Imre Kertész: "Der Betrachter"

Erinnerungen zwischen Galeere und Ruhm

Buchcover: Imre Kertész' "Der Betrachter". Im Hintergrund: Budapest im Mai 1991.
Buchcover: Imre Kertész' "Der Betrachter". Im Hintergrund: Budapest im Mai 1991. © Rowohlt / imago/teutopress
Von Jörg Plath · 09.02.2017
Imre Kertész' Notizen aus den 1990er-Jahren schließen die Lücke zwischen dem "Galeerentagebuch" aus dem ungarischen Sozialismus und der posthum erschienenen "Letzten Einkehr" mit Einträgen aus den Jahren des Ruhms von 2001 bis 2009. Der Literaturnobelpreisträger wird berühmt - und sich fremd.
Große Künstler wie Tolstoi oder van Gogh, hält Imre Kertész in einer Notiz dieses Tagebuchs fest, hätten immer in einer großen Krise gelebt und aus ihr geschaffen. Ihr Ende aber sei schmählich gewesen: Sie "starben so, wie es sein musste, wie ausgelieferte, sich an einen geheimen Ort zurückziehende Tiere". Dreieinhalb Jahre vor seinem Tod 2016 zog der an Parkinson erkrankte und der Pflege bedürftige Kertész aus Berlin, seiner Wahlheimat, nach Budapest zurück. In der ungarischen Hauptstadt war er missachtet und als Jude beschimpft worden. Von seiner Überzeugung, die Gegenwart stehe im Zeichen von Auschwitz, wollte man in Ungarn nichts wissen. Doch hier suchte Kertész seinen Tod.
"Der Betrachter. Aufzeichnungen 1991–2001" schließt die Lücke zwischen dem "Galeerentagebuch" aus dem ungarischen Sozialismus und der "Letzten Einkehr" mit Einträgen aus den Jahren des Ruhms von 2001 bis 2009. Kertész, der als 14-Jähriger nach Auschwitz deportiert wurde und 2002 den Nobelpreis für Literatur erhielt, kann endlich reisen, wird dank der zweiten Übersetzung des "Romans eines Schicksallosen" ins Deutsche berühmt und findet nach dem Tod seiner Ehefrau Albina neues Glück mit Magda. "Chronik als Selbstprüfung" lauten die ersten Worte des Tagebuchs.

Mit "ungezügelter Gier nach Erfolg und Anerkennung"

Denn die Eindeutigkeit des Lebens im Geheimen geht in diesen Jahren verloren. Imre Kertész hält Reden, gibt Interviews und verfasst Essays zu seinem Werk und zur Bedeutung von Auschwitz: "Der Holocaust als Kultur". Er tut all das mit "ungezügelter Gier nach Erfolg und Anerkennung". Und weiß zugleich: "Ich stoße nie zu meiner eigenen Radikalität, meiner radikalen Wahrheit vor." Die öffentliche Sprache entfernt ihn von sich und seiner Kunst, die sich dem Leid, der Einsamkeit, der Depression verdankt.
Doch Kertész macht weiter. Er will seine Existenz in allen Aspekten annehmen. In stark bearbeiteten Notaten meist ohne Datum denkt er wie schon im "Galeerentagebuch" und in "Ich ein anderer" mit Wittgenstein und Kafka über Identität, Individualität, Gott, Juden- und Christentum, Philosophie und Ungarn nach. Politisch ist er ein Konservativer, der vor dem Islam warnt, kulturell sieht er einen unvorstellbaren Niedergang der totalitären Gegenwart. Zweifel an Gott, weil der in Auschwitz nicht geholfen habe, nennt er kindisch. Der religiöse Religionslose sieht Gott als Tatsache, die aus dem menschlichen "Bedürfnis nach Ausdruck" erstehe. Literatur ist für Kertész wie für Kafka, Beckett oder Bernhard eine "durch Kultur vermittelte Kommunikation zwischen dem Menschen und Gott, die völlig und restlos verschwunden ist".
Gegen Ende des Tagebuchs nehmen Krisen und Depressionen zu, Kertész deutet sie diskret an. "Ich lebe nicht mehr in der Wahrheit", klagt er. Doch es gelingen ihm weiter Werke, die die "gutsituierte Mittelmäßigkeit" hinter sich lassen. Die Aufzeichnungen vermitteln zwischen beidem und zeigen Kertész als letzten modernen Künstler, der Existenz, Ethik und Ästhetik zusammendenkt.

Imre Kertész, Der Betrachter. Aufzeichnungen 1991-2001
Aus dem Ungarischen von Heike Flemming und Lacy Kornitzer, Rowohlt Verlag, Hamburg 2016, 253 Seiten, 19,95 Euro

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