In Barcelonas dunkelsten Ecken
In seinem Roman "Der Rand" begibt sich der französische Autor André Pieyre de Mandiargues auf eine Reise ins Barcelona der Franco-Zeit - mitten in verrufene Rotlichtviertel, zwielichtige Kaschemmen und verschwitzte Varietés. Die Unterwelt erscheint als höllisches Spektakel.
Barcelona in den 60er-Jahren, Sigismond erwacht aus seiner Siesta, ein Sonnabend im April, fünf Uhr nachmittags. Er wurde von seinem Vetter Antonin, einem Süßweinvertreter, auf die Reise geschickt. Sigismond soll also den Vertreter vertreten. Und Antonin hat ihm die katalanische Metropole in den verführerischsten Farben geschildert, besonders das verrufene Rotlichtviertel Barrio Chino westlich der Ramblas.
Doch Sigismond ist kein Draufgänger, eher ein träumender, gewissenhafter Melancholiker, der den Tod als Begleiter hat - und lauter Phantome: neben Antonin noch seine Gattin Sergine und seinen Vater Gédéon, einen Schuldirektor und Päderasten. Schon am Anfang erfährt er durch den letzten Satz eines postlagernden Briefs, dass sich Sergine offenbar das Leben genommen hat. Um den Brief ganz zu lesen, gibt er sich bis Montag Zeit, bis dahin lässt er sich durch den Sündenpfuhl der Großstadt treiben.
Es ist ein surrealistischer Topos, dass auf der Straße die Begegnung mit dem ganz "Anderen" möglich wird, also badet er in der urinduftgesättigten Luft der Hausecken, im "Reservat der Nutten, im Land der grünen Rasse". Hier haben alle eine grünlich schimmernde Haut - von kranken Lebern, vom öligen Dreck, vom Licht der Neonröhren?
Obwohl in der dritten Person geschrieben, wirkt "Der Rand" wie eine radikale Ich-Erzählung, eine maßlose Mischung aus mal narzisstischer, mal weinerlicher Selbstbetrachtung und staunender Beobachtung. Sie ist getrieben von einem sexualisierten Verhältnis zum Denken, von einer Sinnlichkeit, die alles verschlingen will, der aber vieles verwehrt bleibt, weil die Stimmen im Kopf sie daran hindern. Der manische Schreibprozess selbst ist die Erotik. Nur so ist auch der farbberauschte, dekorverrückte Stil zu verstehen, manche Passagen wirken wie pompös-hysterische Versace-Interieurs.
Der einsame Sigismond kostet von einem verzweifelten "Glück, sich fremd zu fühlen", wie in einer "Blase" geht er durch diese Unterwelt, die er als höllisches Spektakel erlebt, als Vorzimmer zum Jenseits, als "Rand", als Grenze zwischen Leben und Tod. Sein Nachname lautet übrigens Pons, "Brücke" auf Latein. Er klappert zwielichtige Kaschemmen ab und verschwitzte Varietés mit verdackelten Tunten und geschminkten Knaben. Der einzige Engel - aber ist das nicht auch ein Wesen des Jenseits? - ist die junge "mexikanisch-arabische" Hure Juanita, mit der er dreimal aufs Zimmer geht.
Doch kann sie ihn retten? Und vor allem: Ist das die Wirklichkeit, die er erlebt? Oder ist es ein Traum, den er immer schon träumen wollte? Und ist er dann Schöpfer oder Betrachter seines Traums? Doch wie heißt es in einem Kriminalroman von Andreu Martin, der 20 Jahre nach Pieyre de Mandiargues ähnliche Halluzinationen des barcelonischen Wahnsinns entwirft: "Was du dir vorstellen kannst, existiert auch."
Besprochen von Peter Urban-Halle
André Pieyre de Mandiargues: Der Rand
Aus dem Französischen von Rainer G. Schmidt
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2012
286 Seiten, 24,90 Euro
Doch Sigismond ist kein Draufgänger, eher ein träumender, gewissenhafter Melancholiker, der den Tod als Begleiter hat - und lauter Phantome: neben Antonin noch seine Gattin Sergine und seinen Vater Gédéon, einen Schuldirektor und Päderasten. Schon am Anfang erfährt er durch den letzten Satz eines postlagernden Briefs, dass sich Sergine offenbar das Leben genommen hat. Um den Brief ganz zu lesen, gibt er sich bis Montag Zeit, bis dahin lässt er sich durch den Sündenpfuhl der Großstadt treiben.
Es ist ein surrealistischer Topos, dass auf der Straße die Begegnung mit dem ganz "Anderen" möglich wird, also badet er in der urinduftgesättigten Luft der Hausecken, im "Reservat der Nutten, im Land der grünen Rasse". Hier haben alle eine grünlich schimmernde Haut - von kranken Lebern, vom öligen Dreck, vom Licht der Neonröhren?
Obwohl in der dritten Person geschrieben, wirkt "Der Rand" wie eine radikale Ich-Erzählung, eine maßlose Mischung aus mal narzisstischer, mal weinerlicher Selbstbetrachtung und staunender Beobachtung. Sie ist getrieben von einem sexualisierten Verhältnis zum Denken, von einer Sinnlichkeit, die alles verschlingen will, der aber vieles verwehrt bleibt, weil die Stimmen im Kopf sie daran hindern. Der manische Schreibprozess selbst ist die Erotik. Nur so ist auch der farbberauschte, dekorverrückte Stil zu verstehen, manche Passagen wirken wie pompös-hysterische Versace-Interieurs.
Der einsame Sigismond kostet von einem verzweifelten "Glück, sich fremd zu fühlen", wie in einer "Blase" geht er durch diese Unterwelt, die er als höllisches Spektakel erlebt, als Vorzimmer zum Jenseits, als "Rand", als Grenze zwischen Leben und Tod. Sein Nachname lautet übrigens Pons, "Brücke" auf Latein. Er klappert zwielichtige Kaschemmen ab und verschwitzte Varietés mit verdackelten Tunten und geschminkten Knaben. Der einzige Engel - aber ist das nicht auch ein Wesen des Jenseits? - ist die junge "mexikanisch-arabische" Hure Juanita, mit der er dreimal aufs Zimmer geht.
Doch kann sie ihn retten? Und vor allem: Ist das die Wirklichkeit, die er erlebt? Oder ist es ein Traum, den er immer schon träumen wollte? Und ist er dann Schöpfer oder Betrachter seines Traums? Doch wie heißt es in einem Kriminalroman von Andreu Martin, der 20 Jahre nach Pieyre de Mandiargues ähnliche Halluzinationen des barcelonischen Wahnsinns entwirft: "Was du dir vorstellen kannst, existiert auch."
Besprochen von Peter Urban-Halle
André Pieyre de Mandiargues: Der Rand
Aus dem Französischen von Rainer G. Schmidt
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2012
286 Seiten, 24,90 Euro