Im Spiegel des Anderen
"Die Kenntnis des Anderen ist der Beginn der Toleranz”, sagt der jüdische Historiker Haim Zafrani, der sein ganzes Leben der Erforschung des kulturellen Dialogs zwischen Juden und Muslimen in Marokko und in Andalusien gewidmet hat. Die Ignoranz der Geschichte dagegen gebiert den Fanatismus und den Hass auf den Anderen, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Aktualität ganz zu bestimmen scheint.
Betrachtet man die Situation genauer, merkt man schnell, dass Ignoranz und Unkenntnis den Regierenden in vielen Ländern der Dritten Welt, aber auch in immer mehr Demokratien, durchaus nicht ungelegen kommen: Welches Volk wählt einen Präsidenten, der glaubt, die Welt in Gut und Böse unterteilen zu können?
"Es gibt keine Demokratien mehr," sagt der spanische Schriftsteller Rodrigo de Zayas "es gibt heute nur noch Mediokratien. Wer die Medien kontrolliert, hat die Macht."
"Der Frühling der Völker von 1989-1990 ist wieder eingefroren,” schrieb der Philosoph Edgar Morin 1993 in seinem Buch Terre-Patrie "die Keime der Freiheit sind dabei, zerstört zu werden. Die Große Barbarei ist wieder auf dem Vormarsch.” Die Große Barbarei ist für Morin heute nicht mehr nur das Werk von einzelnen Gewaltherrschern sondern vielmehr das ganze System des totalitären Kapitalismus, das die Welt nur noch als globalen Markt ansieht, wo jede Form der Andersartigkeit ausgemerzt werden muss, notfalls mit militärischen Mitteln. Die Vernichtung des Anderen bedeutet allerdings unseren eigenen Tod.
In der Philosophie der Tuareg ist die Begegnung mit seinem Alter Ego die Voraussetzung für die persönliche Entwicklung. Wer sich einkapselt und nur auf seine eigenen Denkstrukturen konzentriert, erstarrt und verfehlt sein Leben. Die Erweiterung des Individuums zum ganzen Menschen, der im Einklang mit den kosmischen Kräften agiert, ist nur möglich durch den Dialog mit dem Alter Ego. Für die Tuareg ist dies die eigentliche Bestimmung des Menschen. Das Alter Ego muss aber nicht unbedingt ein Mensch sein - bei der Durchquerung der Ténéréwüste zum Beispiel wird der Reisende mit dem Zwillingsuniversum Kel Essouf konfrontiert, wo die materielle Welt nur noch der Spiegel der geistigen Welt ist.
Der UNO-Sonderbeauftragte Jean Ziegler zitiert Kafka in seinem Buch ›Die neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher‹, das sich mit den Ursachen für Verarmung immer größerer Teile der Weltbevölkerung befasst: "Franz Kafka hat den rätselhaften Satz geschrieben: ›Fern, fern geht die Weltgeschichte vor sich, die Weltgeschichte deiner Seele‹. Ich bin der Andere, der Andere ist Ich. Er ist der Spiegel, der es dem Ich erlaubt, sich zu erkennen. Seine Zerstörung zerstört die Menschheit in mir. Sein Leiden, selbst wenn ich mich dagegen wehre, macht mich leiden. Heute nimmt die Not der Elenden immer mehr zu. Die Arroganz der Mächtigen wird unerträglich. Die Weltgeschichte meiner Seele gerät zum Albtraum. Aber auf den Flügeln der Taube naht die Revolution. Indem ich schreibe, kann ich dazu beitragen, die Dogmen der neuen Herrscher der Welt zu entkräften.”
Die Lange Nacht der Begegnungen ist ein Plädoyer für die Toleranz im globalen Zeitalter.
Harald Brandt
Auszug aus dem Manuskript:
Liebe Cristina,
vielen Dank für den Vorschlag einer Zusammenarbeit. Es wird nicht einfach sein, das Thema genau zu definieren - geht es nicht immer um den Anderen ?! Das Alter Ego, das Doppel, die Erfahrung des Andersseins ... um sich selbst zu erkennen, muss man die Position des Anderen einnehmen. Wenn Du einverstanden bist, möchte ich meinen Beitrag nicht nur auf Personen beschränken. Der Andere, das können auch Orte oder Situationen sein, die Zugang zu einer anderen Dimension eröffnen. Türen, die sich öffnen ...
