Im Tegernseer Tal in Oberbayern

Eine russisch-bayerische Romanze

Segler sind am 30.07.2016 in der Nähe von Gmund (Bayern) auf dem Tegernsee unterwegs
Blick über den Tegernsee: Irgendwo hier liegen die Wurzeln der Frau von Boris Schumatsky. © picture alliance / dpa / Angelika Warmuth
Von Boris Schumatsky |
Der Tegernsee zieht Menschen aus aller Welt an - auch Russen. Am bayerischen "Lago di Bonzo" muss man nicht erklären, was ein Oligarch ist. Gibt es hier eine besondere Verbindung? Das fragt sich unser russischer Autor, der mit einer Oberbayerin verheiratet ist.
Es ist vielleicht einer der schönsten Orte dieser Welt. Seit zehn Jahren komme ich hierher, doch irgendwie schaffe ich es, mich immer noch wie ein Wesen vom Mars zu fühlen.
Ein See vor Alpenpanorama mit ganzjährig schneeweißen Berggipfeln, am Ufer kleine Straßen und kleine weiße Häuser mit geschnitzten Balkonen und Giebeldächern. Dahinter Wiesen mit grasenden Kühen, deren Halsglocken im Takt des Kauens bimmeln. Wenn Kühe sprechen könnten, würden sie die Farbe ihres Grases bestimmt als "saftig" grün bezeichnen.
Wenn die Kühe herunter zum See blicken, sehen sie Orte, die Gmund, Rottach-Egern oder, wie der See selbst, Tegernsee heißen. Sie sehen eine Kirche mit barockem Zwiebelturmdach und daneben eine italienische Vinothek, eine Apotheke und eine Boutique namens "d‘Schickeria". Die Kühe sehen und hören vorbeifahrende Autos, aber sie können natürlich nicht wissen, dass viele davon Markenfahrzeuge aus bayerischer Fabrikation sind.

Bayerische Werbekulisse statt Moskauer Betonwald

In dieser Gegend ist meine Frau aufgewachsen, hier wohnt meine angeheiratete Familie. Isabella und ich hatten uns in Berlin kennengelernt, dann lebten wir in München und fuhren oft hierher zum Tegernsee, eine Stunde mit der Bayerischen Oberlandbahn nach Süden, ins Alpenvorland. Mir war es stets fast zu schön hier, als wäre ich in eine Butterwerbung geraten. Ich bin im Moskauer Betonwald aufgewachsen und habe auf den Baustellen neuer Hochhäuser gespielt. Oft frage ich mich, ob ich eine Person wirklich verstehen kann, die wie Isabella in einem von diesen Häusern mit Giebeldach am Rand eines Buchenwaldes aufwuchs und auf diesen saftigen Wiesen spielte.
Ich bestelle einen Schweinebraten und ein Helles im Herzoglichen Bräustüberl Tegernsee, wo meine Frau aufs Gymnasium gegangen ist. Die bayerische Bierkultur geht natürlich nicht ganz so weit, dass man im Bierrestaurant fürs Abitur lernen darf.
Eine Kellnerin trägt am 12.01.2014 vor dem Herzöglichen Bräustüberl in Tegernsee (Bayern) mehrere Helle zu einem Tisch.
Eine Kellnerin mit mehreren Bierkrügen vor dem Herzöglichen Bräustüberl in Tegernsee© picture alliance / dpa / Marc Müller
Das Tegernseer Gymnasium liegt im Seitenflügel eines Klosters aus dem 8. Jahrhundert, in dem heute neben dem Bräustüberl auch ein Museum und eine Brauerei untergebracht sind. Das Brauhaus ist im Besitz von Herzogin Maria Anna in Bayern aus dem Haus Wittelsbach.
Als Isabella hier das Gymnasium besuchte, sponserte die Brauerei stets ein paar Fässer Bier für den Umzug der Abiturienten.
In den Gewölbesälen des Bräustüberls sitzt man gesellig dicht nebeneinander ähnlich wie in einem Biergarten. Kellner in Lederhosen und Kellnerinnen mit Dirndl tragen mehrere Bierkrüge in einer Hand und Teller in der anderen.
Ich komme zum ersten Mal allein, ohne Familie hierher. Ich will andere Zugereiste, andere Russen fragen, wie es ihnen im Tegernseer Tal geht, an diesem für mich bedeutenden Ort.

Die Russ’n-Maß ist Weißbier mit Limonade

Ein Russ ist in Bayern ein Bier, das in nördlicheren Breiten Radler heißt, nur dass die Russ’n-Maß ein Weißbier mit Limonade ist. Man weiß nicht genau, woher dieser Name kommt. Meine Lieblingsgeschichte ist diese:
1918 haben die Bayern eine Revolution gemacht. Unter den Anführern waren drei Exilrevolutionäre aus Russland. Als die Münchner im Münchner Mathäser-Keller die Gründung der Räterepublik feierten, mischten sie aus einem nicht überlieferten Grund ihr Bier mit Limonade. Die Russen, im Volksmund "da Russ’n", tranken mit, und die Russ’n-Maß war geboren.
Das können die Russen durchaus als Kompliment auffassen.
Das Bier ist in Bayern Nationalgetränk, schrieb noch 1843 der "Baiersche Eilbote": "Der Reiche wie der Arme ist daran gewöhnt und es dient der letzteren Classe größtentheils als Nahrung. Der Bayer verlangt aber um den hohen Preis sein volles Maaß."
Das Bier veredelt alles. Im Bräustüberl herrscht die sogenannte Bierseligkeit, eine fröhliche Offenheit. Diese Eigenschaft wird, wie man hier glaubt, von Bayern und Russen geteilt.
Die Zeiten, als man noch Angst hatte, dass "da Russ kummt", sind hier längst vorbei. Der Russ darf sich willkommen fühlen, und ganz besonders dann, wenn er mit nicht ganz leeren Taschen kommt.
Am Tegernsee muss ich niemandem erklären, was das Wort Oligarch bedeutet. Bereits Dutzende Superreiche sollen hier Häuser gekauft haben, von Öl- und Gasmilliardären bis Michail Gorbatschow höchstpersönlich, dem ersten und letzten Präsident meines Geburtslandes, der Sowjetunion.
Im Herzoglichen Bräustüberl hört man manchmal Russisch, aber hauptsächlich Bayerisch, Deutsch und Englisch. Wie am Stammtisch dieser örtlichen IT-Firma, deren Belegschaft so gemischt ist, dass auch deutschsprachige Mitarbeiter Englisch mit ihren Kollegen und untereinander reden.
Ich bezahle die handschriftliche Rechnung und gehe. Der alte Klosterbau liegt direkt am See, und als meine Frau hier aufs Gymnasium ging, ist sie während der Unterrichtspause oft ins Wasser gesprungen. Irgendwo hier, zwischen dem Tegernsee und ihrem Geburtsort in der Nähe, liegen Isabellas Wurzeln, aus einer Zeit, bevor sie nach München, New York und schließlich nach Berlin zog. Vielleicht gelingt es mir, auch die Wurzeln unserer bayerisch-russischen Romanze hier zu finden.

