In den Fängen einer Sekte

Vorgestellt von Barbara Dobrick |
Um der Lieblosigkeit ihres Elternhauses zu entkommen, wendet sich Martina Schmidt den Zeugen Jehovas zu. Erst als sie sich in einen Mann verliebt, der nicht den Zeugen Jehovas angehört, gelingt ihr die Flucht aus der obskuren Glaubensgemeinschaft. Was sie in die Fänge der Sekte trieb, hat sie nun in ihrem Buch "Ich war eine Zeugin Jehovas" protokolliert.
Martina ist siebzehn. Zum Gymnasium fährt sie mit dem Bus in die zehn Kilometer entfernte Stadt. Der Hof ihrer Familie ist abgelegen. Die älteren Geschwister sind längst aus dem Haus. Der Vater ist krank, die Mutter keine Gesprächspartnerin. Martina ist viel allein. Lieblosigkeit und Kargheit ihres Elternhauses machen sie einsam und unglücklich. Sie flüchtet in das Gefühl moralischer Überlegenheit, um ihren Neid auf vergnügte Gleichaltrige nicht zu spüren.

Eines Abends stehen zwei Zeugen Jehovas vor der Tür. Die Eltern reagieren reserviert, aber bitten sie herein. Die misanthropische Martina lässt sich gefangen nehmen. Die Lehre der Zeugen Jehovas passt gut zu ihrer Befindlichkeit: Das Ende der Welt sei nahe, sagen sie, und dem Untergang entgehe man nur durch Bibelstudium, durch Mission und ein Leben nach rigiden moralischen Regeln.

Wie ein trockener Schwamm nimmt Martina alles auf, was ihr die Zeugen Jehovas bieten. Vor allem ist sie glücklich über die Bekanntschaft mit Ruth, einer 25-Jährigen, die Martina mit dem Auto abholt zu den vielen Treffen der Zeugen Jehovas, und sie zu sich nach Hause einlädt.

"So eine nette Familie hätte ich auch gerne gehabt. Aber sie behandelten mich ja auch so schon, als gehörte ich fast zur Familie."

Martina lebt auf in der Freundschaft mit Ruth, in der Freundlichkeit all der anderen Zeugen Jehovas. Sie hält die Zuwendung für persönlich gemeint, obwohl all ihre Gespräche nie privat sind, sie nur umworben wird als potentielles Mitglied. Martina möchte sein wie ihre neuen Freunde. Mit größtem Eifer liest sie all die Druckerzeugnisse der Wachtturmgesellschaft, nimmt teil an den religiösen Zusammenkünften und nach einer Weile auch an der Missionsarbeit.

"Ich war scharf gemacht wie ein Boxer in der Ecke vom Ring. Scharf wie ein Kampfhund, der nur darauf wartete, losgelassen zu werden."

Mit Ruth geht Martina von Tür zu Tür. Und irgendwann steht sie auch mit Zeitschriften in einer Fußgängerzone. Sie fiebert ihrer Taufe bei den Zeugen Jehovas entgegen und hat Angst, dass sie nicht rechtzeitig vor dem Ende der Welt stattfindet, so dass sie ausgeschlossen wäre aus dem Paradies auf Erden, das für die Zeugen Jehovas dem Untergang folgen soll.

Martinas neuer Glaube bündelt alte Ängste und schürt neue, und er verspricht die Erlösung von aller Angst. Der Preis ist hoch. Er besteht in der vollständigen Selbstaufgabe. Alle freie Zeit wird ausgefüllt durch die Missionsarbeit, über die Rechenschaft abgelegt werden muss, und die vielen Zusammenkünfte. Andersdenkende gelten als Gefahr, die es zu meiden gilt. Sie könnten im Auftrag Satans versuchen, den Glauben zu schwächen. Das gilt auch für Lektüre und Filme, für Bildung generell:

"Nie und nimmer wollte ich Satan eine Chance geben, die Wahrheit in mir ins Wanken zu bringen."
Das geschlossene Denksystem hat fatale Folgen. Martina macht zwar widerwillig Abitur, aber dann entscheidet sie sich gegen ein Studium, denn das ist zu bedrohlich für ihren Glauben, und das einzig Wichtige an einem Beruf ist, dass er ihr möglichst viel Zeit lässt für Missionstätigkeit und Bibellektüre.

Zum Träumen kommt Martina dennoch. Sie wartet auf das Paradies auf Erden, vor allem aber auf Liebe und Nähe. Ihr Denken ist zwar okkupiert, aber ihre Gefühle sind stärker. Sie verliebt sich in einen Mann, der kein Zeuge Jehovas ist. Das holt sie in die Wirklichkeit zurück. Abrupt verlässt sie 1991 die Sekte, die sie zwei Jahre lang in ihren Bann geschlagen hatte.

Martina Schmidt nennt ihre Geschichte mit den Zeugen Jehovas im Untertitel "Protokoll einer Verführung". Es ließe sich darüber streiten, ob sie tatsächlich eine Verführte war oder ob sie nicht genau das gefunden hatte, was ihren Bedürfnissen entsprach, um sich trotz Freud- und Ziellosigkeit aus einem bedrückenden Elternhaus zu lösen und ihre großen Selbstwertprobleme zu lindern. Sie schreibt:

"Was ich brauchte, war Hilfe, jemanden, der mich unterstützte, der mich auch mal in den Arm nahm. Aber da war niemand, niemand! Ich war ganz allein auf dieser Welt. Der Einzige, der mir helfen konnte, war Jehova. ... Er sah meine Not, meine Verzweiflung und all meine Tränen."

Kein seelisch gesunder erwachsener Mensch findet Gefallen an den obskuren Ideen der Zeugen Jehovas, an ihrer Verteufelung der Welt, an der Entpersönlichung und obsessiven Kontrolle ihrer Mitglieder. Wie abseitig all das ist, in welches Unglück es führt, das zeigt das Buch von Martina Schmidt gut. Allerdings braucht man Geduld und Nachsicht beim Lesen: Ihr Text ist unbeholfen und voller Wiederholungen. Martina Schmidt ist das nicht vorzuwerfen. Schreiben ist nicht ihr Beruf. Ein wirkliches Ärgernis ist jedoch, dass im Verlag nicht einmal die gröbsten sprachlichen Schnitzer korrigiert wurden.

Martina Schmidt: Ich war eine Zeugin Jehovas. Protokoll einer Verführung
Gütersloher Verlagshaus; 349 Seiten, 14,95 Euro