In beiden Deutschländern zu Hause

Rolf Schneider im Gespräch mit Joachim Scholl · 05.04.2013
Er arbeitete in West- und Ostdeutschland gleichzeitig und schaut auf 50 Jahre kreativen Schaffens zurück: Der Schriftsteller Rolf Schneider hat nun seine Biografie vorgelegt. Im Interview erläutert er, warum sie "Schonzeit" heißt und spricht über sein gespaltenes Verhältnis zur DDR.
Joachim Scholl: Der Schriftsteller Rolf Schneider ist 1932 in Chemnitz geboren, er hat viele Romane, Bühnenstücke, historische Sachbücher und Essays veröffentlicht, in mehr als 20 Sprachen wurde sein Werk übersetzt. Jetzt hat Rolf Schneider eine Autobiografie vorgelegt unter dem Titel "Schonzeiten – ein Leben in Deutschland". Und damit sind in seinem Fall beide deutsche Staaten gemeint, denn über Jahrzehnte lebte und schrieb Rolf Schneider in der DDR, arbeitete – etwa fürs Theater – aber auch im Westen, obwohl er sich dem SED-Regime politisch nie unterworfen hat. Rolf Schneider, willkommen im Deutschlandradio Kultur!

Rolf Schneider: Danke schön!

Scholl: "Schonzeiten" ist ein sehr ungewöhnlicher Titel für eine Autobiografie. Unwillkürlich fragt man sich, wer hier wen schont oder wer oder was hier geschont wurde – Sie selber?

Schneider: Ich wurde geschont, es wurden auch andere geschont, ich habe dieses Wort entnommen - ein Begriff aus den Jagdgesetzen, die bei uns üblich sind. Es gibt Wildtiere, die haben Schonzeiten, in anderen Zeiten dürfen sie gejagt werden, und es gibt Tiere, die das ganze Jahr über gejagt werden dürfen. In dieser Metapher habe sowohl ich mich selbst als auch das Leben in der DDR ganz gut wiedererkannt.

Scholl: Wenn man Sie heutzutage in eine Schulklasse einladen würde, sagen wir mal, Deutsch-Leistungskurs, 12. Klasse, 16- bis 17-jährige Schüler, für die die DDR schon nicht mal mehr Erinnerung sein kann, und dann kommt die Frage: Was waren Sie denn für ein Schriftsteller, Rolf Schneider, damals in jener DDR? Was würden Sie antworten und wie?

Schneider: Ich war ein Schriftsteller wie andere Schriftsteller in anderen Systemen auch, ich habe Bücher geschrieben, ich habe Texte geschrieben, ich musste mich darum kümmern, dass diese Texte veröffentlicht werden, das war nicht so sehr viel anders als irgendwo anders auf der Welt. Die DDR allerdings hatte ein paar Besonderheiten, die schon speziell zu erklären sind. Die DDR, wir wollen nicht drum herum reden, war eine Diktatur, und ich musste mich als Schriftsteller in einer Diktatur umtun und zusehen, dass ich veröffentlicht werden konnte.

Scholl: Sie haben sich aufs historische Feld sozusagen verdünnisiert, um hier Ihre Vorstellung von Literatur, vom Schreiben zu verwirklichen?

Schneider: Unter anderem. Ich habe in der Spätphase der DDR mich dann auch zu dem Staat äußern können, in dem ich damals gelebt habe, also zur DDR, übrigens auch zur Bundesrepublik. Ich war ja dann zehn Jahre lang in beiden Staaten in irgendeiner Form zu Hause. Das Historische bot zwei Möglichkeiten: Erstens, man musste nicht über die aktuellen Zustände der frühen DDR lügen, was sonst das Erfordernis gewesen wäre, und man konnte parabolische Parallelen ziehen, und das habe ich versucht zu tun, und ich glaube, das Publikum war aufmerksam genug, das auch zu verstehen.

Scholl: Sie haben sich als junger Mann zum Sozialismus bekannt wie so viele Schriftsteller und Intellektuelle, die nach 1945 hier die gute Idee nach Faschismus und totalitärer Diktatur sahen, die Hoffnung auf ein besseres, humaneres Gesellschaftsmodell. Wodurch verflog bei Ihnen diese Hoffnung?

Schneider: Sie verflog sozusagen scheibchenweise, um dann immer wieder sich zu regenerieren. Das erste Schockerlebnis war der 17. Juni 1953, den ich als Student miterlebt habe, wo ich einen Volksaufstand erlebt habe und nicht die Konterrevolution, wie es dann in den Zeitungen stand.