Wenn zwei Russen sich im Ausland treffen

In Gmund am Tegernsee ist "da Russ" längst angekommen, und seitdem er da ist, begrüßt die Besucher gleich am Bahnhof, fast wie in Paris, eine Kunstgalerie. Zwischen einer Apotheke und einem Friseur, der hier seit einem halben Jahrzehnt seinen Salon hat, hängt eine dunkelblaue Markise mit dem Namen des Russen: Ekaterina Zacharova.
Die Künstlerin ist gerade aus London zurückgekommen. Wir trinken Tee, den sie mitgebracht hat, und es findet sich sofort ein gemeinsames Thema.
"Das hat schon Dostojewskij einmal ergründet. In 'Brüder Karamasow' sagte er, wenn zwei Russen sich zusammensetzen, irgendwo im Ausland, dann reden sie über den Sinn des Lebens. Und das trage ich in mir. Für mich sind diese Gespräche absolut das Wesentliche, sie sind mir die liebsten."
Malerin Ekaterina Zacharova steht vor ihrem Gemälde mit Landschaftsmotiv
Die Malerin Ekaterina Zacharova wuchs in Moskau auf und lebt seit über 20 Jahren in Oberbayern.© Boris Schumatsky
Aber wir treffen uns nicht im Ausland. Wir sind beide längst in diesem Land zuhause. Ekaterina Zacharova vermisst hier ihre Dostojewskij-Russen gar nicht. Sie hat am Tegernsee genug Dostojewskij-Bayern kennengelernt.
"Möglicherweise ist es auch eine Spezialität von Bayern, dass die Menschen im gewissen Sinne barock sind, wie wir Russen, und auch offenherzig. Man trägt seine Seele auf der Zunge. Das mag ich gerade, andere Freunde habe ich nicht. Die, die überlegen, was man sagen darf und was nicht, die muss man nicht als Freunde haben. Interessant ist, wenn man sich zusammensetzt und über die wesentlichen Sachen redet."
Ekaterina Zacharova ist in Moskau aufgewachsen, sie studierte dort und später in Stuttgart Kunst. Seit über 20 Jahren lebt sie in Oberbayern. Jedes Jahr verbringt Zacharova ein, zwei Monate in New York, auf Kuba oder in Berlin, wo sie ein kleines Atelier hat. Immer kommt sie aber wieder zurück an den Tegernsee.
Selten habe ich so viele Menschen getroffen, die restlos glücklich mit ihrem Wohnort zu sein scheinen wie im Tegernseer Tal.

Wie das Paradies auf Erden

"Es ist herrlich. Eigentlich ist es möglicherweise so, wie ich es mir gewünscht habe zu leben. Wenn die Freunde kommen, besonders aus Russland, uns sagen: Wow, du lebst hier! Es ist so unglaublich! Dann gibt es einem selber einen Ruck: Aha. Wahnsinn, ist es schön hier! Sonst geht man mit dem Hund ganz normal raus: naja, es ist schön. Man gewöhnt sich an alles, klar, und an diesen Luxus, jeden Tag eine andere Stimmung, und abends sind die Berge jetzt noch mit dem Schnee rosé beleuchtet, und der See, und die Welt ist absolut in Ordnung: Schwäne schwimmen im See, Vogeln zwitschern. Es ist Paradies auf der Erde."
Das Tegernseer Tal ist nichts für Stubenhocker wie mich. Hier hört man ständig, lass uns mal rausgehen, auf den Berg, an den See oder in den Wald. Überall sind Jogger mit modischen Sportanzügen oder Mountainbiker unterwegs. Ekaterina Zacharowa geht morgens und abends mit ihrem Hund raus. Der Hund heißt Mäuschen, kann weder bellen noch beißen, aber Zacharova sagt, dass sie sich nirgendswo auf der Welt so sicher fühlt.
Plötzlich erscheint in Zacharowas Wohnzimmer ein Mann mit weißem Poloshirt, weißer Hose und weißen Schuhen. Das ist ihr Mann, der im Erdgeschoß seine Arztpraxis hat. Er will nur Unterlagen holen und muss gleich zurück zu seinen Patienten. Auch am reichen Tegernsee gebe es Krankheit und Leid, sagt die Künstlerin, aber sie selbst sei 'entrückt' von der Kehrseite des Lebens. Es gibt hier zwar einige Arme, doch wenn man im Tal unterwegs ist, trifft man mehr Biobauern als Arbeitslose.
Auch Zacharova hat sich eine unabhängige Existenz aufgebaut. Die Kunst verkauft sich gut in dieser Gegend, in der die meisten Menschen nicht jeden Cent zweimal umdrehen müssen. Zacharova malt Landschaften und Straßenszenen aus aller Welt, und auch Bühnenbilder für den "Chiemgauer Opernsommer", ein Opernfestival in Oberbayern.
Je länger wir miteinander reden, desto klarer wird mir: Ekaterina Zacharova muss die Lösung für das Problem haben, das mich hierher geführt hat. Wie schafft sie es, sich am Tegernsee nicht fremd zu fühlen? Warum kommt sich die Künstlerin nicht wie ein weißer Rabe vor in dieser Welt der kleinen Häuser mit großen Giebeldächern, sicheren Jobs und teuren Autos?
"Ich glaube, dass in mir, tief drin, dieser Zweifel nie aufkeimte. Nur deswegen habe ich es eigentlich geschafft. Ich habe niemals sogar einen Gedanken daran verschwendet, dass ich mir jetzt einen sicheren Job suchen soll. Eigentlich darf ich nicht damit anfangen, zu überlegen, jetzt muss ich mich anpassen. Es war absolut außerhalb von meiner Vorstellungskraft, irgendetwas anderes zu machen. Und wenn ich es nicht machen würde, wüsste ich nicht, wer ich bin."

