl, der grauen Eule, führt über Waldpfade und zwei Seen.
Die Rangerin zieht zunächst das dunkelblaue Aluminium-Boot auf eine Lore und schiebt es über Schienen durch den Wald vom Waskesiu zum Kingsmare See. Schweißtreibend, was die Mücken in Ekstase treibt. Doch Colleen Gerwing, circa 60 Jahre alt, im Parka und grüner Rangerhose klagt nicht, lächelt, schwärmt weiter von der grauen Eule:
Gerwing Band 2 A-Seite 396 – 419:
"Grey Owl kommt aus England. Und seit er ein Kind war, wollte er ein Indianer werden. Ich weiß nicht warum, es war immer so. Und er hat so viel gelesen über Indianer, über Kanada, Er konnte sich gut vorstellen, wie es in Kanada ist. Er, Belaney, das war sein richtiger Name. Und später wurde daraus Grey Owl, sein Name als Schriftsteller. Hier im Prince Albert Nationalpark feiern wir Grey Owl, er war ein berühmter Schriftsteller, Naturschützer und Visionär."
Colleen Gerwing bleibt ruckartig am Bootsanleger stehen, schiebt ihren grünen Schlapphut über die grauen Locken. Ein Haufen Scheiße macht sie unruhig. "Hier sind Bären" haucht sie, nestelt an ihrem Rucksack, zieht eine 20 Zentimeter große Spraydose heraus.
Gerwing, Band 2 A-Seite 494-512:
"Ich habe ein Bärenspray mit. Das ist neu für mich. Im Frühling hatte ich ein großes Problem mit einem Bär. Ich war alleine im Kanu. Das war ein enger Bach und kleines Kanu. Es war schön am Abend. Und plötzlich ein Bär kommt aus dem Wald rennt auf mich zu, schreit. Ich hatte soviel Angst, ich konnte nicht patteln."
Kein Bär zu sehen. Alles bleibt ruhig und die Rangerin legt langsam die Spraydose aus der Hand.
Nach einstündigem Fußmarsch ist die Hütte von Grey Owl zu sehen: Gebaut aus Holzstämmen, direkt am See und teilweise über einem großen Biberbau. Der Naturschützer will das Leben der Biber studieren, lebt mit den Tieren zusammen. Ein Holztisch, ein Bett aus grob behauenen Baumstämmen, Regale, ein Kanonenofen erinnern noch an den Schriftsteller, der hier "Pilgrimms of the wild" schreibt. Hier stirbt Grey Owl am 13. April 1938.
Die Stein-Gräber von ihm und seiner Frau, sind das letzte, was Colleen Gerwing zeigt, dann steigt sie in ihr mitgebrachtes Kanu. Sie will die Wildnis noch alleine genießen. Die rote Pfefferspraydose gegen Bären liegt zwischen ihren Füßen
Highway 2. Richtung Regina, der Hauptstadt von Saskatchewan. Keine Raser im Rückspiegel, keine Sonntagsfahrer vor der Haube. Links, rechts Weizen- und Roggenfelder. Mähdrescher, zwei- und dreistöckig mit extrabreiten Mähmaschinen ziehen stundenlang Spuren durch den Weizen, bevor sie einmal wenden. Das Klischee von der endlosen Weite stimmt. "Einen Hund, der von Zuhause wegläuft, sieht man noch drei Tage vom Küchenfenster aus", sagen die Farmer dazu, die, um mit dem Nachbarn Kaffee zu trinken, schon mal 20, 30 Kilometer weit fahren müssen. So ist das eben in einer Provinz mit dem wenig schmeichhaften Titel: "the middle of nowwhere.", die Mitte von Nirgendwo.
Alle 100 Kilometer eine Kleinstadt, nach kanadischer Lesart: 10, 20 Holz-Häuser, 5 große Campingcaravans auf einer Wiese, eine Grundschule, am Straßenrand Werkstatt, Bar und Burger-Restaurant, Tankstelle. Quasi das Ausrufezeichen jeder Stadt: der riesige Getreidespeicher am Ortsrand, modern aus Metall, historisch aus Holz.
Regina, die Hauptstadt, politisches Zentrum der Provinz. Eine junge Stadt, erst 1892 im Zuge des Eisenbahnbaus gegründet: Die Baumixtur zeigt es an: historische Gebäude neben Versicherungs-Hochhäuser, Backsteinvillen neben schmucklosen Holzhäusern. Für die Farmer "eine hektische Stadt", für die Bewohner eine ruhige, zu ruhige Stadt.
Etwas außerhalb, zwischen Autobahnring und Zentrum, die Schule der Mounties, der Royal Canadian Mounted Police, zu deutsch etwa königliche kanadische berittene Polizei.
Und täglich grüßen die Kadetten, zu Pferd, zu Fuß, begleitet von der eigenen Musikkapelle die Direktoren der Schulen. Die Sergeant Majors-Parade. Der tägliche Drill vor Ausbildern und Besuchern der Schule.
