Immunitätsaufhebung in der Türkei

"Putsch Erdogans"

Sie sehen den Parlamentssaal in der türkischen Hauptstadt Ankara, viele Abgeordnete reden dort miteinander.
Das türkische Parlament hat über die Immunität zahlreicher Abgeordneter abgestimmt © AFP / Adem Altan
Sevim Dagdelen im Gespräch mit Julius Stucke · 21.05.2016
Das türkische Parlament hat auf Betreiben von Staatschef Erdogan die Immunität von 138 Abgeordneten aufgehoben. Das trifft vor allem die Volksvertreter der Links- und Kurdenpartei HDP. Die Linkenpolitikerin Sevim Dagdelen sieht die Türkei auf dem Weg in eine faschistische Diktatur.
Das türkische Parlament hat auf Betreiben von Präsident Recep Tayyip Erdogan Schutzrechte von mehr als einem Viertel der Abgeordneten aufgehoben. Damit wird deren Strafverfolgung ermöglicht. Dies richtet sich vor allem gegen die Abgeordneten der Links- und Kurdenpartei HDP. Hintergrund der Entscheidung ist nach Meinung von Kritikern die von Erdogan angestrebte Verfassungsänderung, Dafür fehlte bislang die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament. Erdogans islamisch konservative AKP hoffe nun auf freiwerdende Sitze der prokurdischen HDP, um dann das auf Erdogan zugeschnittenes Präsidialsystem mit erweiterten Machtbefugnissen umzusetzen und damit die Türkei von einer parlamentarischen Demokratie in ein Präsidialsystem umzuwandeln.
Die Linken-Abgeordnete im Bundestag, Sevim Dagdelen, hat die Aufhebung der Immunität von zahlreichen Abgeordneten des türkischen Parlaments als Putsch Erdogans und weiteren Schritt in Richtung einer Diktatur gewertet.
"Mit dieser Ermächtigung ist die Türkei auf dem Weg in eine faschistische Diktatur, in der Islamisten und Ultra-Nationalisten den Ton angeben", sagte die Außenpolitikerin im Deutschlandradio Kultur über die Entscheidung, die strafrechtliche Ermittlungen gegen 138 Parlamentarier ermöglicht und insbesondere die Volksvertreter der Links- und Kurdenpartei HDP trifft.

"Putsch Erdogans"

Präsident Recep Tayyip Erdogan habe bei zwei Wahlen in der Bevölkerung explizit keine Mehrheit für sein Ziel eines Präsidialsystem gewinnen können. Daher müsse man angesichts dieser Maßnahme jetzt "schon natürlich von einem Putsch sprechen", erklärte Dagdelen, insbesondere da bei der Abstimmung auch enormer Druck von Seiten Erdogans islamisch-konservativer AKP im Parlament ausgeübt worden sei. Erdogan folge damit weiter seinen Plan einer islamisierten Türkei, sagte die Sprecherin für Internationale Beziehungen der Fraktion "Die Linke" im Deutschen Bundestag und Mitglied im Auswärtigen Ausschuss.

Merkel darf sich nicht zum Komplizen machen

Scharfe Kritik übte Dagdelen auch an der EU und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Allzulange habe der repressive Kurs Erdogans keine Konsequenzen gehabt. Millionen Menschen in der Türkei, die im Zuge der Gezi-Park-Bewegung 2013 protestiert hätten, fühlten sich von Europa im Stich gelassen. "Jeder Rückschritt in Sachen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit wurde (…) belohnt". Erdogan fühle sich dadurch bestärkt und interpretiere dies als Bestätigung seiner Politik. Dagdelen forderte Merkel auf, bei ihrem Besuch in der Türkei jetzt das Gespräch mit Vertretern der verfolgten Opposition zu suchen, unter anderem mit dem Co-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtas. "Wenn nicht, versagt sie auf voller Linie. Das wäre dann die völlige Unterwerfung unter Erdogan. Und so macht man sich dann natürlich endgültig zum Komplizen von Erdogan," so Dagdelen.