Das Zweite war 1956 der Untergang der ungarischen Reformregierung von Imre Nagy und der gleichzeitig stattfindende Aufstand von Intellektuellen im "Aufbau"-Verlag, wo ich damals beschäftigt war, und ich habe an diesem Aufstand sozusagen verbal ein bisschen mitgewirkt. Das Niederschlagen dieser Reformbewegungen sowohl in der DDR als auch in Ungarn war die zweite große Enttäuschung, die dritte war der Mauerbau, wenn Sie so wollen, und die vierte, spätestens, war das Ende des Prager Frühlings.

Scholl: Der entscheidende Bruch in der DDR-Literatur, ja, der gesamten Kultur, muss man sagen, war die Ausbürgerung von Wolf Biermann 1976, da teilte sich das Meer gewissermaßen. Sie, Rolf Schneider, gehörten zu den Unterzeichnern der Protesterklärung, war dann eigentlich die Schonzeit vorbei für Sie?

Schneider: Sie war es und sie war es nicht. Denn andere, die Ähnliches getan und Ähnliches vertreten hatten wie ich, sind im Knast gelandet. Ich wurde ausgestattet mit einer luxuriösen Sonderkondition, ich durfte also als Arbeitnehmer in die Bundesrepublik ausreisen, und das habe ich auch getan. Es war eine Schonzeit anderer Art, sicher.

Scholl: Der Schriftsteller Rolf Schneider hat seine Autobiografie veröffentlicht und ist zu Gast hier im Deutschlandradio Kultur. Sie haben dann ab den späten 70er-Jahren nur noch im Westen publizieren können, dort aber eben auch als Theaterregisseur gearbeitet. Man fragt sich, warum sind Sie nicht einfach geblieben, umgesiedelt?

Schneider: Diese Frage ist mir oft gestellt worden, und ich habe auch versucht, sie in meiner Autobiografie zu beantworten. Es gab mehrere Gründe, der erste war die Tatsache, dass meine alte Mutter damals noch in der DDR lebte. Wäre ich mit meiner Familie endgültig in den Westen emigriert, hätte das bedeutet, drei Jahre nicht zurückkommen zu können, das hätte für meine Mutter sicher den Tod bedeutet.

Das Zweite war, dass ich doch irgendwo ein trotziges Liebesverhältnis zu den Zuständen hier hatte – nicht zu dem politischen System, aber zu den Menschen, die hier lebten, zu den Nachbarn, die ich hatte.

Und das Dritte war auch ein weiterer Trotz, ich wollte mir durch die Obrigkeit, durch diese Gangster, nicht vorschreiben lassen, wo ich meinen Wohnsitz hatte.

Scholl: Wenn man Ihre Autobiografie liest und dann die vielen konspirativen Treffen, die vielen Aufsätze, die Kontakte mit den Westmedien, die ganze Zeit auch eine permanente Überwachung ab einem gewissen Zeitpunkt durch die Stasi, fragt man sich trotzdem, warum ist dieser Rolf Schneider eigentlich nie von denen eingebuchtet worden. Haben Sie sich das nicht auch oft gefragt?

Schneider: Ich bin mehrfach sozusagen auf der Kandidatenliste gestanden. Das letzte Mal im Jahre 1989 übrigens, da habe ich mich eingesetzt für ein denkmalgeschütztes Gebäude in meiner Heimatstadt Wernigerode, das sollte vom Bürgermeister gesprengt werden, um einem Sporthotel Platz zu machen, da habe ich einen großen Protest in mehreren westdeutschen Medien, übrigens auch in diesem Sender hier, wo wir jetzt sitzen, gemacht. Die Sprengung ist unterblieben und der Bürgermeister wollte, dass ich eingebuchtet würde. Es ist dann die Wende dazwischen gekommen, sowohl über das Einbuchten als auch über die Sprengung, das Gebäude steht heute noch. Auf diese Tat bin ich ein bisschen stolz.

Scholl: Sie könnten durch Ihre Erfahrung ja sehr gut in beiderlei Haut schlüpfen, in die westdeutsche wie die ostdeutsche, die Verhältnisse sozusagen ja in doppelter Optik wahrnehmen. Sie haben es in den 90er-Jahren vielfältig publizistisch getan, dabei ging Ihnen die westdeutsche Selbstgefälligkeit ebenso stark auf die Nerven wie die ja schnell keimende Ostalgie. Wie fühlten Sie sich eigentlich selber in jenem neuen Deutschland dann nach 1989 – als Verlierer oder als Gewinner?