Mit den Oligarchen nichts am Hut

Am Tegernsee legt man Wert auf das Aussehen. Ekaterina Zacharova trägt in ihrem Wohnzimmer eine helle Hose und ein kariertes Hemd, beides voller alter und frischer Flecken. Das sind die Farben ihrer Malerei: Türkis und Purpur und Ockergelb. In ihrer zweiten oberbayerischen Heimat hat Zacharova viele Freunde gefunden, die ihren Lebenswandel akzeptieren. Das sind Ärzte und Anwälte, Künstler und Journalisten. Aber es gibt hier eine gesellschaftliche Schicht, mit der sie nichts am Hut haben will.
"Angeblich gibt es 90 Oligarchen hier: Mit Bunker und allem, wo sogar Essen vorgekostet wird und kaum einer auf das Grundstück reingelassen wird."
Und wo gibt es sie?
Ekaterina Zacharova kann mir nicht helfen, einen russischen Superreichen zu treffen. Dafür kennt sie aber jemanden, der hier sogar noch wichtiger ist. Als meine Schwiegermutter hört, wen ich kennenlernen darf, sagt sie: "Die Kohlers kennt hier jeder. Das ist wirklich High Society."
Florian Kohler steht neben einem antiken Schrank.
Florian Kohler ist Besitzer der Büttenpapierfabrik in Gmund - und glücklich verheiratet mit der Russin Irina Kohler.© Boris Schumatsky
Irina Kohler ist gerade zu ihrem Mann unterwegs, sie nimmt mich mit. Wir fahren auf einer Landstraße. Auf der einen Seite liegt der See mit seinen Schwänen, auf der anderen die Berge mit ihren Wiesen und Wäldern.
Einmal sind meine Eltern aus Moskau zum Tegernsee gekommen. Es gibt noch Fotos von diesem Besuch, auf denen sie dreinblicken wie Raumfahrer kurz nach der Landung auf einem anderen Planeten. Auch ich frage mich manchmal: Ist das alles echt?
Wir halten neben einem Haus, das natürlich ein Giebeldach hat. Es ist drei Stockwerke hoch, wie die Rathäuser und die größten Bauernhöfe am Tegernsee. Ein Bergbach plätschert neben dem Parkplatz.
Geht man in das Gebäude rein, dann sieht man, was sich hinter der Oberfläche einer Ansichtskarte verstecken kann. Eine moderne Industrieanlage, die sich über mehrere Produktionshallen und mehrere Stockwerke erstreckt.

Kohlers Büttenpapierfabrik liefert bis in die USA

Bei der 83. Oscar-Verleihung im Jahr 2011 wurden den ausgezeichneten Filmemachern besonders edle Gewinnerkarten ausgehändigt, gefertigt aus Feinpapier und belegt mit Gold. Die Karten und deren Umschläge wurden in Gmund am Tegernsee hergestellt, in der Büttenpapierfabrik, die seit vier Generationen von der Familie Kohler geleitet wird. Der heutige Inhaber heißt Florian Kohler.
Das Büro des Firmenchefs scheint sich seit der Fabrikgründung vor bald 200 Jahren kaum geändert zu haben. In einem großen Raum stehen ein kleiner antiker Schrank mit eingerahmten Familienbildern darauf und ein moderner Konferenztisch. Durch die Fenster sieht man die Berge, und wenn es da nicht dieses leise Rauschen einer industriellen Belüftungsanlage gäbe, könnte man denken, man wäre in einem Jagdschloss. Kohlers Vorgänger war im 19. Jahrhundert Hoflieferant des Bayerischen Königshofs zu München. Florian Kohler beliefert die Großen unserer Zeit, von BMW bis Gazprom.
Bevor wir darüber reden, was mich hierher geführt hat, erzählt Florian Kohler, was ihm am Herzen liegt.
"Was uns heute ausmacht, ist, dass wir mehr oder weniger der letzte private unabhängige Papierhersteller in Deutschland sind. Es gibt nur noch große Konzerne, und wir sind das gallische Dorf in der Papierindustrie, und wir machen schönes Papier, wir machen sehr wirkungsreiches Papier."
Florian Kohler fährt mit der Hand über Papierblätter, die vor Kurzem hergestellt wurden. Sein Papier ist schwer und samtig, und sogar das Geräusch, das entsteht, wenn man es berührt, ist anders als bei gewöhnlichem Druckerpapier.
Das Feinpapier aus Gmund will direkt auf unsere Sinne einwirken, die Augen, die Fingerspitzen und sogar die Nase ansprechen, weil es wie altes Holz riecht. Aber ist dieses fast magische Produkt überhaupt noch zeitgemäß? Die digitale Revolution, die für analoge Sinne nicht viel übrig hat, macht bestimmt keinen Bogen um den Tegernsee.
"Ja, es ist einerseits schlimm, weil es viel Geschäft wegnimmt, weil vieles wird nicht mehr gedruckt. Aber es ist auch gut, weil da, wo gedruckt wird, hat es eine bessere Aufmerksamkeit. Wir hier in Gmund haben eine Philosophie. Wir sagen: Wenn es nur um Information geht, dann sollte man nicht auf Papier drucken. Warum soll man Lastwagen mit schwerem Papier hin und her fahren für Information, das geht digital viel besser und auch viel umweltfreundlicher. Ich habe eine Geschichte erfunden. Ich kenne nicht das Haus von Bill Gates, und ich kenne nicht das Haus von Steve Jobs. Ich sage nur, wenn sie ein Wohnzimmer haben, dann weiß ich nicht, ob sie ein Regal haben. Aber wenn die ein Regal haben – da würde ich eine Wette machen – dann stehen da Bücher drin und nicht alte iPads."
Microsoft gehört auch zu den Kunden der Fabrik, die drei Viertel ihres Papiers in die ganze Welt exportiert.
Es gibt ein Klischee vom globalen Unternehmertypus mit weißem Hemd und schwarzem Nadelstreifenanzug. Aber wenn Florian Kohler in seinem hellblauen Pulli vor mir sitzt, muss ich an Fabrikanten aus alten Romanen denken. Manchmal überrascht mich Oberbayern wie diese russische Holzpuppe "Matrjoschka", die man in Deutschland oft fälschlicherweise "Babuschka", Oma, nennt. Man starrt auf die folkloristische Oberfläche, bis man die Puppe aufmacht und sieht, was sich drin versteckt. Wieder eine Matrjoschka, aber oft eine andere.