Das Interview im Wortlaut:
Julius Stucke: Wenn das Wahlergebnis nicht passt, wird noch mal gewählt, und wenn immer noch zu viele ungeliebte Parlamentsabgeordnete ins Parlament einziehen, dann entzieht man ihnen die Immunität und kann sie dann vor Gericht, also aus der Politik herausbringen. So einfach, so klar, willkommen in der Welt des Recep Tayyip Erdogan! Wobei, so stimmt es nicht, es ist nicht nur seine Welt. Denn bei der Abstimmung im türkischen Parlament stimmten deutlich mehr Abgeordnete, als die AKP im Parlament zu sitzen hat, für die Regierungspläne dafür, 138 Abgeordneten die Immunität zu entziehen, dafür stimmten mehr als zwei Drittel der Abgeordneten. Das betrifft dann Abgeordnete aller Parteien, aber vor allem könnte es das Aus bedeuten für die prokurdische HDP im Parlament, wenn man diese dann vor Gericht bringt. Der türkische Präsident selber, der begründet das Ganze so:
O-Ton Recep Tayyip Erdogan: Mein Volk braucht keine schuldigen Abgeordneten im Parlament. Vor allem will es dort jene nicht haben, die die separatistische Terrorgruppe unterstützen.
Stucke: Auf welchen Weg führt er seine Türkei und sein Volk damit? Dazu fragen wir Sevim Dagdelen, sie sitzt für die Partei Die Linke im Deutschen Bundestag, ist Mitglied des Auswärtigen Ausschusses, schönen guten Morgen!
Sevim Dagdelen: Ja, schönen guten Morgen, Herr Stucke!
Stucke: Frau Dagdelen, ist Ihrer Ansicht nach die Türkei auf dem Weg in die Diktatur oder eigentlich seit gestern schon angekommen?

"Schon seit langem auf dem Weg in eine islamistische Diktatur"

Dagdelen: Nein, die Türkei ist mit großen Schritten unter der Regierung von Präsident Erdogan – also De-facto-Regierung, sagen wir es mal so – schon seit Langem auf dem Weg in eine islamistische Diktatur. Und mit dieser Ermächtigung von gestern ist es ganz klar auch auf dem Weg in eine faschistische Diktatur, in der Islamisten und Ultranationalisten den Ton angeben.
Stucke: Das sind harte Worte. Nun würde Ihnen der Präsident vermutlich antworten: Ich bin aber doch gewählt, vom Volk! Viele Türken unterstützen seine Linie ja durchaus und viele gehen da mit ihm und vermuten hinter der HDP das, was er ihr vorwirft, nämlich Terror. Ist es also vielleicht gar nicht so sehr das Problem dieses einen an der Spitze, sondern das Problem von vielen, die so denken?
Dagdelen: Natürlich, das ist ja auch Ausdruck der Abstimmung gestern in der Nationalversammlung. Hätten Stimmen, gewichtige, viele Stimmen aus der sozialdemokratischen Partei nicht gegeben, hätte es diese Ermächtigung und Entmachtung des Parlaments nicht gegeben und auch die Strafverfolgung sozusagen oder das Vogelfrei-Erklären von kurdischen Abgeordneten. Aber allerdings muss ich da hinzufügen, dass zwar Staatspräsident Erdogan gewählt ist, aber bei zwei Parlamentswahlen, im Juni letzten Jahres und auch im November letzten Jahres, in der Wiederholungswahl, die er angesetzt hat, weil ihm das Ergebnis im Juni nicht gepasst hat, wo die kurdische Partei eben eingezogen ist, über die undemokratische Zehn-Prozent-Hürde kam und seine Pläne zunichte gemacht hat, eben eine Präsidialdiktatur einzurichten, ein Präsidialsystem, eine Verfassungsänderung, diesen Wunsch hat die Bevölkerung ihm zweimal nicht erfüllt. Insofern ist das natürlich auch ein bisschen ein Putsch, auf Druck von ihm entstanden, viele Abgeordnete haben bei der geheimen, eigentlich geheimen Abstimmung gestern offen abgestimmt, weil es einen enormen Druck gegeben hat bei den AKP-Abgeordneten. Und insofern muss man sagen: er ist zwar gewählt worden, aber dieser Weg wurde explizit von der Bevölkerung zweimal nicht gewählt. Und insofern muss man schon natürlich von einem Putsch sprechen.
Stucke: Aber Sie sagen es ja auch, es sind eben sogar Abgeordnete anderer Parteien mitgegangen gestern. Warum ist die Türkei an diesen Punkt gekommen, an dem man so gespalten, so zerrissen ist, dass man sich freiwillig dahin drücken lässt, obwohl man eigentlich doch ganz anderer Meinung sein sollte?