Ich bin schon auf dem Weg nach Marokko - du erinnerst dich vielleicht, dass ich eine größere Recherche über die arabo-andalusische Kultur vor mir habe. Ich werde einige Tage in Paris bleiben und in verschiedenen Bibliotheken arbeiten. Im Moment sitze ich in meinem Lieblingscafé auf der Ile Saint Louis, direkt an der Brücke, die zur Ile de la Cité und Notre Dame hinüberführt. Die Gegend ist sehr touristisch, aber dieses Café ist einfach geblieben. Gemischtes Publikum, viele Einheimische, Menschen, die hier wohnen ...
Ich werde dir also ein paar Texte zuschicken. Du solltest meinen Freund Hawad treffen, er könnte dir viel über den Platz erzählen, den »Der Andere« in der Tuaregphilosophie einnimmt. Die Begegnung mit seinem Alter Ego ist das zentrale Thema bei den Nomaden der Sahara. Ich habe meine Festplatte durchstöbert und noch einmal die Texte gelesen, die er nach unserer Reise im Jahr 1999 durch das Gebirge des Air im nördlichen Niger schrieb. Hawad ist Tuareg, er kommt aus dieser Region, lebt aber schon seit vielen Jahren in Südfrankreich.
Wenn ich lang genug in diesem Café sitzenbleibe, werde ich vielleicht auch mein Alter Ego treffen. Du kennst sicher das Alexandria Quartett von Lawrence Durrell ?! Viermal erzählt er mehr oder weniger dieselbe Geschichte, jedesmal aus der Perspektive eines anderen Protagonisten. Durrell verbrachte seine letzten Lebensjahre in der Nähe von Avignon, hier schrieb er ein kleines Buch, das weniger bekannt ist : Das Lächeln des Tao. Ich habe es heute morgen aus der Bibliothek des Goethe Instituts geholt. Ein Freund von mir hat es vor ein paar Jahren übersetzt.
Es geht um die Begegnung zwischen Durrell und einen chinesischen Gelehrten, der ein Buch über den Taoismus schreibt. Die Beiden verbringen drei Tage in Durrells Haus in Südfrankreich, sie kochen zusammen, sie reden über Gott und die Welt, sie werden Komplizen.
Lawrence Durrell
Das Lächeln des Tao.
1997. -SUHRKAMP-
Auszug aus dem Manuskript:
Neben meinem Laptop, der Kaffeetasse und dem Lächeln des Tao liegt noch eine weiteres Buch, das gut zu unserem Thema passt :
Die Signatur des Feuers von Blaise Cendrars
Als der Schweizer Autor in den zwanziger Jahren von Dreharbeiten aus Afrika zurückkommt, entdeckt er Marseille. Er ist fasziniert, weil die Stadt wie ein Spiegel ist, in dem er sich selbst sieht.
Das Marseille, das Cendrars beschreibt gibt es nicht mehr, und doch ist Marseille immer noch eine Stadt, in der viele Menschen ihre Entsprechung finden.
Blaise Cendrars
Die Signatur des Feuers
2000. -LENOS-
Auszug aus dem Manuskript:
Hawad, Lawrence Durrell und Blaise Cendrars - ein Tuareg, der mit einer französischen Ethnologin verheiratet ist und in Aix-en-Provence lebt, ein englischer Schriftsteller aus der Kronkolonie Indien, der lange Zeit auf Rhodos verbrachte und ein schweizer Weltreisender, der das Geheimnis von Marseille erforschte : Ich könnte mir vorstellen, dass alle drei hier am Tresen stehen und über die Begegnung mit dem Anderen debattieren.
Wenn unser Gespräch via Internet wirklich zu einem gemeinsamen Projekt führt, Cristina, sollten wir Cendrars und Durrell, die beide schon die Tür zu einem anderen Universum durchschritten haben, noch einmal zurückholen und diese Szene hier drehen ! In einem alten Pariser Café im Herzen der Stadt auf einer Insel in der Seine.
Antonio Tabucchi
Indisches Nachtstück
Und ein Briefwechsel.