Band 3 A-Seite 264 – 270: "Natürlich gibt es hier einen starken britischen Einfluss, aber man muss bedenken, dass Kanada drei oder vier Jahre alt war, als die RCMP gegründet wurde und sie war von Leuten beherrscht, die aus England kamen. Deshalb stammen viele der traditionellen Dingen, aus England, Dinge wie diese Parade Sie haben die Idee dazu aus einer alten britischen Tradition übernommen."
Jeanette drängt die Besucher hinter die blaue Kordel auf dem Exerzierplatz, vor dem roten Klinkerbau der Schule. Die schlanke Frau mit dem Pferdeschwanz arbeitet im polizeieigenen Museum, erläutert die Geschichte der – neben dem amerikanischen FBI – wohl berühmtesten Bundespolizei der Welt. Gegründet in einer Zeit, als dieser Teil Kanadas noch zum Wilden Westen gehört: Angefangen bei Sitting Bull bis Al Capone, sagt Jeanette.
Band 3 A-Seite 273 – 280: "Whisky Händler kamen aus dem nördlichen Teil der Vereinigten Staaten in unser Gebiet hier. Das verursachte große Probleme wie Gewalt Mord, Verbrechen und Ähnliches. Dazu kam, dass Kanada selbst kein sehr gutes Verhältnis hatte mit den Menschen aus der Ersten Nation. Das sollte verbessert werden. Das ging damit los, dass man mehr Provinzen schuf, die Eisenbahn hierher brachte. Und all diese Dinge überzeugten sie, dass eine Polizeimacht nötig war."
Kadetten rennen vorbei, die Hände unnatürlich an die Brust gewinkelt. "Alles nur Drill", lacht die Führerin. Keiner der Kadetten lacht zurück. Über 2000 Kadetten werden an der Mountie-Schule in halbjährlichen Lehrgängen ausgebildet, nur ein kleiner Teil darf später die berühmte Uniform tragen, betont Jeanette und führt die Besucher weiter über das Gelände.
Band 3 , A-Seite 431- 440: "Der braune Hut heißt Stetson, das ist ein Hut mit breiter Krempe und den tragen sie als Teil der traditionellen Uniform. So wie die rote Jacke, die braunen Stiefel und Hut usw. Das tragen sie nicht bei ihrer Arbeit im normalen Dienst. Da tragen sie ihren kleinen blauen Polizeihut, normale Hosen und Armeestiefel, das ist ihr Alltagsoutfit. Aber diesen Hut tragen sie nur zu der speziellen Uniform. Der Grund, warum sie diesen Hut tragen, liegt darin, dass, als sie durch die Prärie hierher kamen, war ihnen nicht bewusst, dass es hier so flach war und es keine Bäume gab. Ihre Hüte damals waren kleine runde Hüte, ein winzig kleiner Hut, der absolut keinen Sonnenschutz bot. Dann haben sie die U. S. Kavallerie gesehen, die damals die Polizei war, und die trugen Hüte, die ihre Augen schützten. Die haben sie sich dann auch besorgt."
Rückfahrt nach Saskatoon, das eigentliche Zentrum der Provinz. Aufregung, Bremsen, die Abwechslung genießen. Endlich ist was los auf dem Highway. Ein Stau, fünf Autos hinter einem breiten Mähdrescher der alle zwei Fahrbahnspuren benötigt. Nach nicht einmal zehn Minuten wieder geradeaus, die Langeweile kommt zurück. Am Rande von Saskatoon ein hässlicher, langgestreckter Flachbau. "Concordia" steht an der Hauswand, davor ein Schild: Deutscher Koch, Today, Lunch, Rouladenstew mit Kartoffeln.
Der deutsch-kanadische Club, gegründet von Auswanderer als Fußballclub. Heute - ein Zentrum mit bayrisch geschmücktem Hochzeits-Saal, deutschem Bier, Trachten- und Schuhplattlergruppe sowie Gesangsverein und Skatclub. Aus den Boxen des Restaurants klingt deutsches Liedgut, in der kleinen Leseecke gibt’s Bücher mit dem Titel "Rommel ruft Kairo." Jedes Vorurteil, jedes Klischee über Deutsche und Deutschland findet sich wieder. Mittendrin, die deutsche Honorarkonsulin Barbara Hoggard-Lulay, die nicht alles was an der Wand hängt, glücklich macht:
"Ja, es gibt natürlich unterschiedliche Gruppen von Einwanderer, die auch unterschiedliche Deutschlandbilder mitbringen. Und da im Moment die Einwanderung wieder stark zunimmt, finden sich natürlich ganz, ganz viele Wissenschaftler, alle Berufsgruppen, auch Handwerker und die bringen natürlich alle ihr Deutschlandbild mit und pflegen das hier auch weiter."
Und die kanadischen Gäste? "Oh, die sind glücklich", sagt der Manager. Nicht nur wegen des deutschen Biers, der deutschen Gemütlichkeit. Und wer weiß von den Gästen schon, dass eine deutsche Roulade nie in einem Mixer kommt und zerfetzte Rouladenstücke einfach nicht schmecken. "Wir sind hier im Herzen des Nirgendwo", heißt es dann. Was irgendwie alles entschuldigt und dass der deutsche Koch frustriert gekündigt hat, muss kein Gast wissen.