In den Händen der Guerilla

Von Julio Segador · 30.10.2012
Immer noch sollen hunderte Kolumbianer in der Hand der FARC sein – Zivilisten, von denen manche schon seit Jahren vermisst werden. Zwar behauptet die Guerilla, dass sie keine Geiseln mehr hätte, doch diese Aussage gilt nicht als glaubwürdig.
Es gibt in Kolumbien nicht wirklich viele, die die laufenden Friedensgespräche zwischen der Regierung und den FARC kritisieren. Die nicht zumindest den Versuch unterstützen, nach fünf Jahrzehnten Hass und Gewalt, nach zigtausend Opfern in Kolumbien einen dauerhaften Frieden zu erreichen. Und doch ist die Skepsis groß. Schuld daran sind Aussagen, wie sie erst kürzlich Ricardo Tellez, allias Rodrigo Granda, bei einer Pressekonferenz in Habana traf. Der FARC-Kommandant wies Behauptungen zurück, die Guerilla hätten immer noch Geiseln in ihrer Hand:

"In Kolumbien entführen die Geheimdienste, die ja zum Staat gehören, es entführen die paramilitärischen Einheiten, ebenso die kriminellen Banden. Und immer wenn jemand entführt wird, schiebt man den FARC die Schuld in die Schuhe. Dahinter stecken Heckenschützen, die den Prozess, der gerade erst beginnt, torpedieren wollen."

Rosalba Venegas dürfte derlei Aussagen als Verhöhnung empfinden. Sie erinnert sich noch genau an jenen Abend im Dezember 1998, als sie ihren Mann, Marco Aurelio Guerra, zum letzten Mal sah. Eine Gruppe vermummter, bewaffneter Männer schlug an die Tür. Der vierfache Vater öffnete, wurde überwältigt und verschleppt. Marco Aurelio Guerra war damals 75 Jahre alt. Er müsste jetzt 89 Jahre alt sein. Er ist bis heute nicht zurückgekehrt:

"14 Jahre ist es jetzt schon her, dass man ihn entführte. Bis heute wissen wir nicht, was mit ihm geschehen ist. Ob er lebt oder tot ist. Wir haben keine Informationen, was aus ihm wurde. Wir bitten die FARC, die ihn entführt haben, dass sie sich mit uns in Verbindung setzen."

Die Entführung von Frauen und Männern aus der Zivilbevölkerung war lange Zeit ein Mittel der Rebellen, ihren Aufstand zu finanzieren. So auch bei Marco Aurelio Guerra. Umgerechnet 13.000 Euro Lösegeld zahlte Rosalba Venegas für ihren Mann, zurückbekommen hat sie ihn von den linksgerichteten Rebellen nie. Sein Schicksal bleibt ungewiss:

"Das ist sehr, sehr traurig. Es ist soviel Zeit vergangenen. Viele Dinge sind geschehen. Andere wurden freigelassen. Aber es scheint, als würden die zivilen Entführungsopfer nicht existieren. Für die anderen Geiseln hat sich der Staat eingesetzt, für die zivilen Opfer dagegen hat er nichts gemacht."

Vor einigen Monaten ließen die FARC nach eigenen Angaben die letzten entführten Soldaten und Polizisten frei. Dass nun die FARC von sich behaupten, keine Geiseln – auch keine Zivilen – mehr in ihrer Gewalt zu haben, verfolgt auch Carlos Marquez mit Kopfschütteln. Sein Sohn Enrique ist seit dem 11. Februar 1999 in der Hand der FARC. Die Rebellen entführten ihn mitten in der Hauptstadt Bogotá, als er in sein Büro gehen wollte. Für Vater Carlos Marquez sind sein Sohn und all die anderen zivilen Entführten Opfer zweiter Klasse. Kaum jemand rede von ihnen, klagt der Rentner, die Regierung lasse nur wenig Engagement erkennen, die Männer und Frauen zu befreien:

"Die zivilen Entführungsopfer bleiben eine sehr große Gruppe. Es ist, als wären sie unsichtbar. Und das, obwohl sie wie die anderen 10, 12 oder sogar 15 Jahre in Gefangenschaft sind. Wir kennen ihre genaue Zahl nicht. Das sind Landarbeiter, Geschäftsleute, LKW-Fahrer, Lehrer, Gewerkschafter."

Wie viele zivile Entführungsopfer es noch gibt, ist völlig unklar. Die Rede ist von bis zu 400. Doch festmachen lässt sich diese Zahl nicht. Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos hat zwar gesagt, dass es eine mögliche Amnestie für die FARC erst nach der Freilassung der letzten Geiseln geben werde, darauf vertrauen wollen die Angehörigen der zivilen Entführungsopfer aber nicht. Die Angst bleibt, dass ein möglicher Frieden auf Kosten ihrer Angehörigen geht. Auch bei Amalia de Marquez, der Mutter von Enrique Marquez:

"Unsere größte Angst und Sorge ist, dass jetzt unsere Kinder vergessen werden. Man tut so, als gäbe es keine Entführten mehr. Aber es gibt in Kolumbien viele Entführungsopfer."
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