1994. -HANSER-
Die Geschichte einer Suche. Einer fährt nach Indien um einen ehemaligen Freund zu treffen, einen Portugiesen, der auf geheimnisvolle Weise verschollen ist. Nachrichten, Briefe, verschlüsselte Botschaften lassen ihn von Bombay über Madras bis nach Goa reisen, wobei der Anlaß der Reise mehr und mehr verschwimmt. Sucht der Autor nach einem Doppelgänger oder nach sich selbst - oder erschöpft sich der Sinn der Reise im Unterwegssein, an dessen Ende ein Buch steht? Am Ende sitzt der Erzähler mit einer Reisebekanntschaft auf einer Hotelterrasse und erzählt den Inhalt des Romans, an dem er gerade schreibt: die Geschichte der Suche nach einem Mann, der in Indien verlorengegangen ist. Und plötzlich sieht er ihn, den anderen, ein paar Tische weiter.
Auszug aus dem Manuskript:
Das dritte Buch, aus dem ich dir heute Auszüge zuschicke, ist auch verfilmt worden. Nocturne Indien von Alain Corneau. Die literarische Vorlage heißt Indisches Nachtstück und stammt von dem italienischen Schriftsteller Antonio Tabucchi. Sein Erzähler ist in Indien unterwegs, er sucht einen Freund, der seit mehreren Monaten kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben hat. Aber je länger der Erzähler durch den Subkontinent reist, desto weniger weiß der Leser, ob es diesen Freund wirklich gibt.
Auszug aus dem Manuskript:
Liebe Cristina,
Rodrigo ruft mich zum Abendessen, ich schicke dir noch schnell einen Ausschnitt aus Tarquin Halls faszinierender Reportage. Darin wird das Ende des Einzelgängers beschrieben. Aber keiner freut sich über den Tod des Tieres, obwohl es mehrere Menschenleben auf dem Gewissen hat. Die Jäger wissen mittlerweile, dass dieser Elefant kein Wildtier ist, sondern ein ehemaliger Arbeitselefant, der bösartig wurde, weil er jahrelang von seinem Führer schwer misshandelt worden war. Das Buch stimmt traurig, weil es zeigt, wie wenig Chancen die Elefanten haben, wenn ihr Lebensraum immer mehr eingeschränkt wird. Aber Hall zeigt auch, ohne es explizit zu sagen, wie arm unser menschliches Leben sein wird, wenn wir alle anderen Formen der Intelligenz auf diesem Planeten ausgerottet haben werden. Ohne die Begegnung mit dem Anderen gibt es keine Entwicklung, sagen die Tuareg. Was passiert, wenn der Spiegel des Anderen leer bleibt?
Tarquin Hall
Wo die Elefanten sterben.
Knaur Taschenbücher Nr.62108. 2002. 320 S., Abb. auf Taf. 18,5 cm. Kartoniert. 214gr.
ISBN: 3-426-62108-8, KNO-NR: 10 21 47 17
-DROEMER/KNAUR-
Eine Liebeserklärung an die Dickhäuter Indiens!
Ein Arbeitselefant im Nordosten Indiens wird von seinem Besitzer grausam gequält, bricht aus und tötet auf seiner Flucht Dutzende von Menschen. Der britische Journalist Tarquin Hall nahm an der Jagd auf die unglückliche Kreatur teil, auf der er viel über Indien, seine Menschen, seine Kultur und Religion und vor allem über seine geheimnisvollen Elefanten erfuhr. Er wird Zeuge der großen Achtung und Liebe, mit der die Menschen diesen Tieren begegnen, und gerät immer mehr in den Bann dieses fremdartigen Landes. Ein faszinierendes Buch über Indien voller spannender und skurriler Begebenheiten und einem guten Schuss Humor.
Tarquin Hall
Wo die Elefanten sterben
2 Cassetten
Gek. Fass. ca. 210 Min.. Sprecher: Stephan Benson, Matthias Fuchs u. Stefan Kurt.
Hörbücher. 2001 -HOFFMANN & CAMPE-
Weitere Literaturtipps:
Edgar Morin
Die sieben Fundamente des Wissens für eine Erziehung der Zukunft
2001. 142 S. 21 cm. Kartoniert. 245gr.
ISBN: 3-89622-043-8, KNO-NR: 09 74 90 52
-KRÄMER, HAMBURG-
In seinem neuesten Werk, Une politique de civilisation, vertieft Edgar Morin die bereits in Terre-Patrie (Vaterland Erde) angestellten Analysen und ruft zu einem grundlegenden Überdenken der Politik und unseres gesamten Denkens auf, um die allgegenwärtige, die gesamte Erde erfassende Krise zu überwinden, in der wir stecken.
