Im Zustand der Sprachlosigkeit

Kathrin Schmidt im Gespräch mit Britta Bürger · 13.10.2009
Dass sie nach ihrer Hirnblutung geschafft habe, ihre Arbeit als Schriftstellerin fortzusetzen, sei "das Bezauberndste (...) an meiner Situation", sagt die Gewinnerin des Deutschen Buchpreises, Kathrin Schmidt. Ihr autobiografisch fundierter Roman "Du stirbst nicht" handelt von einer Autorin, der nach einem Aneurysma vorübergehend Identät und Sprache abhanden kommen.
Britta Bürger: Es war spannend vor der Bekanntgabe des Gewinners des Deutschen Buchpreises gestern Abend im Frankfurter Römer. Schließlich war unter den sechs auf der sogenannten Shortlist nominierten Schriftstellern auch Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller. Würde sie nun auch noch den Deutschen Buchpreis bekommen – gerade oder gerade nicht? Die Jury hat sich für die zweite Variante entschieden und somit einer anderen Autorin Aufmerksamkeit verschafft, der Schriftstellerin Kathrin Schmidt. Ihr Roman "Du stirbst nicht" wurde ausgezeichnet als beste Neuerscheinung des Jahres. Direkt nach der Bekanntgabe gestern Abend konnten wir Kathrin Schmidt gratulieren und ich habe sie gefragt, was ihr in den letzten Stunden und Minuten durch den Kopf gegangen ist.

Kathrin Schmidt: Ach, ich habe eigentlich an morgen gedacht, was ich morgen so machen werde, wenn ich noch hier sein werde. Also ich habe mich nicht als Preisträgerin in Frankfurt gesehen, sondern als einfaches besuchendes Gästchen der Stadt oder so. Und ich habe da, ich weiß auch nicht, ich hab überhaupt nicht an den Preis gedacht.

Bürger: "Du stirbst nicht" ist ein autobiografisch fundierter Roman, die Geschichte der Helene Wesendahl, die im Sommer 2002 eine Hirnblutung hat und sich danach ihr gesamtes Leben inklusive der Sprache wieder neu zusammensetzen muss. Es gibt sehr viele Übereinstimmungen zu Ihrem eigenen Leben, nicht nur weil Sie selbst die Erfahrung so einer Hirnblutung hinter sich haben, sondern noch mehr ist Helene Wesendahl wie Sie Schriftstellerin und Mutter von fünf Kindern. Sie hat wie Sie, Kathrin Schmidt, lange als Psychologin gearbeitet. Wie ist Ihnen das gelungen, so nah am eigenen Lebensfaden zu bleiben und zugleich davon zu abstrahieren? Denn alle, die das Buch gelesen haben, sagen übereinstimmend, man vergesse sofort wieder, dass das Ihre Lebensgeschichte sei.

Schmidt: Also als der Roman geschrieben war, haben wir uns schon gefragt, ob die Helene Wesendahl denn wirklich Schriftstellerin sein müsse, und wir hatten dann versucht, sie zur Journalistin zu machen oder zur Germanistin, aber das ging alles nicht, weil der Verlust der Sprache ja wirklich eine ganz existenzielle Erfahrung gewesen ist, die sie hat verarbeiten müssen und die auch für den Roman natürlich eine tragende Idee war: Wie ist das, wenn einem mit der Sprache die Identität abhanden kommt und wie konstituiert sich beides wieder neu? Und insofern traf es sich irgendwie, dass ich selbst dieses Schicksal erlitten hatte, und ich habe dann einfach diese Erfahrung genommen und habe eine fiktive Geschichte darübergespannt. Und was da herausgekommen ist, das müssen halt andere beurteilen. Aber wie ich das gemacht habe, kann ich Ihnen tatsächlich nicht sagen.

Bürger: Welche inneren Konflikte sind es, die Ihre Protagonistin Helene Wesendahl vor allem umtreiben?

