Im Zweifel für die Freiheit
"Georgs Sorgen", der zweite Roman von Jan Faktor, erzählt vom schwierigen Erwachsenwerden in schwieriger Zeit - dem Prag der 60er-Jahre. Die Geschichte reicht von der Kindergartenzeit bis zur Loslösung von zu Hause und einem Aufenthalt in der slowakischen Tatra.
Der Haushalt gleicht einem Bienenstock und wird hauptsächlich von weiblichen Wesen bevölkert: von Georgs strahlend schöner Mutter als heimlicher Königin sowie einer unübersichtlichen Zahl von Tanten, Großtanten, Großmüttern und Urtanten. Der natürliche Frauenüberschuss dieser jüdischen Familie hat damit zu tun, dass "aus den KZs nach dem Krieg nicht die Herren, sondern eher die Damen" zurückkamen. Sie alle haben sich in einer Prager Altbauetage zusammengefunden. Mit einer Großmutter teilt Georg sein Zimmer, sofern man in dieser wabenartig symbiotischen Lebensgemeinschaft von Zimmern sprechen kann. Der abweisende Onkel ONKEL, neben Georg das einzige männliche Wesen, führt hinter zurechtgerückten Schränken ein Drohnendasein.
"Georgs Sorgen", der zweite Roman von Jan Faktor, erzählt vom schwierigen Erwachsenwerden in schwieriger Zeit – dem Prag der 60er-Jahre. Hier ist Faktor 1951 geboren. 1978 übersiedelte er von Prag nach Ost-Berlin und gehörte dort zu den Literaten vom Prenzlauer Berg. "Georgs Sorgen" ist stark autobiografisch grundiert und reicht von der Kindergartenzeit bis zur Loslösung von zu Hause und einem Aufenthalt in der Einsamkeit der slowakischen Tatra. Georgs primäre und zentrale Sorge ist jedoch die um den eigenen Penis, der andauernd ästhetische, hygienische und erotische Rätsel aufgibt. All sein Denken kreist um das andere Geschlecht, dem er als selbsternannter "Mösenschaftler" akribische Studien widmet. Das liegt einerseits am nie ganz unproblematischen Lebensalter der Pubertät, mehr noch aber an der sozialistischen Gesellschaft, in der Sex einer der wenigen, von Staat und Ideologie nicht kontrollierbaren Freiräume gewesen ist.
Die politische Entwicklung hin zum "Prager Frühling" des Jahres 1968 und zu den russischen Panzern, die ihm ein Ende setzten, erzählt Faktor deshalb konsequent als erotischen Stoff: Für Georg hat Freiheit vor allem mit dem "dauerhaft vorhandenen Samendruck" zu tun. Weil ihn "alle weiblichen Hüftbewegungen zum Sex im nächsten Fünfjahrplan einluden", mutiert er zu einem gelegentlich unangenehm auffallenden Gaffer, der selbstvergessen weiblichen Reizen nachsinnt.
Neben den Frauen widmet er alle Aufmerksamkeit den Dingen: Türangeln, Baustellen, Mülltonnen oder Abflusssysteme gilt es, in ihrer Funktionsweise zu erfassen. Diese dingliche Orientierung hat etwas mit seinem unerschütterlichem Glauben an eine helle Zukunft zu tun – ein Glaube, der ihm sein durchschnittliches Dahinvegetieren ungemein erleichterte. Die Jugend im sozialistischen Prag der 60er-Jahre war ja gewissermaßen von Amts wegen auf Zukunft ausgerichtet. Georgs Sorgen betreffen folglich auch "nicht vorrangig die jeweilige Gegenwart, sondern fast ausschließlich die Vergangenheit".
Das Verhältnis zu Dingen und zu Frauen ist gleichermaßen problematisch. Georg verhält sich wie ein Forscher, der ein unersättliches Reparier- und Verbesserungsbedürfnis entwickelt. Eine besondere Rolle in der Wahrnehmung der Welt kommt dabei dem Ekel zu. Ekel wird in diesem Roman herzhaft ausgekostet. Er dient niemals der Abwendung, sondern ganz im Gegenteil konzentrierter Aufmerksamkeit. Alles Unappetitliche betrachtet Georg als "Lieferant von Nährstoffen", wie einen Komposthaufen. Auch sein Erzählen ist eine Art Gärungsprozess, also ein Zersetzungsvorgang. Deshalb muss alles aufgehäuft werden, was die Erinnerung bereitstellt.
