Immer auf der Stuhlkante

Von Aglaia Dane · 27.04.2012
Mitte der 90er bestand der Sanitzer Chor aus gerade mal einem Dutzend Leute. Mittlerweile hat der Chor doppelt so viele Mitglieder, singt fünf- oder gar sechsstimmig - und das auch über die Landesgrenzen Mecklenburg-Vorpommerns hinaus.
Von Sommerzeit ist an diesem Frühlingsabend nicht viel zu merken. Durch ein offenes Fenster weht feuchter Wind in den Saal. Der Himmel hinter den Glasscheiben ist grau in grau. Hier oben im Norden sagt man dazu: Schietwedder.

Doch dem Unwetter, das von der Küste heranzieht, schenkt im Gemeinschaftshaus niemand Beachtung. Die Sängerinnen und Sänger des Sanitzer Chores sitzen im Halbkreis vor ihrem Chorleiter, blicken ihn aufmerksam an, versuchen Töne von oben zu singen - sich gedanklich auf sie draufzusetzen.

"Nee, macht mal ... nanana ... von oben (singen). Ja, macht das noch mal ... "

Es sind nur noch wenige Wochen bis zum großen Auftritt beim Chorfest in Frankfurt am Main. Vier Tage, 600 Konzerte, 400 Chöre aus der ganzen Welt - und darunter auch der Chor aus Sanitz, einem Ort mit knapp 6000 Einwohnern, zerteilt durch eine Bundesstraße. Zu DDR-Zeiten gab es hier viele handwerkliche Produktionsgenossenschaften. Seit der Wende ist die Bundeswehr der größte Arbeitgeber. In Frankfurt wollen die Sanitzer zeigen, dass sie ein Provinzchor mit Klasse sind - unter anderem mit dem Mailied von Felix Mendelssohn-Bartholdy.

"Wir sind nicht nur so zum Spaß zusammen, sondern wir wollen uns auch entwickeln. Deshalb fahren wir gelegentlich auch immer wieder zu Wettbewerben, Ausscheiden und lassen uns auch hier mal vom Landeschorverband einstufen, einfach um diese Herausforderung zu haben, auch so ein bisschen den Kick zu haben, das Ganze sportlich zu nehmen."

Jens Spilgies ist 53 Jahre alt, Umweltsachverständiger und einer von drei Männern im Chor. Für eine Medaille wird es in Frankfurt nicht reichen, glaubt er. Aber er ist stolz darauf, wie gut der Chor mittlerweile ist.

Neben Jens Spielgies, im Alt, sitzt Rosemarie Dinnebier. Die Rentnerin nutzt die Pause, um zwei große Baumwollbeutel hervor zu holen. Darin: dicke Aktenordner. Einen Ordner legt sie auf den Tisch und klappt ihn auf. Rosemarie Dinnebier ist die Chor-Chronistin - und eine gewissenhafte Archivarin.

"'Das Dorfgemeinschaftshaus Sanitz', das ist also dieses Haus damals hier gewesen, 'gibt also bekannt' ... in Anführungsstrichen ... 'Wo man singt, da lass dich nieder, denn böse Menschen haben keine Lieder'"

In der Annonce werden Jugendliche und Erwachsene mit Lust zum Singen gesucht. Das war im Oktober 1995. Zu Anfang kamen etwa zwölf Leute. Sie sangen Volkslieder, gerne auch Kanons. Dann wuchs der Chor. Es gab erste Auftritte - dreistimmig, dann vierstimmig. Der Chor in Sanitz - das ist eine starke Gemeinschaft. Die Mitglieder singen nicht nur miteinander, viele sind auch befreundet.

"Dann wünsche ich mir jetzt mein Geburtstagslied ... und ihr dürft' sogar wählen."

Die Chorvorsitzende Anke Henze hatte Geburtstag. Letzte Woche hat sie Sekt ausgegeben. Diese Woche gibt es am Ende der Probe ein Ständchen für die 56-Jährige.

Bassist Jens Spilgies ist ein Chormitglied der ersten Stunde. Für ihn ist der Chor ein fester Bestandteil des Lebens.

"Ich merke das immer wieder, wenn Ferienzeiten sind, wenn man mal einige Proben nicht zusammen ist, dann sagt man sich, Oh Mann, wann ist endlich wieder Probe, ja."

Nach der Probe geht es raus in den Sturm, schnell in die Autos und durch das Dorf zur Gaststätte "Mecklenburg". Auch Chorleiter Tilman Fröhlich ist auf ein Bier mitgekommen. Der 31-Jährige hat den Chor vor einem Jahr übernommen. Ihm war schnell klar: Die Sanitzer brauchen ihn eigentlich nur für die künstlerische Arbeit.

"Meistens ist es so: Der Chorleiter hat den Chor. Aber dieser Chor hat den Chorleiter. Und das erklärt auch diese starke Motivation, die Disziplin und diesen fast familiären Zusammenhalt."

Die sitzen immer auf der Stuhlkante, so beschreibt es Tilman Fröhlich. Doch eine negative Folge hat der Ehrgeiz - und das ist der Männermangel. Der ausgebildete Musiklehrer glaubt: Vielen Männern im Dorf ist der Chor mittlerweile zu gut. Die trauen sich nicht, neu einzusteigen. Doch trotzdem funktioniert es. Im Tenor sitzen vor allem Frauen, die Bässe singen etwas lauter, der Sopran muss ab und zu gezügelt werden. Das geht schon, heißt es in der Runde. Drei Worte, um den Chor in Sanitz zu beschreiben? Tilman Fröhlich muss nicht lange nachdenken:

"Willensstark, musikalisch ... ähm ... zu allen Opfern bereit."

Immer mehr Menschen in Deutschland singen im Chor. In Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft deutscher Chorverbände (ADC) stellt Deutschlandradio Kultur jeden Freitag um 10:50 Uhr im Profil Laienchöre aus der ganzen Republik vor: Im "Chor der Woche" sollen nicht die großen, bekannten Chöre im Vordergrund stehen, sondern die Vielfalt der "normalen" Chöre in allen Teilen unseres Landes: mit Sängern und Sängerinnen jeden Alters, mit allen Variationen des Repertoires, ob geistlich oder weltlich, ob klassisch oder Pop, Gospel oder Jazz und in jeder Formation und Größe.
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