Schmidt: Es ist vor allen Dingen das Nichtwissen darum, ob ihre Ehe vor einem Ende gestanden hat oder nicht, weil ihr Mann sehr zuvorkommend und sehr freundlich sich dort zeigt und darüber aber überhaupt nicht spricht und sie ihn natürlich im Zustand der Sprachlosigkeit auch nicht danach fragen kann. Es ist des Weiteren das Erlebnis oder die Erinnerung an die Liebe zu einer transsexuellen Frau, die vorher ein Mann gewesen war, an die sie sich erinnert und wo sie auch nicht genau weiß, wie weit war sie mit dieser Frau tatsächlich liiert oder wie weit verschränkte sich das eigentlich mit ihrer Ehe oder… das weiß sie alles gar nicht mehr genau. Und aus diesem Wust muss sie sich herausarbeiten. Und das habe ich versucht, in diesem Roman umzusetzen.

Bürger: Sie muss sich also tatsächlich Ihre Geschichte wieder vergegenwärtigen und zugleich die Sprache selbst wieder neu lernen. Wie war das und wie ist das im Buch – kommt über innere Bilder die Sprache zurück oder stupst die Sprache selbst die Erinnerung an zu immer neuen Schüben?

Schmidt: Das ist sicher ein wechselseitiger Prozess. Bei mir war es tatsächlich so – daran habe ich mich natürlich beim Schreiben erinnert –, dass das Aussprechen eines Wortes bewirkt hat, dass es bei mir wieder präsent war. Manchmal nicht für sehr lange, vielleicht nur für eine kurze Zeit, aber es war wieder da, und das hat mir damals die Gewissheit gegeben, dass die Sprache wieder erlernbar sein wird, dass es sehr lange dauern kann und unter Umständen auch sehr lange dauern wird, aber dass es prinzipiell möglich ist. Und deswegen ist die Helene Wesendahl auch weit ab von jeder Depression, so wie ich weit ab von der Depression in dieser Lage war. Warum, kann ich mir heute auch nicht mehr so genau erklären, aber es war halt so, und dann habe ich das übersetzt für den Roman in diese Form, die Sie vor sich liegen haben.

Bürger: Hat das Suchen nach Wörtern auch zu so etwas geführt wie einer Inventur der Sprache, also ein bewusstes Überprüfen der Präzision? Denn Präzision wird Ihnen durchgehend lobend bescheinigt.

Schmidt: Nun war der Prozess der Therapie ja weitgehend abgeschlossen, als ich begonnen habe, den Roman zu schreiben. Insofern ist das mit der Präzision sicher so eine Frage. Allerdings habe ich versucht, dem Erwachen aus dem Koma gemäß die Protagonistin am Anfang tatsächlich nur sehr kurze Sätze nicht sprechen, sondern denken zu lassen, mit Subjekt, Prädikat, Objekt, die sie auch nur in sehr kurzen Episoden zum Besten gibt, also im übertragenen Sinne. Und es verschleift sich dann peu à peu während des Romanes zu immer längeren Episoden. Und am Ende ist sie wieder bei einer Art Sprache angekommen, wie sie uns allen gemein ist. Also so etwa muss man sich das vorstellen.

Bürger: Wie haben Sie tatsächlich all das gesammelt und schriftlich festgehalten, was Sie damals nach dieser Gehirnblutung vor sieben Jahren erlebt haben? Haben Sie sehr schnell wieder angefangen zu schreiben?

Schmidt: Ja, ich habe sehr schnell wieder angefangen zu schreiben, schon im Krankenhaus, aber ich hab damals nur geübt. Also das war eigentlich kein bewusstes Schreiben. Ich habe schon gedacht, dass ich mich jetzt werde berenten lassen müssen, als es mir schwante, dass ich Schriftstellerin gewesen war – das hat ja auch eine Weile gedauert. Dass es nicht so gekommen ist, finde ich das Bezauberndste eigentlich an meiner Situation, also das finde ich ganz wunderbar. Daran zeigt sich auch, dass ich einfach nicht mehr verzweifeln kann.

Bürger: Kathrin Schmidt, die Deutsche-Buchpreis-Trägerin 2009 im Deutschlandradio Kultur. "Du stirbst nicht" heißt Ihr ausgezeichneter Roman. Frau Schmidt, Sie sind in Gotha geboren worden, 1958, haben in der DDR als Psychologin an der Uni Leipzig und in Kliniken gearbeitet, haben sich dann aber für das Schreiben entschieden und am Leipziger Literaturinstitut Johannes R. Becher studiert. Was gab den Ausschlag, Ihrem Leben eine völlig neue Wendung zu geben?