Gespräch mit Edgar Morin
Jean Ziegler
Die neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher
2003. -BERTELSMANN, MÜNCHEN-
Alle sieben Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren - 826 Millionen Menschen sind permanent schwer unterernährt: Und dies auf einem Planeten, der vor Reichtum überquillt.
Die neuen Herrscher der Welt - die Beutejäger des globalisierten Finanzkapitals, die Barone der transkontinentalen Konzerne, die Börsenspekulanten - häufen ungeheure Vermögen an. Mit ihrem Tun zerstören sie den Staat, verwüsten die Natur und entscheiden jeden Tag darüber, wer sterben muss und wer überleben darf. Willfährige, effiziente Verbündete stehen ihnen zu Diensten, allen voran die Funktionäre der Welthandelsorganisation, der Weltbank und des Weltwährungsfonds. Gegen die mörderische Ordnung dieser Herrscher und ihre absurde Doktrin von der Selbstregulierung der Märkte regt sich Widerstand. Überall, auch in Deutschland. Neue, bislang völlig unbekannte Sozialbewegungen schießen aus dem Boden. Sie kämpfen gegen die Herrscher für eine menschenwürdige Welt - die neue planetarische Zivilgesellschaft ist die Hoffnung der Völker.
Jean Ziegler
Wie kommt der Hunger in die Welt?
Ein Gespräch mit meinem Sohn.
2002. -GOLDMANN-
Warum hungern in Afrika, Asien, Lateinamerika und selbst in Osteuropa Millionen von Menschen? Warum gibt es andererseits Regionen, in denen Nahrungsmittel vernichtet werden? Wie entsteht dieses Ungleichgewicht und wer trägt die Verantwortung dafür? Jean Ziegler stellt sich den bohrenden Fragen seines Sohnes, warum die Reichen immer reicher werden und sich gleichzeitig der Hunger immer weiter ausbreitet. Denn jährlich verhungern 30 Millionen Menschen, Hunderte von Millionen sterben an den Folgen von Krankheiten, Epidemien und Mangelerscheinungen infolge von Unterernährung und dies, obwohl die weltweit produzierten Nahrungsmittel für über 12 Milliarden Menschen ausreichen würden. Der politisch gerade für die Menschen in der so genannten Dritten Welt engagierte Autor hat sich vor Ort ein Bild verschafft und erkannt: Hunger ist kein Schicksal, sondern Menschenwerk. Zieglers Buch ist ein einfühlsamer Frage-Antwort-Dialog, ein engagierter Appell gegen die Gleichgültigkeit, ohne Larmoyanz und falsche Betroffenheit, aufrüttelnd in seinem Engagement und Zorn gegen die Verantwortlichen.
"Es gibt keine Demokratien mehr," sagt der spanische Schriftsteller Rodrigo de Zayas "es gibt heute nur noch Mediokratien. Wer die Medien kontrolliert, hat die Macht."
"Der Frühling der Völker von 1989-1990 ist wieder eingefroren,” schrieb der Philosoph Edgar Morin 1993 in seinem Buch Terre-Patrie "die Keime der Freiheit sind dabei, zerstört zu werden. Die Große Barbarei ist wieder auf dem Vormarsch.” Die Große Barbarei ist für Morin heute nicht mehr nur das Werk von einzelnen Gewaltherrschern sondern vielmehr das ganze System des totalitären Kapitalismus, das die Welt nur noch als globalen Markt ansieht, wo jede Form der Andersartigkeit ausgemerzt werden muss, notfalls mit militärischen Mitteln. Die Vernichtung des Anderen bedeutet allerdings unseren eigenen Tod.
In der Philosophie der Tuareg ist die Begegnung mit seinem Alter Ego die Voraussetzung für die persönliche Entwicklung. Wer sich einkapselt und nur auf seine eigenen Denkstrukturen konzentriert, erstarrt und verfehlt sein Leben. Die Erweiterung des Individuums zum ganzen Menschen, der im Einklang mit den kosmischen Kräften agiert, ist nur möglich durch den Dialog mit dem Alter Ego. Für die Tuareg ist dies die eigentliche Bestimmung des Menschen. Das Alter Ego muss aber nicht unbedingt ein Mensch sein - bei der Durchquerung der Ténéréwüste zum Beispiel wird der Reisende mit dem Zwillingsuniversum Kel Essouf konfrontiert, wo die materielle Welt nur noch der Spiegel der geistigen Welt ist.