"Bayern und Russen sind sich ähnlich"

Florian Kohler spricht eine Sprache, in der manchmal Ausdrücke vorkommen, die ich zuletzt in alten Büchern gelesen habe, etwa "Haupttrübsal". Dabei geht es ihm um Sachen, die aktueller nicht sein können.
"Die Politik macht es den Firmen wie uns wahnsinnig schwer. Google zahlt 5 Prozent Steuern, ich zahle 50 Prozent Steuern. Wie soll ich mit 45 Prozent weniger Geld gegen jemanden, der viel größer ist, konkurrieren? Die Politik redet immer vom Mittelstand, aber sie macht alles dagegen. Das ist mein einziges Haupttrübsal, dafür sind wir schneller und kreativer. Aber die Politik kümmert sich nur um Großkonzerne."
Wenn Florian Kohler emotionaler wird, bekommt seine Stimme gleich einen stärkeren oberbayerischen Schlag. Und das ist etwas, was seiner Meinung nach er und ich wohl gemeinsam haben. Zumindest dann, wenn er sich mehr als Bayer und weniger als Deutscher fühlt. Manchmal sagt er, wir Bayern, und manchmal, wir Deutsche, und beides erscheint sehr unterschiedlich, wenn man durch den russischen Spiegel blickt.
Landschaft vor der Kulisse des Tegernseer Tals
Wegen der Schönheit seiner Landschaft beliebt: das Tegernseer Tal.© Boris Schumatsky
"Wir Deutschen sind zu genau und zu korrekt. Die Russen – das ist mein Empfinden, ich sage nicht, dass es richtig ist – sind wahrscheinlich viel emotionaler, und man sieht es nicht gleich. Wir Bayern sind da vielleicht ein bisschen ähnlicher, wir sind zwar auch deutsche gute Arbeiter, aber wir sind auch ein bisschen emotionaler, und ich glaube, die Stimmung zwischen Bayern und Russen ist ein bisschen besser wie zwischen Deutschen und Russen."
Ich weiß nicht, ob ich mich in dieser Beschreibung wirklich wiederfinden kann. Aber ich habe am Tegernsee eine Person kennengelernt, die den russischen Part in dieser Gleichung perfekt spielen würde. Florian Kohler kennt sie auch. Das ist seine Frau.
Irina Kohler ist in der Fabrik für Kontakte zu russischsprachigen Ländern zuständig. Zwischen Bayern und Russland gibt es seit längerer Zeit wirtschaftliche und politische Verbindungen, die weit über die deutsch-russische Beziehung hinausgehen. Die bayerischen Ministerpräsidenten fliegen gerne mal zu den Herrschern im Kreml. Franz Josef Strauß hatte 1987 sogar höchstpersönlich eine neunsitzige Cessna nach Moskau geflogen, um Gorbatschow zu treffen. Später flog Horst Seehofer sogar zweimal zu Putin, 2011 und 2016. Viel früher waren es aber die bayerischen Kühe gewesen, die einen Besuch in der russischen Hauptstadt abgestattet hatten.
Schon der Zar Nikolaus war vom Tegernsee hingerissen, insbesondere vom hiesigen Fleckvieh. Er hatte eine Herde nach St. Petersburg bestellt, und vielleicht waren deswegen alle Kühe in meiner Kindheit gefleckt. Auch die allererste Verbindung zwischen meiner Frau und mir ist über 100 Jahre alt und hat etwas mit Kühen zu tun. Isabellas Urgroßeltern hatten Butter von ihrer oberbayerischen Dorf-Molkerei nach Russland geliefert. Meine Urgroßeltern hatten auch eine Molkerei in ihrem russischen Dorf betrieben. Unsere Urgroßeltern waren also Konkurrenten, und ich weiß nicht, ob dies ein gutes oder schlechtes Vorzeichen für unsere Ehe sein sollte.

"Sie sind hier anders als im Rest Deutschlands"

