Immer lebe die Sonne
Die Bildhauerin Marion Kahnemann zeigt in Dresden Objekte, Collagen, Fotografien und Plastiken, die nach einer Reise in die Ukraine entstanden sind. Besonders in der Region Tschernobyl hat sie nach jüdischen Spuren gesucht.
Der Bildgrund ist gelbgrün, strahlend. Bogenförmig überspannen rote hebräische Buchstaben ein kleines sitzendes Mädchen mit Zipfelmütze. „Mene mene tekel u’pharsin“ – Worte aus dem Buch Daniel, Worte, die Unheil ankündigen. Wie auf einem Bildbogen des Talmud rahmen Sätze aus dem Buch Genesis den Malgrund ein. „Wajomru hawah niwnej-lanu ir umigdal“ – Lasst uns eine Stadt bauen, einen Turm, dessen Spitze bis zum Himmel reicht. In gelber kyrillischer Schrift taucht ein sowjetisches Kinderlied hinter roten Baumskeletten aus den Linien eines Schnittmusterbogens auf. „пусть всегда будет солнце – Immer lebe die Sonne“... ein Lied, das die jüdischen Zuwanderer auch heute noch bei Gemeindefesten singen.
Marion Kahnemann: „Ich war vor einem Jahr für einen Monat in Kiew, zum Thema ‚das jüdische Erbe der Tschernobyl-Region‘ bin ich von jüdischen Studenten der Ukraine eingeladen worden. Genau dieses Kinderlied ‚Immer lebe die Sonne‘ stand an einem verlassenen Kindergarten in der dritten Zone von Tschernobyl dran. Das war'n riesengroßer Kindergarten.“
Wie die Collage „menetekel“ sind auch die meisten anderen Bildobjekte aus Fundsachen entstanden. Blech. Draht. Leiterplatten. Würfelförmig zersprungenes Glas. Drucksachen. Worte. Neu zusammengesetzt symbolisieren sie die vielfach überlagerte Geschichte einer multiethnischen Bevölkerung, deren Glück und Leid. Die Katastrophe von Tschernobyl vor 25 Jahren sei für sie nur Teil des großen Puzzles, sagt Marion Kahnemann:
„N’ Beispiel. Das erste, was man in ne’m anderen Land macht, ist Geld tauschen. Und das erste, was man da kriegt, ist ein Geldschein, wo Bogdan Chmelnitzki abgedruckt ist.“
Der Volksheld Bogdan Chmelnitzki gründete im 17. Jahrhundert den erste ukrainischen Kosakenstaat. Auf seinem Feldzug gegen die polnische Oberschicht starben schätzungsweise 10.000 Juden. Viele flüchteten nach Deutschland. Auch der ukrainische Nationalist Stjepan Bandera wird in der Ukraine als Held verehrt. Am 30. Juni 1941, also noch vor dem Einmarsch deutscher Truppen, verübte er ein Massaker unter den Lemberger Juden.
„Das Problem ist, dass kurz danach die ukrainischen Nationalisten genauso Opfer der Nazis wurden. Und diese Überlagerung findet an einem Ort statt, nicht nur in einer Stadt, sondern an einem Ort. Das Problem ist, dass nur an eine Seite gedacht wird. Und dass die Ukraine die Vielvölkergeschichte nicht als Teil ihrer Geschichte betrachtet.“
Schon vor ihrer Reise in die Tschernobyl-Region hat Marion Kahnemann viel Material zum Thema Atomunfall, sowjetische Geschichte oder jüdische Erinnerungen gesammelt und auf Karteikarten geklebt. An Fukushima war da noch nicht zu denken. Später ist dann aus diesem Material ein interaktives Kunstobjekt mit dem Titel „Archiv einer kontaminierten Geschichte“ entstanden, angereichert mit Fotografien und Hintergrundtexten, etwa über den jüdischen Friedhof von Tschernobyl:
„Also man braucht einen Passierschein eigentlich, um in diese gesperrte Zone zu kommen. Es gibt aber einmal im Jahr die Möglichkeit, dass Christen ihre Gräber besuchen, und das machen natürlich Juden auch.“
Ein Grab auf diesem Friedhof ist besonders gepflegt. Das neu errichtete Grab des berühmten Rabbi Menachem Nachum von Tschernobyl:
„Dort schmeißen heute auch die Ukrainer ihre Zettel rein, weil sie denken, sie haben was falsch gemacht und deswegen hat es Tschernobyl gegeben.“
Einige Fotografien sind auch als Vergrößerung zu sehen, so zum Bespiel die verfallene Synagoge von Tschernobyl. Ein Sowjetstern, dessen rote Farbe längst abgeblättert ist, ziert das rostige Eingangstor.