Der UNO-Sonderbeauftragte Jean Ziegler zitiert Kafka in seinem Buch ›Die neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher‹, das sich mit den Ursachen für Verarmung immer größerer Teile der Weltbevölkerung befasst: "Franz Kafka hat den rätselhaften Satz geschrieben: ›Fern, fern geht die Weltgeschichte vor sich, die Weltgeschichte deiner Seele‹. Ich bin der Andere, der Andere ist Ich. Er ist der Spiegel, der es dem Ich erlaubt, sich zu erkennen. Seine Zerstörung zerstört die Menschheit in mir. Sein Leiden, selbst wenn ich mich dagegen wehre, macht mich leiden. Heute nimmt die Not der Elenden immer mehr zu. Die Arroganz der Mächtigen wird unerträglich. Die Weltgeschichte meiner Seele gerät zum Albtraum. Aber auf den Flügeln der Taube naht die Revolution. Indem ich schreibe, kann ich dazu beitragen, die Dogmen der neuen Herrscher der Welt zu entkräften.”
Die Lange Nacht der Begegnungen ist ein Plädoyer für die Toleranz im globalen Zeitalter.
Harald Brandt
Auszug aus dem Manuskript:
Liebe Cristina,
vielen Dank für den Vorschlag einer Zusammenarbeit. Es wird nicht einfach sein, das Thema genau zu definieren - geht es nicht immer um den Anderen ?! Das Alter Ego, das Doppel, die Erfahrung des Andersseins ... um sich selbst zu erkennen, muss man die Position des Anderen einnehmen. Wenn Du einverstanden bist, möchte ich meinen Beitrag nicht nur auf Personen beschränken. Der Andere, das können auch Orte oder Situationen sein, die Zugang zu einer anderen Dimension eröffnen. Türen, die sich öffnen ...
Ich bin schon auf dem Weg nach Marokko - du erinnerst dich vielleicht, dass ich eine größere Recherche über die arabo-andalusische Kultur vor mir habe. Ich werde einige Tage in Paris bleiben und in verschiedenen Bibliotheken arbeiten. Im Moment sitze ich in meinem Lieblingscafé auf der Ile Saint Louis, direkt an der Brücke, die zur Ile de la Cité und Notre Dame hinüberführt. Die Gegend ist sehr touristisch, aber dieses Café ist einfach geblieben. Gemischtes Publikum, viele Einheimische, Menschen, die hier wohnen ...
Ich werde dir also ein paar Texte zuschicken. Du solltest meinen Freund Hawad treffen, er könnte dir viel über den Platz erzählen, den »Der Andere« in der Tuaregphilosophie einnimmt. Die Begegnung mit seinem Alter Ego ist das zentrale Thema bei den Nomaden der Sahara. Ich habe meine Festplatte durchstöbert und noch einmal die Texte gelesen, die er nach unserer Reise im Jahr 1999 durch das Gebirge des Air im nördlichen Niger schrieb. Hawad ist Tuareg, er kommt aus dieser Region, lebt aber schon seit vielen Jahren in Südfrankreich.
Wenn ich lang genug in diesem Café sitzenbleibe, werde ich vielleicht auch mein Alter Ego treffen. Du kennst sicher das Alexandria Quartett von Lawrence Durrell ?! Viermal erzählt er mehr oder weniger dieselbe Geschichte, jedesmal aus der Perspektive eines anderen Protagonisten. Durrell verbrachte seine letzten Lebensjahre in der Nähe von Avignon, hier schrieb er ein kleines Buch, das weniger bekannt ist : Das Lächeln des Tao. Ich habe es heute morgen aus der Bibliothek des Goethe Instituts geholt. Ein Freund von mir hat es vor ein paar Jahren übersetzt.
Es geht um die Begegnung zwischen Durrell und einen chinesischen Gelehrten, der ein Buch über den Taoismus schreibt. Die Beiden verbringen drei Tage in Durrells Haus in Südfrankreich, sie kochen zusammen, sie reden über Gott und die Welt, sie werden Komplizen.
Lawrence Durrell
Das Lächeln des Tao.
1997. -SUHRKAMP-
Auszug aus dem Manuskript:
Neben meinem Laptop, der Kaffeetasse und dem Lächeln des Tao liegt noch eine weiteres Buch, das gut zu unserem Thema passt :
Die Signatur des Feuers von Blaise Cendrars
Als der Schweizer Autor in den zwanziger Jahren von Dreharbeiten aus Afrika zurückkommt, entdeckt er Marseille. Er ist fasziniert, weil die Stadt wie ein Spiegel ist, in dem er sich selbst sieht.