Irina Kohler ist in Moskau aufgewachsen. Heute lebt und arbeitet sie im Tegernseer Tal, und inzwischen kann sie sagen, dass sie ihre Bayern gut kennt. Im Verwaltungsgebäude, das zur Papierfabrik ihres Mannes gehört, hat sie ein kleines Büro. Sind die Menschen hier anders als in Moskau?
"Klar. Sie sind anders als in Deutschland!"
Warum?
"Alles, was nördlicher als diese Berggrenze ist, ist für sie preußisch, und Preuße ist eine Beleidigung hier. Sie sagen, mia san mia."
Das versteht jeder in Deutschland spätestens seit "Mia san mia" das Vereinsmotto von Bayern München ist.
Wenn man die Stärke der Identität messen könnte, würde ich das stärkste bayerische Selbstbewusstsein bei den über vier Millionen Oberbayern vermuten, mit einem wahrscheinlichen Epizentrum am Tegernsee, wo ungefähr 20.000 Menschen wohnen.
Übrigens ist das bayerische "Wir sind wir" gar nicht bayerisch, sondern ein alter Schlachtruf der k.-u.-k. Armee zu Zeiten des Kaisers Franz Joseph. Aber er passt zu Oberbayern, noch besser zum Tegernsee, und dort passt er wie gegossen zu Irina Kohler.
"Was mir hier besonders gefällt, du bist hier eine Persönlichkeit. Die Leute kennen mich. Ich gehe in die Bäckerei, grüße den Herrn Müller, den Herrn Schweinsteiger, den Herrn Soundso. Wenn ich kein Geld zufällig habe, dann kann ich immer auf Kredit kaufen. Und in Moskau bist du wie ein Sandkorn in der Wüste, du kennst nicht deine Nachbarn auf der Etage. Hier bist du eine Person, die Leute kennen dich, und du bist integriert in der Gesellschaft. Du bist präsenter. Du kannst hier was bewegen, weil das ist eine kleine Welt. In Moskau, um etwas zu bewegen, musst du wirklich Putin sein."
Es ist 17 Jahre her, seit Irina Kohler ihren Mann kennenlernte und zu ihm nach Oberbayern zog. Florian Kohler könnte lange über ihr erstes Treffen erzählen, aber so viel Zeit hat er gerade nicht. Es drängt schon der nächste Termin. Für solche Fälle hat der vorsorgliche Unternehmer zwei Kurzversionen seiner Liebesgeschichte vorbereitet, eine fünf Sätze lang, und die andere nur einen.

Russisch-bayerische Romanze zwischen Geschäftspartnern

"Ich kümmere mich um meine Kunden so gut, wie es irgendwie geht. Meine Frau war mein Kunde. Das ist der eine Satz. In mehreren Sätzen, meine Frau war die Marketing-Leiterin von unserer größten russischen Papiergroßhandlung, und sie ist einmal hierhergekommen. Da war sie noch sehr jung, ich glaube 23, und sie hat eine Delegation russischer Geschäftspartner geleitet. Was mir bei meiner Frau gefallen hat – ich glaube, das ist zum Teil eine russische Charakteristik – ist, dass sie sehr direkt und trotzdem charmant war. Ich kann mich noch gut erinnern, in der ersten Besprechung, ich selbst wäre vielleicht in so einer Situation schüchtern, da ist sie einfach aufgestanden und hat gesagt, Ich möchte gerne zehn Wasser für jeden Kunden hier haben. Jemand anderer hätte vielleicht gewartet und hätte gesagt, vielleicht kann ich sie später fragen. Aber sie hat Recht gehabt. Weil jetzt haben die Kunden Durst gehabt, und sie hat charmant, für Deutschland vielleicht zu direkt, gesagt: Ich möchte zehn Wasser haben!"
In einer modernen russisch-bayerischen Romanze werden nicht zehn Rosen, sondern zehn Mineralwasser überreicht, sie beginnt nicht auf einer Sommerwiese, sondern im Besprechungsraum, und das Liebespaar sind nicht Prinzessin und Prinz, sondern zwei Geschäftspartner.
Florian Kohler muss gehen. Aber seine Frau kann mir die Geschichte weiter erzählen, wie sie sich in Oberbayern gefunden haben.
"Ich bin kein naives Mädchen, es ist mir absolut bewusst, dass ich das habe, nur weil ich die Frau von Herrn Kohler bin. Und Herr Kohler ist ein Begriff, es ist eine Familie, die hier seit Jahrhunderten wohnt. Einfach eine Familie, das muss man verstehen. In dieser kleinen Welt kenne ich jeden Bürgermeister, ich kenn die Prinzessin in Bayern, von Wittelsbacher, die jüngste Tochter. Um mich herum sind sehr viele reiche Menschen. Sie sind ganz normale Menschen, du kannst nie glauben, dass er Millionen, Milliarden hat!"
Blick auf das Schaufenster eines Modeladens
Der Blut- und Geldadel vom Tegernsee trägt weder Krone noch Zylinder: Blick auf die Boutique namens "d'Schickeria".© Boris Schumatsky
Irina Kohler erzählt mir, dass der Blut- und Geldadel vom Tegernsee gerne mal auch einfache T-Shirts trägt, also keine Kronen und Zylinderhüte wie die Aristokraten und Kapitalisten in unseren sowjetischen Kinderbüchern.
Die High Society gehört im Tegernseer Tal zur Normalität. Alle hier wissen, dass sie da ist, und viele sind stolz auf "ihre" Reichen und Schönen. Die Prominenten sind eine Auszeichnung, die der See selbst und auch jeder einzelne Anwohner bekommt. Ihre Anwesenheit macht selbst die Landschaft, die ohnehin wunderschön ist, in der Empfindung vieler noch schöner. Wenn sie von bedeutenden Menschen angehimmelt wird, zieht das Lob neue Berühmtheiten an, Fußballstars, Großunternehmer, die wiederum die Schönheit des Landstrichs aufwerten.
Mich hat dieses Lob nie überzeugt. Vielleicht habe ich gerade deswegen immer der Schönheit der Natur misstraut, und ich frage Irina Kohler, ob es ihr auch so geht wie mir.
"Hier wachsen keine Palmen, das ist schon ganz gut. Und das ist das Letzte, was mich stören würde. Das interessiert mich überhaupt nicht!"
Was stört Sie denn hier?
"Mich stört hier gar nichts. Ich bin total integriert."