„Interessanterweise ham’ die Juden meistens auf der Leninstraße gewohnt, also mitten im Zentrum.1941 sind die eine Hälfte der Juden vor Ort erschossen worden, die anderen in Babijar. Und ab 1945 ist die Synagoge, also eine von fünf Synagogen, die anderen gibt’s nicht mehr, von der Sowjetarmee genutzt worden. Und 1986 eben so stehen gelassen worden.“
Marion Kahnemann hat aber nicht nur das Schicksal der jüdischen Bevölkerung in den Pogromen, während des Bürgerkriegs, der Hungersnot Anfang der 30er-Jahre oder während der Besatzung durch die deutschen Truppen dokumentiert. Immer wieder fand sie Hinweise auf ein selbstbewusstes jüdisches Leben, besonders nach der Oktoberrevolution. Russisch-jiddische Wörterbücher mit ganz neuen jiddischen Wortschöpfungen wie Kolwirtnik, Werbeplakate, Filme, Lehrbücher:
„Hier ist'n Lehrbuch aus ‚nem jüdischen Kolchos. Wie man sieht, sind da ganz viel Schweine zugange. Hier hat man das Gleiche noch mal auf jiddisch.“
Und dann tauchen jüdische Weltkriegsveteranen mit ihrer ganzen Ordenspracht auf, Menschen, die im Großen Vaterländischen Krieg gegen Hitler gekämpft haben und die heute in Deutschland leben. An ihre Situation scheint das Bild „Adam und Eva in der Stadt“ zu rühren. Zu sehen sind zwei einsame Figürchen auf dem Gitterrost einer elektronischen Leiterplatte.
„Adam und Eva. Adam ist der Mensch. Das sind für mich exemplarische Menschen, die irgendwie versuchen, in der Stadt, im Stadtchaos sich durchzufinden. Und ich denke, das Thema ist Einsamkeit.“
Ein Gefühl, das dem Ausstellungsbesucher auch beim Lesen des Gedichts „Entfremdung“ von Rose Ausländer begegnet, Zeilen, die Marion Kahnemann mehrfach in Bildern zitiert, mal russisch, mal deutsch. Ob im Zyklus „Amcha ("der Andere") oder nun „Hinter dem Rücken der Zeit“, die jüdische Künstlerin verknüpft immer wieder biblische Geschichten mit dem Blick von heute. So trägt eine ihrer Materialkollagen den Titel: „Der fünfte Sohn der Haggadah“. Leben die vier Söhne aus der Pessach-Erzählung noch mehr oder weniger mit der Tradition, so ist dieser zusätzliche Sohn nun völlig von der eigenen jüdischen Identität abgeschnitten.
Die Ausstellung „Hinter dem Rücken der Zeit“ der Bildhauerin und Malerin Marion Kahnemann ist im Gemeindehaus der Jüdischen Gemeinde Dresden noch bis Ende Juli zu sehen. Geöffnet Sonntag bis Donnerstag, jeweils 12 bis 18 Uhr.
Homepage von Marion Kahnemann
Marion Kahnemann: „Ich war vor einem Jahr für einen Monat in Kiew, zum Thema ‚das jüdische Erbe der Tschernobyl-Region‘ bin ich von jüdischen Studenten der Ukraine eingeladen worden. Genau dieses Kinderlied ‚Immer lebe die Sonne‘ stand an einem verlassenen Kindergarten in der dritten Zone von Tschernobyl dran. Das war'n riesengroßer Kindergarten.“
Wie die Collage „menetekel“ sind auch die meisten anderen Bildobjekte aus Fundsachen entstanden. Blech. Draht. Leiterplatten. Würfelförmig zersprungenes Glas. Drucksachen. Worte. Neu zusammengesetzt symbolisieren sie die vielfach überlagerte Geschichte einer multiethnischen Bevölkerung, deren Glück und Leid. Die Katastrophe von Tschernobyl vor 25 Jahren sei für sie nur Teil des großen Puzzles, sagt Marion Kahnemann:
„N’ Beispiel. Das erste, was man in ne’m anderen Land macht, ist Geld tauschen. Und das erste, was man da kriegt, ist ein Geldschein, wo Bogdan Chmelnitzki abgedruckt ist.“
Der Volksheld Bogdan Chmelnitzki gründete im 17. Jahrhundert den erste ukrainischen Kosakenstaat. Auf seinem Feldzug gegen die polnische Oberschicht starben schätzungsweise 10.000 Juden. Viele flüchteten nach Deutschland. Auch der ukrainische Nationalist Stjepan Bandera wird in der Ukraine als Held verehrt. Am 30. Juni 1941, also noch vor dem Einmarsch deutscher Truppen, verübte er ein Massaker unter den Lemberger Juden.