Schmidt: Das kam eigentlich ein bisschen anders, als Sie es jetzt erzählt haben. Ich habe zwar zu DDR-Zeiten geschrieben, allerdings nur Lyrik, und davon hätte man weder unter DDR-Bedingungen noch unter den westlichen Bedingungen leben können. Und ich habe 1990 aufgehört zu arbeiten als Psychologin, weil ich am Runden Tisch Berlin gesessen hatte und meine damalige Chefin es nicht leiden konnte, dass ich da immer mit großen schwarzen Autos zu abgeholt wurde. Es war also mehr so ein zufälliger Ausstieg aus der Psychologie mit dem Wunsch, dort wieder reinzugehen, was natürlich, nachdem das Ende des Runden Tischs gekommen war, gar nicht mehr ging, weil die Stellen überhaupt nicht mehr da waren. Dann habe ich mich durch ABMs geschleift und hab dann auch mal Gedichte wieder versucht zu schreiben, die ich vielleicht für zwei, drei Jahre nicht mehr geschrieben hatte, und hab diese eingereicht zum Leonce-und-Lena-Preis. Und das war eigentlich der entscheidende Knackpunkt. Als ich diesen Preis 1993 bekommen hatte, habe ich mir gedacht, na dann kannst du es auch tatsächlich versuchen, freischaffend zu arbeiten als Autorin, was ich dann ab 94 gemacht habe, und habe dann auch gleich mit einem Roman angefangen.

Bürger: Sie haben eben selbst das Stichwort gegeben, den Runden Tisch. Das ist heute sicher nicht der Moment für große Rückblicke, aber ich möchte Sie zumindest danach fragen, wie und wo Sie diese Tage rund um den 13. Oktober, 12., 13. Oktober vor 20 Jahren verbracht haben?

Schmidt: Das kann ich Ihnen ziemlich genau sagen, die habe ich in Berlin-Hellersdorf verbracht, weil ich mich abends nicht von meinen Kindern weggetraut habe, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass es friedlich bleibt. Also mein Mann und ich, wir sind damals immer abwechselnd gegangen zu unseren abendlichen Versammlungen oder zu unseren täglichen Sitzungen und haben immer dafür gesorgt, dass jemand zu Hause war. Und so werde auch ich bestimmt einen Tag oder einen Abend zu Hause gewesen sein um diese Zeit.

Bürger: Ist diese Zeit in Ihrer Erinnerung weit weg oder sofort wieder ganz nah?

Schmidt: Tja, eigentlich ist sie doch noch sehr nahe, aber das geht mir mit anderen Erinnerungen genauso, insofern fallen sie da nicht heraus. Ich erinnere mich also auch noch sehr gut an Ereignisse aus meiner Kindheit oder… Das ist vielleicht eine spezielle Art des Erinnerns, ich weiß auch nicht, es lag mir schon immer sehr.

Bürger: Sie haben es auch eben angedeutet, den Leonce-und-Lena-Preis haben Sie bekommen, den Ingeborg-Bachmann-Preis, den Anna-Seghers-Preis. Was nützen solche Literaturpreise?

Schmidt: Ja, sie gestatten einem, zumindest einen Moment lang, ungestört von finanziellen Engpässen zu arbeiten, das muss man einfach so sagen. Das ist eigentlich das Wichtigste, denn medial wahrgenommen werden solche Preise ja auch nur in Fachmedien oder Literaturzeitschriften. Also das Medieninteresse hält sich ja doch eigentlich sehr in Grenzen, auch bei diesen Preisen. Und da ist dieser Preis, den ich heute bekommen habe, tatsächlich etwas Neues, eine ganz neue Erfahrung, etwas völlig anderes, und wir werden mal sehen, wie wir damit umgehen.

Bürger: Was ist Ihr nächstes Projekt?

Schmidt: Also das nächste Projekt ist schon fertig, das ist ein Gedichtband, der im Frühjahr erscheinen wird, worüber ich sehr froh bin, denn das Schreiben von Gedichten war mir tatsächlich viele Jahre lang nicht mehr möglich nach dem Platzen des Aneurysmas. Und ich arbeite jetzt eigentlich schon am nächsten Roman.