Das Marseille, das Cendrars beschreibt gibt es nicht mehr, und doch ist Marseille immer noch eine Stadt, in der viele Menschen ihre Entsprechung finden.
Blaise Cendrars
Die Signatur des Feuers
2000. -LENOS-
Auszug aus dem Manuskript:
Hawad, Lawrence Durrell und Blaise Cendrars - ein Tuareg, der mit einer französischen Ethnologin verheiratet ist und in Aix-en-Provence lebt, ein englischer Schriftsteller aus der Kronkolonie Indien, der lange Zeit auf Rhodos verbrachte und ein schweizer Weltreisender, der das Geheimnis von Marseille erforschte : Ich könnte mir vorstellen, dass alle drei hier am Tresen stehen und über die Begegnung mit dem Anderen debattieren.
Wenn unser Gespräch via Internet wirklich zu einem gemeinsamen Projekt führt, Cristina, sollten wir Cendrars und Durrell, die beide schon die Tür zu einem anderen Universum durchschritten haben, noch einmal zurückholen und diese Szene hier drehen ! In einem alten Pariser Café im Herzen der Stadt auf einer Insel in der Seine.
Antonio Tabucchi
Indisches Nachtstück
Und ein Briefwechsel.
1994. -HANSER-
Die Geschichte einer Suche. Einer fährt nach Indien um einen ehemaligen Freund zu treffen, einen Portugiesen, der auf geheimnisvolle Weise verschollen ist. Nachrichten, Briefe, verschlüsselte Botschaften lassen ihn von Bombay über Madras bis nach Goa reisen, wobei der Anlaß der Reise mehr und mehr verschwimmt. Sucht der Autor nach einem Doppelgänger oder nach sich selbst - oder erschöpft sich der Sinn der Reise im Unterwegssein, an dessen Ende ein Buch steht? Am Ende sitzt der Erzähler mit einer Reisebekanntschaft auf einer Hotelterrasse und erzählt den Inhalt des Romans, an dem er gerade schreibt: die Geschichte der Suche nach einem Mann, der in Indien verlorengegangen ist. Und plötzlich sieht er ihn, den anderen, ein paar Tische weiter.
Auszug aus dem Manuskript:
Das dritte Buch, aus dem ich dir heute Auszüge zuschicke, ist auch verfilmt worden. Nocturne Indien von Alain Corneau. Die literarische Vorlage heißt Indisches Nachtstück und stammt von dem italienischen Schriftsteller Antonio Tabucchi. Sein Erzähler ist in Indien unterwegs, er sucht einen Freund, der seit mehreren Monaten kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben hat. Aber je länger der Erzähler durch den Subkontinent reist, desto weniger weiß der Leser, ob es diesen Freund wirklich gibt.
Auszug aus dem Manuskript:
Liebe Cristina,
Rodrigo ruft mich zum Abendessen, ich schicke dir noch schnell einen Ausschnitt aus Tarquin Halls faszinierender Reportage. Darin wird das Ende des Einzelgängers beschrieben. Aber keiner freut sich über den Tod des Tieres, obwohl es mehrere Menschenleben auf dem Gewissen hat. Die Jäger wissen mittlerweile, dass dieser Elefant kein Wildtier ist, sondern ein ehemaliger Arbeitselefant, der bösartig wurde, weil er jahrelang von seinem Führer schwer misshandelt worden war. Das Buch stimmt traurig, weil es zeigt, wie wenig Chancen die Elefanten haben, wenn ihr Lebensraum immer mehr eingeschränkt wird. Aber Hall zeigt auch, ohne es explizit zu sagen, wie arm unser menschliches Leben sein wird, wenn wir alle anderen Formen der Intelligenz auf diesem Planeten ausgerottet haben werden. Ohne die Begegnung mit dem Anderen gibt es keine Entwicklung, sagen die Tuareg. Was passiert, wenn der Spiegel des Anderen leer bleibt?
Tarquin Hall
Wo die Elefanten sterben.
Knaur Taschenbücher Nr.62108. 2002. 320 S., Abb. auf Taf. 18,5 cm. Kartoniert. 214gr.
ISBN: 3-426-62108-8, KNO-NR: 10 21 47 17
-DROEMER/KNAUR-
Eine Liebeserklärung an die Dickhäuter Indiens!