„Das Problem ist, dass kurz danach die ukrainischen Nationalisten genauso Opfer der Nazis wurden. Und diese Überlagerung findet an einem Ort statt, nicht nur in einer Stadt, sondern an einem Ort. Das Problem ist, dass nur an eine Seite gedacht wird. Und dass die Ukraine die Vielvölkergeschichte nicht als Teil ihrer Geschichte betrachtet.“
Schon vor ihrer Reise in die Tschernobyl-Region hat Marion Kahnemann viel Material zum Thema Atomunfall, sowjetische Geschichte oder jüdische Erinnerungen gesammelt und auf Karteikarten geklebt. An Fukushima war da noch nicht zu denken. Später ist dann aus diesem Material ein interaktives Kunstobjekt mit dem Titel „Archiv einer kontaminierten Geschichte“ entstanden, angereichert mit Fotografien und Hintergrundtexten, etwa über den jüdischen Friedhof von Tschernobyl:
„Also man braucht einen Passierschein eigentlich, um in diese gesperrte Zone zu kommen. Es gibt aber einmal im Jahr die Möglichkeit, dass Christen ihre Gräber besuchen, und das machen natürlich Juden auch.“
Ein Grab auf diesem Friedhof ist besonders gepflegt. Das neu errichtete Grab des berühmten Rabbi Menachem Nachum von Tschernobyl:
„Dort schmeißen heute auch die Ukrainer ihre Zettel rein, weil sie denken, sie haben was falsch gemacht und deswegen hat es Tschernobyl gegeben.“
Einige Fotografien sind auch als Vergrößerung zu sehen, so zum Bespiel die verfallene Synagoge von Tschernobyl. Ein Sowjetstern, dessen rote Farbe längst abgeblättert ist, ziert das rostige Eingangstor.
„Interessanterweise ham’ die Juden meistens auf der Leninstraße gewohnt, also mitten im Zentrum.1941 sind die eine Hälfte der Juden vor Ort erschossen worden, die anderen in Babijar. Und ab 1945 ist die Synagoge, also eine von fünf Synagogen, die anderen gibt’s nicht mehr, von der Sowjetarmee genutzt worden. Und 1986 eben so stehen gelassen worden.“
Marion Kahnemann hat aber nicht nur das Schicksal der jüdischen Bevölkerung in den Pogromen, während des Bürgerkriegs, der Hungersnot Anfang der 30er-Jahre oder während der Besatzung durch die deutschen Truppen dokumentiert. Immer wieder fand sie Hinweise auf ein selbstbewusstes jüdisches Leben, besonders nach der Oktoberrevolution. Russisch-jiddische Wörterbücher mit ganz neuen jiddischen Wortschöpfungen wie Kolwirtnik, Werbeplakate, Filme, Lehrbücher:
„Hier ist'n Lehrbuch aus ‚nem jüdischen Kolchos. Wie man sieht, sind da ganz viel Schweine zugange. Hier hat man das Gleiche noch mal auf jiddisch.“
Und dann tauchen jüdische Weltkriegsveteranen mit ihrer ganzen Ordenspracht auf, Menschen, die im Großen Vaterländischen Krieg gegen Hitler gekämpft haben und die heute in Deutschland leben. An ihre Situation scheint das Bild „Adam und Eva in der Stadt“ zu rühren. Zu sehen sind zwei einsame Figürchen auf dem Gitterrost einer elektronischen Leiterplatte.
„Adam und Eva. Adam ist der Mensch. Das sind für mich exemplarische Menschen, die irgendwie versuchen, in der Stadt, im Stadtchaos sich durchzufinden. Und ich denke, das Thema ist Einsamkeit.“
Ein Gefühl, das dem Ausstellungsbesucher auch beim Lesen des Gedichts „Entfremdung“ von Rose Ausländer begegnet, Zeilen, die Marion Kahnemann mehrfach in Bildern zitiert, mal russisch, mal deutsch. Ob im Zyklus „Amcha ("der Andere") oder nun „Hinter dem Rücken der Zeit“, die jüdische Künstlerin verknüpft immer wieder biblische Geschichten mit dem Blick von heute. So trägt eine ihrer Materialkollagen den Titel: „Der fünfte Sohn der Haggadah“. Leben die vier Söhne aus der Pessach-Erzählung noch mehr oder weniger mit der Tradition, so ist dieser zusätzliche Sohn nun völlig von der eigenen jüdischen Identität abgeschnitten.
Die Ausstellung „Hinter dem Rücken der Zeit“ der Bildhauerin und Malerin Marion Kahnemann ist im Gemeindehaus der Jüdischen Gemeinde Dresden noch bis Ende Juli zu sehen. Geöffnet Sonntag bis Donnerstag, jeweils 12 bis 18 Uhr.
Homepage von Marion Kahnemann