Die selbstbewussteste Bayerin ist eine Russin

Würden am Tegernsee auch wirklich Palmen und Kakteen wachsen, würde sich Irina Kohler trotzdem vollkommen wohlfühlen. Heute ist sie eine Dame der Gesellschaft, und diese Gesellschaft ist ihre eigentliche Umwelt.
"Wie funktioniert diese kleine Gesellschaft? Es wird immer gesprochen, weil das ist typisches Leben vom Dorf. 'Schau was ist passiert', und es wird p-p-p-p-p, noch Wochen lang. Auch Trennungen, es ist wahnsinnig, du darfst dich hier nicht trennen, weil das ganze Tegernseer Tal wird das besprechen!"
Als ich diese Reise in die oberbayerische Heimat meiner Frau begann, habe ich mit Überraschungen gerechnet. Aber nicht damit, dass die selbstbewussteste Bayerin, die ich treffen werde, als Russin geboren wurde.
"Die deutschen Reichen, die von der Familie stammen, die Familienbetriebe weiter führen, sind ganz Klasse Leute! Es gibt kein Show-off hier, es gibt das nicht, und es ist das Schlimmste, was ich an Russen hasse, dieses Show-off! Und ich bin jetzt Bayer, ich bin kein Russe. Absolut! Da ist nichts geblieben!"
Irina Kohlers russisch-bayerischer Zungenschlag klingt recht charmant in meinen Ohren, vielleicht ein bisschen Französisch. Auch ich höre in Bayern öfter, dass mein Deutsch einen französischen Beiklang habe. Das ist als Kompliment gemeint.
Bayern war in seiner Geschichte oft viel näher an Frankreich als an Preußen, und besonders hier in Oberbayern leben französische Wortwurzeln immer noch weiter. Wenn man unter Zeitdruck steht, dann pressiert‘s, und wenn man sich bisschen Ruhe gönnt, setzt man sich auf das Canapée. Wenn man sich bedanken möchte, sagt man Merci. Aus dem Zug steigt man auf das Perron.
Wie auch in Russland. Die bayerischen Passanten flanieren nicht auf dem Bürgersteig, sondern auf dem Trottoir, wie die Russen. Und manchmal habe ich das Gefühl, dass meine Aussprache hier doch nicht ganz so fremd ist. Besonders dann, wenn die Bayern mich Borís nennen, mit Betonung auf dem "i", wie im Französischen – und auch im Russischen.

Der See verändert die Zugereisten

Der Tegernsee zieht reiche Menschen aus aller Welt an, und doch ist das Tal nicht zu einem globalisierten Millionärs-Resort verkommen. Es sind die Zugereisten, die sich verändern. Der See kann, wenn er will, sogar eine kleine Angestellte aus Moskau in eine Prinzessin verwandeln, eine Russin kann Bayerin werden.
Meine Schwiegermutter nennt ihren Tegernsee "Lago di Bonzo", der See der Bonzen, und sie meint das gar nicht abwertend. Die Reichen und die Schönen scheinen auch ihr Leben schöner und reicher zu machen. Das ist eines der Geheimnisse des Tegernseer Tals.
Dahinter steckt aber alles andere als nur Faszination für die Oberschicht. Im Gegenteil, die Freude über die reichen Nachbarn kann auch sehr rational sein. Sobald ihre Häuser in der Nachbarschaft stehen, steigt auch der Wert der eigenen Immobilie. Genauso steigt auch das Selbstwertgefühl, in einer begehrten Gegend wohnen zu dürfen.
Ich kann diese Faszination vom Reichtum nicht ganz teilen, und dennoch wäre ich neugierig, mal einen echten Oligarchen zu treffen. Irina Kohler, die in der Tegernseer High Society zuhause ist, kennt aber keine, und sie ist sogar froh darüber.
"Ja, am Tegernsee sind einige, aber sie sind so mäusestill, du merkst sie gar nicht. Die prägen hier nichts, sie sind hier nicht spürbar."
Was haben Sie denn hier geprägt?
"Prägen, das bedeutet, so aktiv zu sein, dass die Leute dich merken. Sie, diese Russen, haben hier Immobilien, schöne Häuser, sie kommen, und sie gehen nicht mal zum Waldfest oder Seefest. Das ganze Leben von ihnen läuft vorbei, aber das wollten sie vielleicht."

Der Nachbar von Franz Weiß ist Oligarch

Wie auch immer sich die Oligarchen am Tegernsee verstecken mögen, man findet einen, wenn man unbedingt will.
Wenn Franz Weiß auf dem Steg seiner Wasserwacht steht, sieht er manchmal, wie vom Nachbarsteg zwei Bodyguards ins Wasser steigen, dann ein molliger älterer Mann mit Hornbrille und nach ihm noch ein, zwei weitere Leibwächter. Der Mann heißt Alisher Usmanov und ist einer der 100 reichsten Menschen der Welt. Auch im Wasser möchte er sich von allen Seiten geschützt wissen.
Boris Schumatsky und Franz Weiß vor der Rettungsstation der Wasserwacht
Autor Boris Schumatsky fühlt sich wohl beim Leiter der Rottacher Wasserwacht Franz Weiß.© Boris Schumatsky
Bestimmt sind die Leibwächter dafür ausgebildet, auch Gefahren von oben abzuwenden. Aber was, wenn die Gefahr aus dem Wasser kommt? Franz Weiß versichert mir, dass in den Tiefen des Tegernsees nichts Böses lauert.
"Ja, die schwimmen direkt um ihn rum, und Haie haben wir keine."
Franz Weiß ist Schreinermeister im Rottach-Egern an der südlichen Spitze des Tegernsees. Heute hat er die Einrichtung einer Wohnung abgeschlossen und trägt noch seinen hellbraunen Overall mit Werkzeug in der Brusttasche. Sein Nachbar, der Oligarch, lässt sich nur selten blicken, aber das große Haus wird ständig bewacht und tagtäglich gepflegt. An Hausecken und Pfeilern hängen Videokameras, die Hecke ist so dicht und hoch, dass man nur die obere Etage des dreistöckigen Hauses ausmachen kann. Daneben steht ein kleineres Gebäude, das wie ein Kuhstall aussieht.
Alisher Usmanov hält aber keine Rinder, im Stall ist ein beheiztes Schwimmbad untergebracht. Vor dem Haus liegt am Seeufer die Bootshütte mit Steg, höchstens 50 Meter von Franz Weiß‘ Wasserwacht entfernt.
"Dann liegen natürlich seine Mädchen da, kreuz und quer, er hat immer drei, vier, fünf Blondinen dabei. Wie gesagt, das da drüben ist ein goldener Käfig, ich lache bloß drüber. Unsere Hütte ist größer. Und wir haben ein Motorboot! Er wollte eins haben, dies war aber nicht genehmigt worden. Wird ihm auch nicht genehmigt."
Warum?
"Weil es auf dem Tegernsee für Verbrennungsmotoren ganz strenge Vorschriften gibt."
Und er mit seinem ganzen Einfluss kann da nichts…?
"Nichts. Es ist Bayern! Wenn er mal draußen ist und wir fahren mit dem Schiff, bisschen neidisch schaut er schon dabei."
Alisher Usmanov war in seiner Jugend ein Sowjetfunktionär. Er sieht genauso aus wie einer von den alten Männern, die in meiner Jugend das Land verwaltet haben. Heute verwaltet Usmanov einen Teil des einstigen Sowjetvermögens, diesmal nicht für die Partei, sondern für Putin. Dem Oligarchen gehört der zweitgrößte Palast in London und mehrere Anwesen überall auf der Welt, von denen das Haus in Rottach-Egern vielleicht das bescheidenste ist.
Franz Weiß leitet die Rottacher Wasserwacht bereits seit Jahrzehnten. In seiner Hütte hängt ein Rettungsboot, das sich per Knopfdruck innerhalb weniger Sekunden zu Wasser lassen lässt. Die Wasserwacht ist ein Freiwilligen-Verein, und die Mitglieder finanzieren die moderne Ausrüstung, die Schwimmwesten, Defibrillatoren und digitalen Funkgeräte hauptsächlich selbst.