Ein Arbeitselefant im Nordosten Indiens wird von seinem Besitzer grausam gequält, bricht aus und tötet auf seiner Flucht Dutzende von Menschen. Der britische Journalist Tarquin Hall nahm an der Jagd auf die unglückliche Kreatur teil, auf der er viel über Indien, seine Menschen, seine Kultur und Religion und vor allem über seine geheimnisvollen Elefanten erfuhr. Er wird Zeuge der großen Achtung und Liebe, mit der die Menschen diesen Tieren begegnen, und gerät immer mehr in den Bann dieses fremdartigen Landes. Ein faszinierendes Buch über Indien voller spannender und skurriler Begebenheiten und einem guten Schuss Humor.
Tarquin Hall
Wo die Elefanten sterben
2 Cassetten
Gek. Fass. ca. 210 Min.. Sprecher: Stephan Benson, Matthias Fuchs u. Stefan Kurt.
Hörbücher. 2001 -HOFFMANN & CAMPE-
Weitere Literaturtipps:
Edgar Morin
Die sieben Fundamente des Wissens für eine Erziehung der Zukunft
2001. 142 S. 21 cm. Kartoniert. 245gr.
ISBN: 3-89622-043-8, KNO-NR: 09 74 90 52
-KRÄMER, HAMBURG-
In seinem neuesten Werk, Une politique de civilisation, vertieft Edgar Morin die bereits in Terre-Patrie (Vaterland Erde) angestellten Analysen und ruft zu einem grundlegenden Überdenken der Politik und unseres gesamten Denkens auf, um die allgegenwärtige, die gesamte Erde erfassende Krise zu überwinden, in der wir stecken.
Gespräch mit Edgar Morin
Jean Ziegler
Die neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher
2003. -BERTELSMANN, MÜNCHEN-
Alle sieben Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren - 826 Millionen Menschen sind permanent schwer unterernährt: Und dies auf einem Planeten, der vor Reichtum überquillt.
Die neuen Herrscher der Welt - die Beutejäger des globalisierten Finanzkapitals, die Barone der transkontinentalen Konzerne, die Börsenspekulanten - häufen ungeheure Vermögen an. Mit ihrem Tun zerstören sie den Staat, verwüsten die Natur und entscheiden jeden Tag darüber, wer sterben muss und wer überleben darf. Willfährige, effiziente Verbündete stehen ihnen zu Diensten, allen voran die Funktionäre der Welthandelsorganisation, der Weltbank und des Weltwährungsfonds. Gegen die mörderische Ordnung dieser Herrscher und ihre absurde Doktrin von der Selbstregulierung der Märkte regt sich Widerstand. Überall, auch in Deutschland. Neue, bislang völlig unbekannte Sozialbewegungen schießen aus dem Boden. Sie kämpfen gegen die Herrscher für eine menschenwürdige Welt - die neue planetarische Zivilgesellschaft ist die Hoffnung der Völker.
Jean Ziegler
Wie kommt der Hunger in die Welt?
Ein Gespräch mit meinem Sohn.
2002. -GOLDMANN-
Warum hungern in Afrika, Asien, Lateinamerika und selbst in Osteuropa Millionen von Menschen? Warum gibt es andererseits Regionen, in denen Nahrungsmittel vernichtet werden? Wie entsteht dieses Ungleichgewicht und wer trägt die Verantwortung dafür? Jean Ziegler stellt sich den bohrenden Fragen seines Sohnes, warum die Reichen immer reicher werden und sich gleichzeitig der Hunger immer weiter ausbreitet. Denn jährlich verhungern 30 Millionen Menschen, Hunderte von Millionen sterben an den Folgen von Krankheiten, Epidemien und Mangelerscheinungen infolge von Unterernährung und dies, obwohl die weltweit produzierten Nahrungsmittel für über 12 Milliarden Menschen ausreichen würden. Der politisch gerade für die Menschen in der so genannten Dritten Welt engagierte Autor hat sich vor Ort ein Bild verschafft und erkannt: Hunger ist kein Schicksal, sondern Menschenwerk. Zieglers Buch ist ein einfühlsamer Frage-Antwort-Dialog, ein engagierter Appell gegen die Gleichgültigkeit, ohne Larmoyanz und falsche Betroffenheit, aufrüttelnd in seinem Engagement und Zorn gegen die Verantwortlichen.