"Die Zivilgesellschaft ist total eingeschüchtert"

Dagdelen: Es gibt eine unheimliche Polarisierung: Bist du nicht für unseren Kurs, bist du für Terrorismus. Es gibt … Alles, was anders denkend ist, alles, was kritisch ist, wird als terroristisch abgestempelt. Deshalb ist es ja auch beispielsweise nicht nur so, dass es in der Kurdenfeindlichkeit eine Einigung gibt zwischen den Sozialdemokraten, den Ultranationalisten, der MHP, und eben auch den Islamisten der AKP, was sich gestern in der Abstimmung niedergeschlagen hat. Es ist auch so, dass die Zivilgesellschaft total eingeschüchtert ist: Wer sich kritisch äußert, dessen Leben wird kaputt gemacht, mit Verfahren überzogen. Es gab 2.000 Beleidigungsklagen wegen des Präsidenten, da werden 14-jährige Kinder angeklagt und verurteilt. Die Zivilgesellschaft wird unterdrückt, sie fühlt sich von Europa auch im Stich gelassen. Weil, je schlimmer die Verhältnisse in der Türkei werden, umso devoter verhält sich ja Europa gegenüber Erdogan. Und diese Unterdrückungspolitik Erdogans hat eben leider keine Konsequenzen bisher gehabt und deshalb gibt es halt auch überhaupt kein Aufflammen mehr dieser Zivilgesellschaft, was wir beispielsweise 2013 bei der Gezi-Park-Bewegung ja noch beobachten konnten.
Stucke: Sie sagen, da fehlt auch die Unterstützung vom Ausland. Aber was konkret wünschen Sie sich denn? Erst mal muss ja auch im Land, also ohne Ausland die Kraft, der Wunsch groß genug sein, auf die Straße zu gehen!

Erdogan Repressionskurs wird durch Europa bestärkt

Dagdelen: Na ja, wenn Sie sich daran erinnern, gab es Millionen Menschen 2013, die aufgrund der Gezi-Park-Bewegung sich entfesselt haben aus Protest gegen die Regierungspolitik, gegen diese Alleinherrschaftsansprüche von Erdogan et cetera pp. Aber jedes Mal, wenn Erdogan die Repressionsschraube angezogen hat, wurde quasi als Belohnung für seine Schandtaten ein neues Beitrittskapitel eröffnet, die Beitrittsverhandlungen wurden fortgeführt, jeder Rückschritt in Sachen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit wurde mit Öffnung eben auch Europas belohnt, mit der Argumentation, das wäre dann eine Unterstützung für die Zivilgesellschaft.
Stucke: Das heißt, da sagen Sie jetzt, den Dialog muss man abbrechen?

"Man muss eine ganz andere Sprache sprechen !"

Dagdelen: Na, also … Man hat ja diese Legende dort jahrelang abgearbeitet, das würde es verbessern und würde … Und diese Legende wird ja immer noch genährt. Und es ist aber eigentlich, wenn man sich das anguckt, schlimmer geworden, weil Erdogan sich gestärkt fühlt und das immer als Kursbestätigung verstanden hat, auch durch Merkels Deal jetzt, dieses schäbige Flüchtlingsabkommen und durch die ständigen Konzessionen. Was ich finde, ist, ich denke, man muss eine ganz andere Sprache sprechen. Merkel muss bei ihrem Besuch jetzt am Wochenende Demirtas treffen, die verfolgten Oppositionspolitiker. Wenn nicht – was ja eigentlich zu befürchten ist –, versagt sie erneut auf ganzer Linie, das wäre dann die völlige Unterwerfung vor Erdogan. Und so macht man sich dann natürlich auch endgültig zum Komplizen von Erdogan.
Stucke: Frau Dagdelen, ist denn das Handeln von Erdogan – um zum Schluss noch mal zu ihm zu kommen – eines, was nur seinem eigenen Machtausbau dient, oder denkt er eigentlich auch an die Zeit irgendwann in der Zukunft? Gibt es etwas, was über ihn hinaus geplant wird?

Erdogan verfolgt seinen Plan einer islamisierten Türkei

Dagdelen: Also, es ist natürlich verharmlosend, wenn man denkt, dass er nur Allmachtsansprüche hätte. Diese Personalisierung und Emotionalisierung meistens aus Europa gegenüber anderen Regimen ist meiner Meinung nach falsch. Er hat schon einen Plan, er ist aus der Muslimbrüderschaft, er will den politischen Islam, er möchte eine islamisierte Türkei. Und das möchte er … Durch das Präsidialsystem glaubt er, das absichern zu können, aber nicht nur er selber, die ganze AKP natürlich, die hinter ihm steht, und jeder Ministerpräsident, der immer bisher hinter ihm gestanden hat. Und dieses Programm möchte er dort erfüllen. Also nicht nur in der Zeit, wo er dann Präsident ist, sondern auch danach wird man natürlich Probleme bekommen.
Stucke: Sagt Sevim Dagdelen von der Partei Die Linke hier im Deutschlandradio Kultur. Frau Dagdelen, danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Dagdelen: Ich danke Ihnen auch, Herr Stucke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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