Das ist naturgemäß subversiv, bedarf keiner Erklärungen, schon gar nicht lästiger Psychologie, und bringt eine angenehm unsentimentale, neugierige, unerschrockene Betrachtungsweise mit sich. "Ich erweiterte mein Seelenleben vorsorglich auf die Dinge selbst," erklärt Georg, der dauernd damit beschäftigt ist, "die Umwelt in der Phantasie zu reparieren". Georg ist ein literarischer Ingenieur mit technischem Spezialinteresse. Stalins Wort von den Schriftstellern als "Ingenieuren der Seele" bekommt in diesem gewaltigen, heiteren Romangebirge eine zeitgemäße, praktische Nutzanwendung.
Besprochen von Jörg Magenau
Jan Faktor: Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010
640 Seiten, 24,95 Euro
"Georgs Sorgen", der zweite Roman von Jan Faktor, erzählt vom schwierigen Erwachsenwerden in schwieriger Zeit – dem Prag der 60er-Jahre. Hier ist Faktor 1951 geboren. 1978 übersiedelte er von Prag nach Ost-Berlin und gehörte dort zu den Literaten vom Prenzlauer Berg. "Georgs Sorgen" ist stark autobiografisch grundiert und reicht von der Kindergartenzeit bis zur Loslösung von zu Hause und einem Aufenthalt in der Einsamkeit der slowakischen Tatra. Georgs primäre und zentrale Sorge ist jedoch die um den eigenen Penis, der andauernd ästhetische, hygienische und erotische Rätsel aufgibt. All sein Denken kreist um das andere Geschlecht, dem er als selbsternannter "Mösenschaftler" akribische Studien widmet. Das liegt einerseits am nie ganz unproblematischen Lebensalter der Pubertät, mehr noch aber an der sozialistischen Gesellschaft, in der Sex einer der wenigen, von Staat und Ideologie nicht kontrollierbaren Freiräume gewesen ist.
Die politische Entwicklung hin zum "Prager Frühling" des Jahres 1968 und zu den russischen Panzern, die ihm ein Ende setzten, erzählt Faktor deshalb konsequent als erotischen Stoff: Für Georg hat Freiheit vor allem mit dem "dauerhaft vorhandenen Samendruck" zu tun. Weil ihn "alle weiblichen Hüftbewegungen zum Sex im nächsten Fünfjahrplan einluden", mutiert er zu einem gelegentlich unangenehm auffallenden Gaffer, der selbstvergessen weiblichen Reizen nachsinnt.
Neben den Frauen widmet er alle Aufmerksamkeit den Dingen: Türangeln, Baustellen, Mülltonnen oder Abflusssysteme gilt es, in ihrer Funktionsweise zu erfassen. Diese dingliche Orientierung hat etwas mit seinem unerschütterlichem Glauben an eine helle Zukunft zu tun – ein Glaube, der ihm sein durchschnittliches Dahinvegetieren ungemein erleichterte. Die Jugend im sozialistischen Prag der 60er-Jahre war ja gewissermaßen von Amts wegen auf Zukunft ausgerichtet. Georgs Sorgen betreffen folglich auch "nicht vorrangig die jeweilige Gegenwart, sondern fast ausschließlich die Vergangenheit".
Das Verhältnis zu Dingen und zu Frauen ist gleichermaßen problematisch. Georg verhält sich wie ein Forscher, der ein unersättliches Reparier- und Verbesserungsbedürfnis entwickelt. Eine besondere Rolle in der Wahrnehmung der Welt kommt dabei dem Ekel zu. Ekel wird in diesem Roman herzhaft ausgekostet. Er dient niemals der Abwendung, sondern ganz im Gegenteil konzentrierter Aufmerksamkeit. Alles Unappetitliche betrachtet Georg als "Lieferant von Nährstoffen", wie einen Komposthaufen. Auch sein Erzählen ist eine Art Gärungsprozess, also ein Zersetzungsvorgang. Deshalb muss alles aufgehäuft werden, was die Erinnerung bereitstellt.
Das ist naturgemäß subversiv, bedarf keiner Erklärungen, schon gar nicht lästiger Psychologie, und bringt eine angenehm unsentimentale, neugierige, unerschrockene Betrachtungsweise mit sich. "Ich erweiterte mein Seelenleben vorsorglich auf die Dinge selbst," erklärt Georg, der dauernd damit beschäftigt ist, "die Umwelt in der Phantasie zu reparieren". Georg ist ein literarischer Ingenieur mit technischem Spezialinteresse. Stalins Wort von den Schriftstellern als "Ingenieuren der Seele" bekommt in diesem gewaltigen, heiteren Romangebirge eine zeitgemäße, praktische Nutzanwendung.
Besprochen von Jörg Magenau
Jan Faktor: Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010
640 Seiten, 24,95 Euro