Im Spätflieger nach Hause

Von Martin Tschechne |
Immer mehr Menschen arbeiten nicht in der Nähe ihres Wohnortes, sondern oft gleich mehrere hundert Kilometer entfernt. Doch die Bereitschaft, der Arbeit hinterher zu fahren – ob nun aus Ehrgeiz oder aus Not, hat einen hohen persönlichen Preis, meint der Publizist Martin Tschechne.
Nach ein paar Wochen kennt man einander. Montags um sechs, der erste Flug nach München oder Düsseldorf – nicht die Zeit und nicht der Ort, um ein freundliches Gespräch anzufangen. Dabei sind es immer dieselben Gesichter, die sich im Wartesaal hinter ihrem Laptop verschanzen, Balkendiagramme auf dem Bildschirm, um zu signalisieren: Lasst mich bloß in Ruhe.

Es ist ja nicht so, dass hier eine Schar glücklicher, gut erholter und noch vom Wochenende erfüllter Menschen darauf wartete, nun endlich abzuheben – nein, wer hier eingecheckt hat, ist aufgestanden um halb fünf, hat sich von den Kindern schon am Sonntagabend verabschiedet, um wieder für eine Woche zur Arbeit in eine andere Stadt zu reisen.

An einen Arbeitsplatz, der zu fremd ist oder zu unsicher, um sich mit ihm und in seiner Nähe ein neues Leben einzurichten. Soll man für einen befristeten Job auf einem Schleudersitz sein ganzes Leben in den Möbelwagen packen? Hunderttausende von Arbeitnehmern in Deutschland pendeln zwischen Wohnort und Arbeit. Und gerade die Zahl derer wächst, die sich dabei auf die lange Strecke begeben.

Denn es sind nicht etwa nur EU-Beamte, Seeleute oder Handelsvertreter, die Beruf und Familienleben nicht mehr unter einen Deckel kriegen. Es sind Handwerker, Buchhalter oder Hochschullehrer, die von Mecklenburg in die Schweiz pendeln und nur alle paar Wochen mal ihre Familie sehen, oder täglich mit dem ICE von Berlin nach Hamburg. Zwei Stunden, eine Strecke. Hin und zurück vier. Plus der Weg vom und zum Bahnhof. Und das jeden Tag, fünf Tage die Woche. Wie gesagt: Nach ein paar Wochen kennt man die Leidensgenossen.

Was das kostet? Ein paar Tausend Euro für ein Ganzjahres-Ticket bei der Bahn oder für viele einzelne Flüge. Ein Auto, das sehr rasch sehr viele Kilometer auf dem Buckel hat. An die Umweltbelastung denkt man besser gar nicht: Millionen und Abermillionen hin und her gependelter Kilometer kommen da zusammen; Autobahnbau, Flugplätze, Energieverbrauch, Schadstoffe. Vielleicht lässt sich das alles nicht ändern: Der Arbeitsplatz liegt 800 Kilometer entfernt, und Montag früh wartet die Planungskonferenz.

Aber damit sind die Kosten nicht abgedeckt. Was hinzu kommt, lässt sich nach einer sehr einfachen Formel berechnen: Die Zeit, die einer im Zug, auf dem Flughafen oder auf der Straße verbringt, geht ihm verloren für die Familie, für den Kontakt zu Freunden, für ein Ehrenamt, für Teilhabe an der Gemeinschaft. Zur Forderung von Ärzten und Psychologen, eine gesunde Balance zwischen Arbeit und Freizeit zu halten, steht ein solcher Lebensstil ohnehin wie ein zielsicher ausgearbeitetes Gegenprogramm.

Wer pendelt, lebt auf Kredit bei seiner Gesundheit. Und irgendwann muss er zurückzahlen. Vor allem aber lebt ein Pendler auf Kredit bei seiner Umgebung. Wer pendelt, kann sich nicht in der Nachbarschaft engagieren, kann nicht die Jugendmannschaft im Fußballverein trainieren, zum Elternsprechtag in der Schule gehen oder im Gemeinderat mitarbeiten. Dabei ist genau das der Kitt, der die Gemeinschaft auf lange Sicht zusammen hält. So fordert es auch die Politik: Bürger sollen Verantwortung übernehmen. Ja, wie denn?

Hier kommt nun doch der Arbeitsplatz wieder ins Spiel. Wer nämlich nicht in Balkendiagrammen denkt, sondern in Netzwerken, der weiß, dass eines zum anderen gehört. Die Lebensperspektive zum Engagement, das Umfeld zur Leistungsfähigkeit, gelebte Gemeinsamkeit zum Erfolg. Wer das erkannt hat, der fördert solche Strukturen. Denn Nachhaltigkeit ist ein Gedanke, der auch beim Umgang mit Menschen seine Rolle spielt.

Und er wird umso wichtiger, je knapper gute, ausgeglichene und zur Verantwortung bereite Arbeitskräfte werden – und sie werden knapp! Ein fester Vertrag, der beiden Seiten Planungssicherheit bietet, wäre da nur ein Anfang. Und könnte sich schon sehr bald als entscheidender Vorteil im Wettbewerb erweisen.

Aber bis diese Erkenntnis sich durchsetzt, warten weiterhin Tausende von Pendlern am Freitagabend auf den Spätflieger nach Hause. Ein knappes Wochenende lang Papa sein, Ehepartner. Zum Freund, Kegelbruder oder Kirchenvorstand reicht die Zeit schon nicht mehr.

Martin Tschechne ist Journalist und lebt in Hamburg. Er promovierte als Psychologe mit einer Arbeit zum Thema Hochbegabte. Zuletzt erschien seine Biografie des Begabungsforschers William Stern im Verlag Ellert & Richter (herausgegeben von der ZEIT- Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius).
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