Im Westen geht die Sonne auf

Von Peter Kolakowski · 25.10.2010
Von "Nordkurve" über "Rote Erde" bis hin zu "Im Westen ging die Sonne auf": Das Grimme-Institut Marl hat in einer Reihe die besten historischen Filme aus dem Pott zusammengetragen. Gezeigt wird, wie das Fernsehen in den letzten Jahrzehnten zur Darstellung des Ruhrgebiets begeitragen hat.
Wir sind unterwegs im Land der Kohle und der Kumpel. Im Land der Stahl- und Schwerindustrie und Schrebergärten. Der Pommesbuden, der Püllecken Bier – und des Protests. 1971 etwa, als in Krefeld eine Chemiefabrik "plattgemacht" werden sollte. Wir waren bewusst parteiisch und politisch nicht ausgewogen, erinnert sich einer der Produzenten von "Rote Fahnen sieht man besser", Theo Gallehr. Der andere, Rolf Schübel, ist zur Filmvorführung extra nach Marl ins Adolf-Grimme-Institut gekommen, um mit dem Publikum über die Entstehung des Dokumentarfilms zu diskutieren. Erstmals in der Geschichte des öffentlich-rechtlichen Fernsehens waren in dem Film Arbeiter zu hören. Im Originalton, ungeschnitten! Eine kleine Sensation:

"Damals eigentlich schon, weil man sie bislang nur in winzigen Statements gehört und gesehen hatte. Wir haben eben versucht, einen richtig langen Film mit ihnen zu machen. Ich finde überhaupt, diese Ausgewogenheit ist eine sehr komische Sache geworden. Ich finde ein Gesamtprogramm kann ja ausgewogen sein, aber einzelne Filme sollen nicht ausgewogen sein. Ich finde, Kontroversen tun not und es ist auch unendlich viel spannender. Wenn immer so ein Gesülze rauskommt: 'Einerseits-Andererseits'und zum Schluss weiß letztendlich niemand mehr um was es eigentlich gegangen ist."

Eine Woche lang nimmt das Adolf-Grimme-Institut die Zuschauer mit auf die Reise durch den Ruhrpott. Nicht zu den Landschaften, sondern zu den Schicksalen jener Menschen, die eben inmitten dieses bizarr-schönen Sammelsuriums aus rußigen Zechen und rauchenden Kokereien, feurigen Stahlwerken und giftgrünen Fußballplätzen, trutzigen Eisenhütten und lieblichen Kanälen leben und arbeiten. So groß war die Auswahl an herausragenden Spiel- und Dokumentarfilmen über das Ruhrgebiet, dass die Organisatoren eine Auswahl von der Auswahl treffen mussten. Erklärt Dr. Ulrich Spies vom Grimme-Institut:

"Diese Filmreihe gehört zu einem der Höhepunkte von Ruhr 2010. Da wird ja nun ein ganzes Jahr lang landauf, landab, Wichtiges gezeigt aus dem kulturellen Spektrum. Wir als Institut, das sich mit dem Fernsehen, einem der wirklichen Leitmedien beschäftigt, wollen einfach mal zeigen, was Fernsehen in den letzten vier, fünf Jahrzehnten zur Darstellung des Ruhrgebiets in diesem Medium beigetragen hat."

Ob "Nordkurve" des Dortmunder Filmemachers Adolf Winkelmann, "Rote Erde" von Klaus Emmrich, die "Tour de Ruhr" von Elke Heidenreich oder "Im Westen ging die Sonne auf" von Wolfgang Ettlich - das Filmprogramm, das das Grimme-Institut noch bis kommenden Samstag zeigt, ist vollgepackt mit filmhistorischen Kleinodien. Dabei spielt die kollektive Sicht der Ruhrpottler in den Werken eine genauso wichtige Rolle wie die individuelle Befindlichkeit der Verwandten von Schimanski und Koslowski. Dr. Ulrich Spies:

"Solche Filme wird es wahrscheinlich heute nur noch selten geben können, wenn überhaupt. Denn heute stehen andere Kriterien im Vordergrund wie Einschaltquoten, Marktanteile. Und es muss alles ein bisschen unterhaltsamer daherkommen. Deshalb sind solche Filme, die wirklich in der Form auch sehr streng sind, nicht mehr so gefragt.

Am Dienstag wird es sich ausschließlich um den Sport und da schwerpunktmäßig um das Thema Fußball drehen mit einem Klassiker aus dem Jahre 64 "Die Borussen kommen", ein Dokumentarfilm von Wolfgang-Wilhelm Bittorf, der so in dieser Form überhaupt nicht mehr gemacht werden könnte, weil er hinter die Kulissen eines Vereins, nämlich Borussia Dortmund schaut. An den darauffolgenden Tagen geht es aber auch um das Thema Migration und Integration."

Ein weiterer Höhepunkt: Der Film "Marl –Versuch einer Stadt" aus dem Jahr 1964. Staunend schaute auch der Autor dieses Beitrages, groß geworden als Ruhrgebietskind im benachbarten Oer-Erkenschwick, auf die schöne neue Welt, die die Marler Stadtväter sich da erschufen. Den Marler Stern, gleich neben dem Grimme-Institut. Ein für damalige Verhältnisse gigantisches Einkaufszentrum samt Wohnanlage entstand und sollte von nun an das Stadtzentrum, das Herz der Chemie- und Zechenstadt markieren.

Doch der Stern ist lange erloschen, das Herz hat in der hochverschuldeten Stadt aufgehört zu schlagen, und ist zu einem in hässlichsten Waschbeton gegossenen Fanal kommunalpolitischen Größenwahns mutiert. Und als hätten es die Filmemacher schon vor 46 Jahren geahnt, dass der Stern nun der Abrissbirne zum Opfer fällt, stellten sie in ihrer Reportage unangenehme Fragen. Was dazu führte, dass der Film nach Fertigstellung im Giftschrank des WDR landete, also bis heute niemals öffentlich ausgestrahlt wurde.

Ergänzt werden alle Vorführungen durch Diskussionen mit Regisseuren, Drehbuchautoren, Zeitzeugen und Fernsehverantwortlichen. Und heute? Gehören solche Filme gleich danach wieder in die filmhistorische Mottenkiste, jetzt wo die Menschen ganz andere Sorgen haben, als der kaputten Kohle- und Stahlindustrie hinterherzutrauern? Keineswegs! meint Gunter Witte, der ehemalige Fernsehfilmchef des WDR, Erfinder des Tatort, und Produzent so herausragender Werke wie "Die verlorene Ehre der Katharina Blum:

"Dass es auch heute am ersten Tag darüber hinausgegangen ist, dass Themen allgemein behandelt werden, besprochen werden. Welche Themen sind heute wichtig, wie verzahnen sich diese Themen untereinander? Also das ist eine hochinteressante Diskussion und ich vermute mal, dass die auch so weitergehen wird."
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