In den Fängen des Fjords

Von Tobias Wenzel · 02.10.2011
Mit dem im Jahr 2000 verfilmten Roman "101 Reykjavík" über einen orientierungslosen 30-jährigen Mann wurde Hallgrímur Helgason international bekannt. Sein neues Werk "Eine Frau bei 1000°" hat wieder eine skurrile Hauptfigur: eine bettlägerige, 80 Jahre alte Icherzählerin.
Ein Mann steht am Kai. Er trägt einen schwarzen Mantel und einen grauen Hut und blickt gen Boden. Mit einer Hand stützt er sich auf einen Geräteschuppen. Um Halt zu suchen, aber auch, um sich wieder zu sammeln. Langsam sieht er auf zum Breiðafjörður, zu den meterhohen Wellen, die sich weiter draußen im Fjord wild überschlagen. Diesem tosenden Sturm ist der Mann gerade eben entkommen. Der Mann ist keine Romanfigur, sondern der isländische Autor Hallgrímur Helgason:

"Dieser Breiðafjörður ist in Island berühmt-berüchtigt für starke Böen und Wellen und Probleme in der Schifffahrt. Eggert Ólafsson, der berühmteste isländische Dichter des 18. Jahrhunderts, war ein junger, frisch verheirateter Mann, als er in seinem Boot in eben diesem Fjord in Seenot geriet und starb. Viele Gedichte wurden über diesen dramatischen Tod geschrieben. Und ich rezitierte auf dem Schiff in Gedanken diese Gedichte und dachte: 'Ich bin der Nächste! Oh mein Gott!'"

Wer den schrägen Humor Helgasons aus "101 Reykjavík" und anderen seiner Bücher kennt, könnte das alles für einen üblen Scherz halten. Wenn da nicht das kreidebleiche Gesicht des Autors wäre.

Noch zwei Tage zuvor hatte Hallgrímur Helgason in eben diesem Hafen von Stykkishólmur im Nordwesten Islands fröhlich dasselbe Boot betreten und dann an Deck seinem Gast aus Deutschland die zahlreichen Inseln des Fjords gezeigt:

"Da hinten kann man die Häuser der Insel Flatey erkennen, diese weißen Punkte am Horizont."

Auf einer Insel im Breiðafjörður hat Herbjörg María Björnsson, Hauptfigur und Icherzählerin von Helgasons neuem Roman "Eine Frau bei 1000°", ihre frühe Kindheit verbracht. Im Alter von 80 Jahren lebt die unheilbar kranke Frau in einer Garage in Reykjavík, liegt mit dem Laptop auf dem Schoß im Bett. Diebisches Vergnügen empfindet sie, wenn sie mit gefälschten E-Mails und Facebook-Accounts Familienangehörige und Fremde aufs Glatteis führt. Diese fantastisch wirkende Figur beruht auf einer realen Person, erzählt Autor Helgason:

"Ich unterstützte meine damalige Frau, eine Politikerin, während ihres Wahlkampfs. Ich bekam eine Liste mit Telefonnummern aus Reykjavík und musste diese Menschen anrufen und um ihre Stimme bitten. Darunter war eine alte Frau. Sie erzählte mir, dass sie in einer Garage wohne. Sie sagte: 'Ich wähle doch nicht die Scheiß-Kommunisten!', sprach aber letztlich eine ganze Stunde mit mir. Sie erzählte mir von ihrem Internetanschluss: 'Google ist nichts! Yahoo ist doch eine viel bessere Suchmaschine!'"

Über diese Frau, die Enkelin des ersten isländischen Präsidenten war und deren Vater an der Seite der Nazis gekämpft hatte, musste Helgason einfach einen Roman schreiben. "Eine Frau bei 1000°" ist skurril, an vielen Stellen geradezu wahnwitzig tragikomisch: So ergreift ein treuer Soldat seinen frisch amputierten Arm mit der verbleibenden Hand, um ihn zum verlängerten Hitlergruß in die Luft zu recken. Überall im Roman lauert der Tod, im Krieg ebenso wie in der Garage der Krebskranken:

"Ich selbst denke nicht über den Tod nach, gehe nur mal auf eine Beerdigung. Der Tod hat kaum etwas mit meinem Leben zu tun."

Doch auf dieser Rückfahrt von der Insel Flatey zum Festland rückt der Tod dann eben doch deutlich näher ans Leben heran. Nach zwei turbulenten Stunden auf See steht Hallgrímur Helgason erschöpft am Kai:

"Es war schrecklich. Ich saß neben dem Kapitän. Riesenwellen schlugen gegen das Boot und richteten es fast senkrecht auf. Dann fiel es wieder herunter und krachte gegen die nächsten Wellen und wurde wieder hochgeschleudert. Mein Kopf prallte gegen die Decke und mein Hut kam mir wie ein Schutzhelm vor. Ein großer Kompass fiel von der Decke. Und dann ging der Feueralarm an. Und der Kapitän fragte seinen Mitarbeiter: 'Brennt es im Maschinenraum?' Da dachte ich: Das ist mein Ende. Ich dachte an das Romanmanuskript zu 'Eine Frau bei 1000°', das noch nicht auf Isländisch erschienen ist. Ich dachte, der Roman und ich, wir würden beide untergehen. Vor allem sorgte ich mich um den Roman. Und jetzt bin ich so froh, hier nun wieder festen Boden unter den Füßen zu haben."

Mit dem Autor und dem Roman entkam auch jenes schräge Kapitel dem Tod im Fjord, in dem die 80-jährige Icherzählerin beim Krematoriumsbüro in Reykjavík anruft, um einen Antrag auf ihre eigene Einäscherung - bei möglichst tausend Grad - zu stellen:

"Sie können ihn online ausfüllen und an uns schicken, aber wir bearbeiten ihn eigentlich nicht, bevor ... na ja."
"Bevor?"
"Nun ja, wir bearbeiten ihn nicht, bevor ... na, Sie wissen schon ... also bevor, äh ..., bevor die Leute tot sind, okay?"
"Gut. Wenn es so weit ist, werde ich tot sein. Darauf kannst du dich verlassen."
"So? Hm..."
"Also, wenn's eng wird, komme ich einfach vorbei, und ihr schiebt mich lebend in den Ofen."

Service:
Hallgrímur Helgasons neuer Roman "Eine Frau bei 1000°" ist im Tropen Verlag erschienen. Der Autor ist zurzeit auf Lesereise:

3.10.2011 - Literaturhaus Zürich
4.10.2011 - Literaturhaus Stuttgart
5.10.2011 - Literaturhaus Hamburg
6.10.2011 - Literaturpflaster Bad Berleburg
7.10.2011 - Literaturhaus Köln
8.10.2011 - Literaturhaus Rostock
9.10.2011 - Berlin - Tag der isländischen Literatur
10.10.2011 - Bundeskunsthalle Bonn
11.10.2011 - Messe Frankfurt
12.10.2011 - Messe Frankfurt
13.10.2011 - Literaturhaus München
15.10.2011 - Göttinger Literaturherbst
17.10.2011 - Literaturhaus Schleswig-Holstein Kiel
18.10.2011 - Literaturbüro NRW Düsseldorf
19.10.2011 - Literaturhaus Graz
20.10.2011 - Büchereien Wien
22.10.2011 - Neuer Pfaffenhofener Kunstverein, Pfaffenhofen
23.10.2011 - Isländische Literaturtage 2011 Zofingen
24.10.2011 - Winterthur
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