Im Schatten des Latte-Macchiato-Berlin

18.02.2013
Inger-Maria Mahlke beschreibt in "Rechnung offen" ein Berliner Zerfallsmoment. Präzise beleuchtet sie Einzelschicksale in einem Neuköllner Mietshaus – kurz vor dessen Abbruch. Das Buch ist grausam, trostlos und doch auch warmherzig.
Berlin, das ist diese Stadt, in der alle an Projekten arbeiten, den ganzen Tag im Designer-Café sitzen und abends in ihren Altbau-Wohnungen mit Stuckdecke und Eichenparkett schweren italienischen Rotwein trinken. So zumindest kommt Berlin sehr häufig in der jüngeren deutschen Literatur vor. Das Berlin, das Inger-Maria Mahlke in ihrem neuen Roman "Rechnung offen" beschreibt, ist ein anderes, eins mit einfrierenden Heizungsrohren und abblätternden Tapeten, das aber durchaus bereits im Schatten des Latte-Macchiato-Berlin liegt.

Ähnlich wie Georges Perec in "Das Leben. Gebrauchsanweisung" beschreibt Mahlke die verschiedenen Parteien eines – noch unsanierten Neuköllner Mietshauses. Und wie bei Perec entsteht aus den Einzelschicksalen das Bild eines festgehaltenen Moments, hier eines Zerfallsmoments, kurz bevor die Anstreicher anrücken. Das schreckliche Wort "Gentrifizierung" wird im Roman nirgends erwähnt, aber trotzdem liest man es auf jeder Seite mit.

Aber Mahlke hat keine sozialkritische Studie geschrieben, sondern im Zentrum des Buches stehen ihre Figuren: die alte Frau, die am heutigen Leben nicht mehr teilhat und sich immer mehr in ein früheres zurückzieht. Der neunjährige Junge und seine depressive Mutter, die sich kaum um ihn kümmert. Die nordafrikanischen Dealer im Erdgeschoss. Ebba, die drogensüchtige Tochter des Vermieters Claas, der kurzzeitig selbst ins Haus zieht. Seine Frau schmeißt ihn nämlich raus, weil er kaufsüchtig ist und der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht. Sie alle haben mit dem Leben die eine oder andere "Rechnung offen", und im Buch sieht es auch nicht so aus, als würden die beglichen. Claas zum Beispiel verliert Frau, Tochter und Wohnung, wird beinahe der fahrlässigen Tötung angeklagt. Und nachdem er zumindest Wohnung und Frau partiell wiedergewonnen hat, setzt er sich an den Computer und gibt wieder der Kaufsucht nach.

Inger-Maria Mahlkes Buch ist grausam, noch grausamer als ihr Debüt "Silberfischchen", weil sie in "Rechnung offen" ganze Berge von Trostlosigkeit auftürmt. Merkwürdigerweise ist das Buch trotzdem warmherzig, denn bei aller Distanz zu ihnen steht Mahlke doch eindeutig auf der Seite ihrer Figuren.

Das Entscheidende ist aber nicht, dass Mahlke ohne verlogenes Mitleid oder Sozialromantik ein Milieu beschreibt, das immer mehr aus den Innenstädten gedrängt wird – obwohl allein das schon verdienstvoll ist. Vor allem beweist Inger-Maria Mahlke mit ihrem zweiten Roman endgültig, dass sie eine große Stilistin und Atmosphärikerin ist. Ihre Situationsbeschreibungen sind detailliert und ungeheuer plastisch: "Speichel sammelte sich in seinem Mund, er öffnete die Lippen, ließ ihn hinausrinnen, sah zu, wie die Tropfen aufschlugen, dunkle glänzende Flecke auf den Pflastersteinen, Bläschen obendrauf."

Die Autorin hat in einem Interview mal gesagt, dass nichts sie glücklicher mache als ein perfekter Satz. Und vielleicht gibt es ein paar zu viele perfekt konstruierte Sätze in diesem Buch, besonders zu Beginn ein Übergewicht dieser so deutlichen Beschreibungen, dass zunächst kein rechter Erzählfluss entsteht. Aber es ist ja nur konsequent, dass das Buch ein bisschen widerborstig ist. Seine Protagonisten sind es auch. Und zu große Perfektion – das ist wahrlich ein Luxusproblem.

Besprochen von Dina Netz

Inger Maria Mahlke: Rechnung offen
Berlin Verlag, Berlin 2013
284 Seiten, 19,99 Euro
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