Im Streit mit dem ästhetischen Zeitgeist

Von Rolf Schneider |
Sieht man ab von der Entscheidung zur vorzeitigen Parlamentsauflösung, hat sich Bundespräsident Horst Köhler mit keiner seiner Äußerungen so viel Gehör verschafft wie mit jener zum Schillerjahr. Er verspüre das Bedürfnis, sagte er da, Schillers Stücke auf dem Theater so zu erleben, wie sie von Schiller gemeint seien. Die mutwilligen Deformationen bei Inszenierungen im heutigen Deutschland fanden sein Missfallen.
Als Reaktion erfolgte zunächst, erwartungsgemäß, die helle Empörung von Theaterleuten gegen solche Art von Kritik aus allerhöchstem Mund. Das Wort Zensur fiel zwar nicht, doch war deutlich, dass eben dies intendiert wurde. Nachdem sich die erste Aufregung gelegt hatte, fanden dann viele, der Bundespräsident habe laut geäußert, was auch sonst die verbreitete Meinung sei, und dies nicht nur beim namenlosen Publikum, sondern ebenso bei professionellen Vertretern des ästhetischen Zeitgeists. Seither häufen sich die gedruckten und gesendeten Mitteilungen des Unmuts über das so genannte Regietheater. Also jene mit Rockmusik, Video, Kartoffelsalat, Pinkeleimer und allerlei Aktualisierung ausgestattete inszenatorische Dekomposition, deren bekanntester Vertreter Frank Castorf heißt.

Noch freilich beherrscht sie unseren Bühnenalltag bis fast zur Ausschließlichkeit. Es dominieren das Hässliche und die Pansexualität. Regisseure stellen ihre privaten Neurosen auf die Bühne, unter bevorzugter Benutzung von Texten, die sich einer solchen Interpretation widersetzen, weswegen man dieselben zerschlagen muss. Als das Verfahren noch gänzlich neu war, reagierten Rezensenten, zweimal die Arbeitswoche dazu verdammt, eine Premiere abzusitzen, auf derlei Abweichung von der Stadttheaterroutine mit enthusiastischer Aufmerksamkeit. Hernach schrieben sie die Sache zum Ereignis hoch. Das Bildungsbürgertum oder das, was davon übrig ist oder sich dafür hält, mochte sich nicht lumpen lassen und als kunstkonservativ gelten. Daher suchte es die solcherart empfohlenen Aufführungen gehorsam auf, um sie ihrerseits und wahrheitswidrig für gut zu befinden. Regiedebüttanten, die Erfolg haben wollten, imitierten das Prinzip und sorgten so für dessen Multiplikation. Es gab nur wenige, die sich dieser mächtigen Strömung widersetzen mochten: Außer Provinzhäusern, die ihr Publikum nicht verprellen mochten, waren dies zum Beispiel die Regisseure Andrea Breth, in Dieter Dorn und Peter Zadeck.

Nun jedoch ergießt sich über die Castorf, Thalheim, Kriegenburg e tutti quanti derart viel an publizistischem Unmut, dass man von einem nahenden Ende reden kann. Somit ist es an der Zeit, eine erste Bilanz zu ziehen.

Im Anfang war der verständliche Wunsch von Theaterleuten, zu der kanonisierten und immer wieder gespielte Klassik auf unserer Sprechbühnen, den Dramen von Aischylos über Shakespeare und Goethe bis Kleist, einen neuen, einen zeitgenössischen Zugang zu finden. Man tat die Schauspieler in moderne Kostüme und ließ sie mit modernen Requisiten hantieren. Störungen durch den Text wurden getilgt und mit Aktualien ersetzt. Freilich war dieses Verfahren nicht gänzlich neu. Deutschsprachige Bühnen kennen es seit Beginn der Republik von Weimar. Völlig neu war hingegen, die Ausstattung nicht nur zeitgenössisch, sondern mit Zitaten aus höchst unterschiedlichen Epochen auszugestalten, um damit einen jeweiligen Rollencharakter zusätzlich zu kommentieren. Das blieb nicht ohne optischen Reiz. Allerdings tilgte es den Geschichtsgehalt und mündete in Beliebigkeit.

Nun lautet das Grundgesetz der Posthistoire, in der wir leben, anything goes. Das Regietheater klammerte sich daran. Es experimentierte, montierte, collagierte. Zufällige Probenergebnisse gediehen zu ästhetischen Höhenflügen. Die Fabel eines Stückes bot nur mehr Anlass, Haltungen auszustellen, Rückbezüge zum Text waren zufällig, willkürlich oder widersinnig. Zuletzt wurde kaum noch eine Geschichte erzählt. Stattdessen wurden Situationen vorgeführt. Vom eigentlichen Plot entfernte man sich immer mehr. Die Inszenierung gedieh zur Performance.

Dieser ästhetische Crossover ließ das alte Richard-Wagner-Ideal des Gesamtkunstwerkes ahnen, da sich hier die Nähe zum zeitgenössischen Tanztheater ebenso herstellt wie zu Praktiken der Bildenden Kunst. Es ist auch nicht zu leugnen, dass etliche Resultate ästhetischen Reiz verströmten, Arbeiten von Robert Wilson etwa und von Christoph Marthaler. Dass beide Regisseure von anderen Disziplinen herkommen, Wilson von Bildender Kunst und Lichtdesign, Marthaler von der Musik, dass auch beide ihre besten Produktionen mit Vorlagen gelangen, die von ihnen stammen, ist wohl kein Zufall. Inzwischen versuchen sich beide vermehrt an fremden Vorlagen. Prompt erreichte die Woge der Verrisse auch sie.

Was hinfort kommen wird? Wir wissen es nicht. Das Regietheater wird noch eine Weile wüten und dann verschwinden. Vielleicht orientiert sich unser Theatervolk künftig an England und Frankreich, wo es selbstverständlich ist, dass man, sämtlichen Annäherungen an zeitgenössische Bildkunst zum Trotz, zunächst einmal einen Stücktext bedient und auf dem Theater eine Geschichte erzählt. Nicht nur Bundespräsident Horst Köhler dürfte mit Dankbarkeit reagieren.


Rolf Schneider stammt aus Chemnitz. Er war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift Aufbau in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller. "Wegen groben Verstoßes gegen das Statut" wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem zuvor mit elf Schriftstellerkollegen in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte. Veröffentlichungen u. a. "November", "Volk ohne Trauer" und "Die Sprache des Geldes". Rolf Schneider schreibt gegenwärtig für eine Reihe angesehener Zeitungen und äußert sich insbesondere zu kultur- und gesellschaftspolitischen Themen.