Immer faszinierend, immer überraschend

Von Markus Bauer |
Im Herbst wählen die Rumänen ein neues Parlament. Viele hoffen auf ein Ende der Dauerkrise nach Monaten des erbitterten Streits zwischen konservativem Präsidenten und sozialistischem Regierungschef. Brüssel hat den EU-Neuling inzwischen unter strenge Beobachtung gestellt. Doch bis sich in Rumänen eine politische Kultur wie in Westeuropa entwickelt hat, wird es noch lange dauern.
Wie bei einer aromatischen rumänischen Zwiebel lassen sich die Schichten der Gegenwart aus der Vergangenheit hervorschälen. Nehmen wir als Beleg einen der hierzulande kaum bekannten literarischen Klassiker, Ion Luca Caragiale. Er starb vor 100 Jahren in seinem freiwilligen Berliner Exil. Kurz zuvor – im Jahre 1907 nach dem Schock des letzten großen blutigen Bauernaufstands in Europa – schrieb er wenig Schmeichelhaftes über das politische System seines Landes.

Politische Parteien gebe es in Rumänien nicht, solche im europäischen Sinne des Wortes, die auf Traditionen, alten oder neuen Klasseninteressen und folglich auf Prinzipien, Programmen oder Ideen basieren. Die beiden Parteien, die sich damals an der Macht abwechselten, seien eher zwei große Faktionen gewesen, die anstelle von Parteigängern Klienten gehabt hätten. Eine Feststellung, die genau so auch heute zutrifft.

Krasser Individualismus lässt die Rumänen eher selten die Folgen ihres Handelns für das Ganze, das Gemeinwesen bedenken. Er fördert die Korruption, welche die Menschen durchaus als Grundübel ihrer Gesellschaft erkennen und benennen. Politiker haben daraus ein äußerst profitables Gewerbe gemacht: Viele der überbürokratischen Vorschriften erklären sich dadurch, dass mit jedem zusätzlichen Gesetz die Möglichkeit steigt, dafür Bakschisch einzuheimsen.

Es ist dies wohl nicht nur ein Erbe des Kommunismus, sondern auch der langen osmanischen Besatzung in der frühen Neuzeit, aus der die Praktiken des Ämterkaufs stammen, welche nie ihre Wirkungsmacht verloren haben. Und bei aller Wut über die korrupte Elite schillert selbst das Schimpfwort, das aus dem Deutschen stammt: "smecher" meint eben nicht nur den Betrüger und Scharlatan, sondern auch den trickreichen, findig-listigen Macher, den die Rumänen durchaus bewundern.

Zudem geistert seit den Tagen des Nationaldichters Mihai Eminescu noch jener Slogan von den unerwünschten "Formen ohne Basis" durch das rumänische Denken, die es nur schwer zulassen, eine fremde Denkweise oder Arbeitsform anzunehmen – alles muss selbst 'erfunden' werden und den speziellen Vorstellungen der Rumänen entsprechen. Kein Wunder, dass es da schwer fällt, sich in eine Großorganisation wie die EU mit ihrem Riesenregelwerk einzuordnen.

Erst spät und unter deutscher Beteiligung hat sich an den Karpaten ein Nationalstaat gebildet. Seither gehört zum psychologischen Kostüm ein deutlicher Stolz, wenn das Land wieder einmal etwas Besonderes leistet, ebenso häufig aber die Selbsterniedrigungen und Minderwertigkeitskomplexe angesichts der desolaten Lage. Himmelhochjauchzend sich überschätzend – zu Tode betrübt, so wirken oft die Rumänen. Als würden sie ihren Platz zwischen Ost und West immer noch suchen.

Den deutschsprachigen Schriftstellern aus Siebenbürgen und dem Banat gelang es, zumindest literarisch Rumänien mit Mitteleuropa zu verbinden, geographisch bewusst zu machen, welchen Lauf die Donau von der Quelle bis zur Mündung ins Schwarze Meer nimmt. Gedankt wird es den Autoren von ihren alten Landsleuten allerdings eher selten. Dazu sehen die Literaten – bei aller Liebe – Vergangenheit und Gegenwart des Landes zu kritisch.

"Immer faszinierend und überraschend", so wirbt hingegen der rumänische Tourismusverband, sei die vermeintliche lateinische Insel in einer slawischen Welt. Auf diese Weise wird die europäische Annäherung zu einem langfristigen Projekt. Natürlich könnten dabei positive Seiten stärker zur Geltung kommen. Die landschaftliche und historische Mannigfaltigkeit, die Menschlichkeit, der kulturelle Flair des Ostens bieten Anreize, das unverständlich erscheinende Rumänien besser zu begreifen, ihm über alle Schwierigkeiten hinweg zu helfen, Demokratie und Bürgergesellschaft zu entwickeln.

Markus Bauer, Buchautor und Journalist geboren 1959 im Saarland, lebte nach Studium der Germanistik und Geschichte fünf Jahre als DAAD-Lektor in Rumänien. Seitdem ist ihm die faszinierende Geschichte dieses Landes häufig Gegenstand journalistischer und publizistischer Arbeit geworden. Er schreibt u.a. regelmäßig in der "Neuen Zürcher Zeitung" zu kulturellen rumänischen Themen. Ein Buch zur Kulturgeschichte des Karpatenlandes erschien 2009 unter dem Titel "In Rumänien. Auf den Spuren einer europäischen Verwandtschaft" im Transit-Verlag Berlin.
Der Journalist und Buchautor Markus Bauer
Der Journalist und Buchautor Markus Bauer© Markus Bauer
Mehr zum Thema