Kein Promi-Watching bei Einheimischen

Die deutsche Sicherheitsfirma, die mit dem Schutz von Usmanovs Anwesen beauftragt wurde, hatte versucht, den Wasserwachtlern den spontanen Zutritt zu ihrer Hütte zu verbieten. Sie sollten sich vorher stets anmelden. Doch Ertrinkende melden sich vorher nicht an, also gelang es Franz Weiß, den freien Zugang zur Wasserwacht für alle zu sichern.
Davon könnte sich Russland eine große Scheibe abschneiden. Die Oberbayern haben es natürlich leichter, aber sie haben einen Umgang mit den Oligarchen gefunden, den man meinem Geburtsland nur wünschen kann.
Für Franz Weiß ist Usmanov nur ein Nachbar von vielen. Auf Promi-Watching hat Weiß weder Lust noch hat er dafür Zeit. Neben seiner Schreinerei und der Wasserwacht wirkt er bei verschiedenen Volksfesten als Veranstalter und Moderator mit, und zieht seine Kinder groß.
Seine Tochter Magdalena sagte zu mir, dass ihr Vater am Tegernsee wie ein bunter Hund bekannt ist. Als Franz Weiß die Wasserwacht wieder zusperrt, wiederholt er sein Lebensmotto:
"Ich glaube, das Wichtigste ist, dass man so lebt, dass man am letzten Tag, wenn man seine Augen zuschließt, keine Angst haben muss vor dem, was kommt."
Als wir zu ihm nach Hause durch den Ortskern fahren, zeigt mir Franz Weiß noch mehr russische Spuren am Tegernsee. Leerstehende Häuser, die über Strohmänner auch für Herrn Usmanov gekauft wurden. Aber die reichen Fremden waren hier schon immer ein Teil der Landschaft, und als wir bei Weiß zuhause ankommen, erzählt er mir über die allerersten "Russen", die man hier im Tal sah.
Dabei lächelt er in seinen kurz geschorenen Vollbart, weil diese Russen gar keine Russen waren.

"Die ersten Russen hier waren 741 die Äbte"

"Wir werden immer wieder sowas wie Russen haben. Weil die ersten Russen waren die Äbte, die 741 das Kloster erbaut haben. Sie haben genau gesehen, was es für ein gottbegnadeter Platz ist und haben dann das Kloster dahin gebaut. Das hätte nicht funktioniert, wenn sie nicht auch schon damals Geld im Hintergrund gehabt hätten. Also das wird immer wieder so sein."
Franz Weiß wohnt am Rande von Rottach-Egern in einem Haus, das sein Großvater nach dem Krieg gebaut hat, als hier noch Wiese war. Die zentralen Lagen waren schon damals begehrt, bereits in den 1930er-Jahren zogen viele Prominente hierher.
Usmanows Haus wurde 1936 von SS-General Karl Wolff errichtet. Es war die Zeit, als der Tegernsee seinen Spitznamen "Lago di Bonzo" bekam, weil sich hier die Nazi-Bonzen ansiedelten. Franz Weiß‘ Großvater geriet mit den Nazis in einen Konflikt, der für ihn nicht so gut endete wie die Auseinandersetzung seines Enkels mit den heutigen Bonzen.
Franz Weiß geht alle zwei Wochen in die Kirche, zu selten, wie er meint. Auch sein Großvater war ein religiöser Mann. Das wurde sein Verhängnis. Wir reden am Küchentisch, und Franz Weiß zeigt mir ein großes, fast schwarzes Kreuz, das im Nebenraum hängt.
"Auslösefaktor war dieses überdimensionale Kreuz da draußen in der Stube. Da sind diese SA-Leute ins benachbarte Kloster gegangen und haben es ausgeraubt, und haben diesen Herrgott aufs Feuer geschmissen. Und den hat mein Großvater wieder runtergenommen, und hat diesen SS-Mann beiseite geschubst und ist dann gegangen, und das war dieser auslösende Faktor, warum sie ihn dann eingesperrt haben."
Franz Weiß‘ Großvater war auch Schreiner und war übrigens mit dem später berühmten Komiker Karl Valentin in die Lehre gegangen. Im Gegensatz zu Valentin ist er seinem gelernten Beruf treu geblieben und hatte bald den Betrieb seines Meisters übernommen. Bis er an einem Tag alles verlor.
"Zuerst war er in Stadelheim inhaftiert, als politischer Gefangener, und die letzten anderthalb Jahre in Dachau im KZ. Meine Großmutter hat dann 1945 Bescheid bekommen, und dann ist sie hinein gefahren und hat ihn abgeholt. Mit dem Handwagen, zu Fuß nach Dachau und wieder zurück mit dem Opa. Sie hat ihn wieder aufgepäppelt, weil er natürlich total abgemagert war, und hat eigentlich nur deswegen überlebt, weil er bei Doktor Mengele in einer Gruppe drin war, wo sie Medikamente ausprobiert haben. Das Pech war bloß das, dass er irgendeine Spritze bekommen hat. Da haben sie ihm beide Knie kaputt gemacht. Ich habe meinen Großvater nur an zwei Stöcken gehen sehen."
Sein Schreinerbetrieb und sein Haus waren verloren, also mussten Franz Weiß‘ Großeltern alles aus dem Nichts aufbauen.
Der Großvater und die Großmutter meiner Frau kamen nach dem Krieg auch mittelos hierher, als Vertriebene aus Schlesien und Ungarn. Noch in den späten 50er-Jahren wurde meine hier geborene Schwiegermutter als Flüchtling gehänselt.
"Es war, nach Erzählen von meinem Großvater, nach Erzählen von meiner Mutter, am Anfang sehr, sehr schwierig, bei diesen bayerischen Einheimischen, meistens waren es Bauern, Fuß zu fassen. Du warst nie ganz akzeptiert. Jetzt ist es anders, wir sind praktisch die dritte Generation, wir sind jetzt voll integriert. Aber es war dann schon schwierig. Und dann ist natürlich dies, du kriegst einen anderen Blickwinkel auf diese Ausländergeschichte, diese Vertriebenengeschichte."
Warum?
"Weil man sich mehr hineinversetzen kann, dass man nicht gern die Heimat verlässt. Wenn man sich die Bilder in Syrien anschaut und auch dann die Syrer kennenlernt und mit ihnen spricht, sie wollen alle zurück. Aber momentan ist kein Drandenken. Deswegen sehe ich das ein bisschen anders als viele andere Leute das sehen."