Schneider: Sicher nicht als Verlierer. Ob ich Gewinner bin, weiß ich nicht, jedenfalls habe ich mich sehr wohlgefühlt über die Tatsache, dass diese Grenze gefallen ist, dass ich sie nicht ständig passieren musste, dass ich in Deutschland umherreisen konnte, in Europa überhaupt umherreisen konnte, ohne Visum, ohne politische Grenzwechsel. Das war alles sehr angenehm, die Zustände sind für mich sehr viel entspannter geworden, sehr viel leichter geworden. Aber wenn Sie das so wollen, auch ein ganz klein bisschen langweiliger.

Scholl: Rolf Schneider, in der nächsten Woche werden Sie 81 Jahre alt und können dann auf eine Autorschaft von über 50 Jahren zurückblicken, ein halbes Jahrhundert. Wie würden Sie denn die letzten 20 persönlich bilanzieren, jetzt nicht mehr als deutsch-deutscher Schriftsteller, sondern nur noch als ein deutscher Schriftsteller?

Schneider: Für mich persönlich waren es produktive Jahre, auf die ich gern zurückblicke, für mich als Staatsbürger waren es gemischte Jahre, ich fand, dass die deutsche Wiedervereinigung und alles, was nach dem eigentlichen Staatsakt stattgefunden hat, möglicherweise hätte besser verlaufen können, wenn es besser vorbereitet, besser verhandelt worden wäre. Vergleicht man es mit anderen Staaten in unserer unmittelbaren östlichen Nachbarschaft, ist es uns eigentlich verdammt gut gegangen. Ich betrachte die deutsche Wiedervereinigung und die heutigen Zustände in der Bundesrepublik alles in allem doch als einen Glücksfall.

Scholl: Das letzte Kapitel Ihres Buches spielt im Fernen Osten – Mitte der 90er-Jahre sind Sie nach Hongkong gereist, kurz bevor die Kronkolonie an China zurückgegeben wurde, Sie waren in Macao, in Kanton, auch um zu sehen, wenn ich das jetzt richtig interpretiert habe, was von diesem chinesischen Sozialismus alter Prägung eigentlich noch übrig ist, wie er sich verwandelt hat, und ja, da reflektieren Sie noch einmal über die Utopie vor den Glitzerfassaden von Hongkong. Zurzeit haben wir ja eine intensive Diskussion über die Verwerfungen des Kapitalismus. Würde sich denn ein reformierter, moderner Sozialismus doch wieder lohnen?

Schneider: Ich würde ihn mir dringend wünschen, wenn ich wüsste, dass er funktioniert. Ich kenne kein Beispiel, dass er funktioniert, das ist das Tragische.

Scholl: Was war das für eine Erfahrung, da im Fernen Osten dann wieder auf Deutschland zu blicken?

Schneider: Es war vielfältig – erstens hatte ich sozusagen eine Art von ferner Liebesbeziehung zu Volkschina, weil ich als ganz junger Mensch mal Mao-Tse-tung-Gedichte ins Deutsche übertragen hatte, dann habe ich in der Zeit, als ich sozusagen Displaced Person in der DDR war, als einzige Botschaft, die ich immer betreten konnte, weil ich immer eingeladen wurde, immer nur die der Volksrepublik China zu ihrem jeweiligen Nationalfeiertag. Ich habe gelegentlich chinesische Diplomaten erlebt in der DDR. Das war alles sehr merkwürdig und auch sehr spannend.

Dort bin ich vor allen Dingen gewesen, weil ich sehen wollte, wie ist es, wenn sozusagen das Umgekehrte dessen passiert, das in der DDR stattgefunden hat, wenn also ein Stück Kapitalismus in den Realsozialismus überwechseln muss. Wie wir inzwischen wissen – das war 95 – ist es sozusagen eine Bewegung von beiden Seiten aufeinander zu mit deutlichem Übergewicht kapitalistischer Zustände.

Sie können sehr verlockend sein, sie sind offensichtlich sehr produktiv, sie bringen sehr viel Unrecht und Ungerechtigkeit, aber das wissen wir, seit es Kapitalismus gibt, man braucht nur Karl Marx aufzuschlagen und da nachzulesen: Die theoretische Begründung für eine gründliche Alternative sind überall in den Schriften der marxistischen Klassiker nachlesbar, wo alle Versuche der Verwirklichung bis hin zu den Kibbuzim in Israel sind fürchterlich gescheitert.

Scholl: "Schonzeiten – ein Leben in Deutschland", so heißt Rolf Schneiders Biografie, jetzt im be.bra Verlag erschienen. Rolf Schneider, alles Gute für Sie und herzlichen Dank für Ihren Besuch und das Gespräch!

Schneider: Ich war gerne hier, danke!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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