Impfskepsis und Impfkampagnen

Das Gesundheitssystem hat Vertrauen verspielt

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Hinter einem Fenster der Berliner S-Bahn leuchtet das Wort "Impfzug" auf, in der Spiegelung ist ein halb leerer Bahnsteig zu sehen.
Impfzug der Berliner S-Bahn: Um Skeptiker zu erreichen, müssen die Impfkampagnen neue Formen der Kommunikation entwickeln, meint die Philosophin Sibylle Anderl. © AFP / Tobias Schwarz
Ein Kommentar von Sibylle Anderl · 19.09.2021
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Über die Hälfte der Ungeimpften lehnt eine Impfung ab. Infokampagnen sollen sie überzeugen. Sibylle Anderl sieht das Problem jedoch nicht nur in mangelnden Informationen, sondern auch im Gesundheitssystem selbst.
Die regelmäßig durchgeführte Cosmo-Umfrage der Universität Erfurt ergab aktuell, dass nur 56 Prozent der ungeimpften Befragten eine Impfung tatsächlich ablehnen. Der Rest ist unentschlossen oder sogar grundsätzlich bereit, sich impfen zu lassen.
Das klingt erst mal vielversprechend. Das RKI hat allerdings jüngst darauf hingewiesen, dass eine hohe Impfbereitschaft nicht zwangsläufig zu Impfverhalten führe.
Was aber könnte die Unentschlossenen davon abhalten, sich impfen zu lassen?

Erkenntnistheoretische Parallelwelt

Die naheliegendste Idee: Es fehlen Informationen. Viele mögen noch unsicher sein über mögliche Nebenwirkungen, die Wirksamkeit der Impfung oder Eigenschaften der verschiedenen Impfstoffe.
Sofern das tatsächlich das Problem ist, ist Abhilfe in Vorbereitung. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat in dieser Woche angekündigt, den Öffentlichen Gesundheitsdienst mit einem umfangreichen digitalen Infopaket zu unterstützen. Damit sollen auch Menschen mit Migrationshintergrund und mit niedrigem Bildungshintergrund erreicht werden.
Das ist sicher sinnvoll und wichtig, und kann in der Gruppe der Unsicheren hoffentlich viele Zweifel ausräumen.
Der Philosoph Mark Navin von der Oakland University hat allerdings schon 2013 darauf hingewiesen, dass mit Informationskampagnen zumindest echte Impfgegner nicht überzeugt werden können, weil sie sich in einer erkenntnistheoretischen Parallelwelt bewegen: Sie hängen oft einem Relativismus an, der sich an weltanschaulichen Motivationen statt an empirischen Belegen orientiert.
Sie versuchen Argumenten aus dem Weg zu gehen, die ihre eigenen Überzeugungen in Frage stellen, und sie wehren sich dagegen, Unterschiede in Expertise und Kompetenz anzuerkennen.
Diskussionen zwischen Experten und Impfgegnern fehle damit eine gemeinsame Wertgrundlage: Sie haben grundsätzlich verschiedene Vorstellungen davon, wie begründetes Wissen zu generieren ist.

Autoritärer Kommunikationsstil

Gleichzeitig betont Navin: Dass viele Menschen zögern, sich impfen zu lassen, liege oft gar nicht an deren Irrationalität oder Unkenntnis, sondern habe strukturelle Gründe. Zwischen Teilen der Öffentlichkeit und Vertretern des Gesundheitssystems gebe es ein Vertrauensproblem.
Navin führt als einen Grund dafür einen traditionell unnötig autoritären Kommunikationsstil von medizinischen Fachkräften an, der in Kontrast zu den demokratischen Kommunikationsstrukturen in Kreisen von Impfskeptikern stehe.
Die Philosophin und Astrophysikerin Sibylle Anderl.
Der Ton macht die Musik: Viele Menschen fühlten sich von Vertretern des Gesundheitssystems zu wenig verstanden und respektiert, sagt die Philosophin Sibylle Anderl.© Ralph Anderl
Insbesondere Frauen würden das Gefühl gut kennen, mit ihren Sorgen und Bedürfnissen bei Ärzten nicht ernst genommen zu werden. Sie seien daher besonders gefährdet, Skepsis gegenüber ärztlichen Weisungen zu entwickeln.
Ähnliches gelte für andere Bevölkerungsgruppen, die sich im Gesundheitssystem nicht genügend repräsentiert und verstanden fühlten.

Zeitnot und wirtschaftlicher Druck

Nimmt man diese Analysen ernst, liegt das Problem also nicht nur auf Seiten derjenigen, die sich von bewährten Praktiken des Wissenserwerbs abwenden, sondern auch auf der Seite des Gesundheitssystems: Medizinische Betreuung unter Zeitnot und wirtschaftlichem Druck hat bei nicht wenigen Menschen einiges Vertrauen verspielt.
Daran strukturell etwas zu ändern, würde freilich zu lange dauern, um unser akutes Impfproblem zu lösen. Zumindest die Impfkampagne sollte sich diese Einsicht aber zu Herzen nehmen und jeden Anklang autoritärer Kommunikation möglichst vermeiden.

Sibylle Anderl, geboren 1981, ist Philosophin, promovierte Astrophysikerin und arbeitet als Wissenschaftsredakteurin im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Zuletzt erschien "Das Universum und ich. Die Philosophie der Astrophysik" (Carl Hanser Verlag, 2017, 256 Seiten, 22 Euro).

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