Der Ruf Bayerns ist hartnäckiger als Fakten

Doch gerade in Tegernsee gibt es gar nicht so viele von diesen "anderen", die keine Fremden mögen. Oberbayern trägt lange dieses Makel, rechts oder gar braun zu sein, und das stimmt nicht. Schaut man auf die Ergebnisse der letzten Bundestagswahl, so bekamen die Nationalpopulisten in Franz Weiß‘ Wahlbezirk weniger Stimmen als im Bundesdurchschnitt und sogar deutlich weniger als etwa Berlin-Reinickendorf.
2015 tauchten in der Gegend Wohncontainer mit Geflüchteten auf. Mein Schwiegervater organisierte ein Tischtennisturnier mit ihnen. Aber der Ruf Bayerns, politisch sehr anders als der Rest der Bundesrepublik zu sein, ist hartnäckiger als Fakten. Die "Welt" schrieb sogar in einem Artikel: "Wer mit Bayern klarkommt, kann auch Europa".
Bayern hat vielleicht einen anderen Umgang mit dem Fremden, auch in seiner Sprache. Es möchte jedoch beides zugleich können, sehr eigen und sehr offen sein. Franz Weiß kann das auf jeden Fall.
"Also wir erhalten hier den Dialekt schon. Ich rede jetzt mit Ihnen weitestgehend hochdeutsch, weil ich viel Kunden habe, mit denen muss ich hochdeutsch reden. Aber wenn ich mit meinen Freunden beieinander bin, oder wenn ich mit bayerischen Kunden beieinander bin, dann rede ich bayerisch. Und da wo mein Sohn in der Schule ist, er ist in Gmund draußen auf der Realschule. In Deutsch sprechen sie deutsch, in Englisch englisch, aber im normalen Unterricht legen sie Wert darauf, dass bayerisch gesprochen wird."
Im Tegernseer Tal, zwischen dem Gmunder Berg im Norden und dem Ort Glashütte im Süden, spricht man abwechselnd mal ein bisschen oberbayerisch, mal ein bisschen hochdeutsch, mal ein bisschen englisch - und oft alles zugleich.

Werden die Chinesen die nächsten Tegernseer sein?

Wir Fremdsprachler müssen oft mit dem peinlichen Gefühl leben, dass unsere Aussprache unangenehm auffällt. Wenn ich mit Franz Weiß spreche, fühle ich mich völlig frei davon. Ich weiß, wir leben in derselben Welt.
"Die Welt hört nicht am Gmunder Berg auf und fängt in Glashütte wieder an. Sondern es ist heutzutage vernetzt, es ist rundum. Schon langsam kommen die Chinesen auf den Geschmack des Tegernseer Tals."
Also werden die nächsten Tegernseer Russen die Chinesen sein. Aber der See kennt das ja schon, er wird mit ihnen bestimmt genauso klarkommen wie mit meinen einstigen Landsleuten. Nach meiner Rückkehr vom Tegernsee sprach ich mit meiner Frau darüber, was ich dort erlebt hatte.
Ich bin immer noch nicht sicher, ob es mir gelungen ist, ihre Kindheit besser nachzuvollziehen. Ich weiß auch nicht, ob zwischen mir und dem oberbayerischen Landstrich ebenfalls eine bayerisch-russische Romanze entstehen wird. Isabella meinte:
"Ich selber bin ja nicht direkt im Tegernseer Tal aufgewachsen. Ich bin da zwar zur Schule gegangen, aber hatte immer eine gewisse Distanz zu diesem Leben im Tegernseer Tal. Das ist natürlich diese Super-Idylle, dieses Nest von reichen, wohlhabenden Menschen, das ist überhaupt nicht mein Bayern. So würde ich sagen. Bayern hat auch etwas Raues, und diese Anarcho-Kultur, die es immer schon gab. Das ist, was mich natürlich eher interessiert als die Schönheit des Tegernseer Tals, von der ich irgendwann versucht habe, wegzukommen. Wie die meisten Leute, die dort aufwachsen und das alles reflektieren, das Gefühl haben, das ist eine Kulisse, und da muss man irgendwann definitiv weg, um mehr zu entdecken in der Welt."

Eine russisch-bayerische Romanze - Im Tegernseer Tal in Oberbayern
Eine Deutschlandrundfahrt von Boris Schumatsky
Es sprachen: Elettra de Salvo und der Autor
Ton: Alexander Brennecke
Regie: Karena Lütge
Redaktion: Margarete Wohlan
Eine Produktion von Deutschlandfunk Kultur 2018

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