In der Ethno-Falle

Von Rüdiger Rossig · 16.06.2009
Seit Beginn der Balkankriege 1991 müssen nicht nur die Serben, sondern alle Ex-Jugoslawen mit Ausnahme der Slowenen und Kroaten ein Visum beantragen, wenn sie ins vereinigte Europa reisen wollen. Damit sollte ein Massenansturm von Flüchtlingen verhindert werden.
Mittlerweile sind die Balkankriege zehn Jahre vorbei. Einen Massenansturm vom Balkan befürchtet niemand mehr. Aber die Ex-Jugoslawen müssen noch immer ein Visum beantragen, wenn sie nach Europa reisen wollen. Und das kostet Zeit, Geld und Nerven.

Die EU will den Visums-Zwang abschaffen - unter bestimmten Bedingungen. Staaten, die Reisefreiheit für ihre Bürger wollen, müssen zum Beispiel maschinenlesbare Pässe mit biometrischen Passbildern einführen. Sind alle Kriterien erfüllt, dürfen alle Westbalkanier ohne Visum nach Europa. Wohlgemerkt: alle Westbalkanier. Nicht nur die Serben.

Die Gesellschaft für bedrohte Völker hat den Bundesinnenminister scharf angegriffen: Die Balkanpolitik Wolfgang Schäubles sei "prinzipienlos". Hintergrund: Der Minister hatte seinen serbischen Amtskollegen empfangen - und diesem versichert, dass die Bundesregierung eine Aufhebung der Reisebeschränkungen für die Bürger Serbiens unterstützt, wenn Serbien die entsprechenden Kriterien der EU erfüllt.

Die Gesellschaft für bedrohte Völker dagegen meint: Serben sollen weiterhin nicht ohne Visum in die EU reisen dürfen. Denn ihr Staat trage nicht nur die Verantwortung für zehn Jahre Krieg in Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Kosovo - und damit für den Tod von rund 150.000 Menschen. Nein, Serbien weigere sich auch bis heute, den als Hauptkriegsverbrecher gesuchten Ex-Militärchef der bosnischen Serben, Ratko Mladić, an das UN-Kriegsverbrechertribunal auszuliefern.

Diese Kritik am serbischen Staat ist völlig richtig - aber der Visums-Zwang trifft nicht serbische Politiker, Militärs oder Diplomaten. Und schon gar nicht Kriegsverbrecher. Sondern die ganz normale Bevölkerung. Und die ist in ihrer absoluten Mehrheit so sehr Opfer der aggressiven Politik Serbiens, wie die Menschen in Kroatien, Bosnien und Kosovo.

Ist der Gesellschaft für bedrohte Völker entgangen, dass es den serbischen Behörden in zehn Jahren der Kriege nie gelungen ist, mehr als 20 Prozent der Wehrpflichtigen zu mobilisieren? Das aus Serbien fast so viele Menschen geflohen sind, wie aus den Kriegsgebieten - obwohl dort nicht gekämpft wurde? Dass in Serbien hunderttausende Flüchtlinge leben? Dass es während der Balkankriege nirgends größere Anti-Kriegsdemonstrationen gab, als dort?

Mit ihrer Forderung, den Visums-Zwang für Bürger Serbiens aufrecht zu erhalten, ist die Gesellschaft für bedrohte Völker in die Ethno-Falle gegangen. Sie macht eine ganze Bevölkerung kollektiv verantwortlich für die Verbrechen ihrer politischen Führung. Und damit stützt die Menschenrechtsorganisation ein System, das sie doch an sich bekämpfen will.

Die Reisebeschränkungen haben schon bei ihrer Einführung 1991 vor allem dem Regime in Serbien genutzt. Die Bürger wurden eingesperrt - nicht von ihrem Staat, sondern von den Nachbarländern. Das verstärkte ein Gefühl, dass von den Herrschenden - der Clique um Präsident Slobodan Milošević - verbreitet wurde: Alle sind gegen uns.

Auch weil sie nicht reisen durften, konnten sich die Serben kein Bild davon machen, ob denn wirklich alle gegen sie waren - oder gegen ihre Regierung. Der Visums-Zwang hat das Milošević-Regime stabilisiert. Heute stabilisiert er die bestehenden Verhältnisse in Serbien. Die Verhältnisse, die die Gesellschaft für bedrohte Völker anprangert.

Gerade diese Menschenrechtsorganisation müsste seit langem fordern: In Europa muss Reisefreiheit für alle gelten. Auch für Serben.

Rüdiger Rossig ist leitender Redakteur der in Berlin erscheinenden englischsprachigen Monatszeitungen "The Atlantic Times", "The German Times", "The Asia Pacific Times" und "The Africa Times". Sein Buch "Ex-Jugos" über (ex-) jugoslawische Migranten in Deutschland ist kürzlich beim Berliner Archiv der Jugendkulturen erschienen.
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Rüdiger Rossig© Nihad Nino Pušija