Im Sandkasten der Erinnerung

Von Stefan Keim |
Der Titel des Theaterstücks, mit dem das Mühlheimer Festival „Weiße Nächte 2008“ eröffnet wurde, ist kryptisch: „Wer hat meine Schuhe vergraben?“ heißt die Inszenierung von Roberto Ciulli, die fast ohne Worte auskommt. Stattdessen geht es dem Regisseur um Bilder und Emotionen, die sich im Fluss der Gedanken immer wieder neu manifestieren.
Ein Schrank steckt im Sand. Im Laufe der Aufführung wechselt er die Rollen. Mal ist er Schatzkiste, dann Sarg, der aufgehoben und herum getragen wird. Die Schauspieler entdecken in ihm eine Packung Waschmittel, steigen in den Schrank hinein und kommen porentief rein mit blütenweißen Hemden wieder heraus.

Roberto Ciulli inszeniert surreales Bildertheater. Das Stück mit dem rätselhaften Titel „Wer hat meine Schuhe vergraben?“ kommt fast ohne Worte aus. Von fern erinnert es an Peter Handkes „Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten“. Doch in Mülheim hat kein Autor fein ziseliert Auf- und Abtritte ersonnen, die Aufführung ist das Ergebnis von Improvisationen.

Ciulli und der Dramaturg Helmut Schäfer ließen sich von Geschichten Mülheimer Bürger anregen. Vor 200 Jahren hat Mülheim an der Ruhr die Stadtrechte bekommen, deshalb standen an vielen Orten Briefkästen, in denen Menschen ihre Geschichten deponieren konnten. Eine Stadt sollte ein Theaterstück schreiben, das war die Idee. Dabei heraus gekommen ist eine schöne Installation.

Der Raffelbergpark rund um das Theater an der Ruhr ist zu einem „Labyrinth der Erinnerungen“ geworden. Aus beleuchteten Bäumen murmeln Stimmen Lebensgeschichten. Wenn man nah genug ran geht, hört man von den Schwierigkeiten eines Kommunisten nach dem Zweiten Weltkrieg oder wie vor vielen Jahrzehnten eine Kirmes aussah. Auf einer Wiese hängen viele Fotos ohne besondere Ordnung, als hätte ein Wirbelsturm einige private Alben durcheinander geworfen. Erinnerung ist etwas Fragmentarisches, Splitter ergeben ein Bild, das immer nur eine Annäherung an die Wahrheit sein kann.

Das Zusammensetzen dieser Splitter ist denn auch die Grundidee des Theaterabends, der am Beginn des Festivals „Weiße Nächte“ seine Uraufführung hatte. Mülheimer Geschichten kommen überhaupt nicht mehr vor, Roberto Ciulli geht es um Grundsätzliches.

Nicht die Erinnerungen eines Einzelnen will er auf die Bühne bringen, es geht um ein kollektives Erinnern, um Bilder und Emotionen, die sich im Fluss der Gedanken immer wieder neu manifestieren. Die Schauspieler stehen oft im und um Sandkasten wie ein lebendes Gemälde. Mal werfen sie sich fröhlich in den Sand und tun so als schwämmen sie im Meer.

Maria Neumann spielt einen Hund, trägt einen Ball im Maul und bettelt darum, dass ihn jemand zum Apportieren wirft. Später kriegt sie Tollwut, beißt um sich und verreckt. Simone Thoma watschelt mit Taucherflossen umher, was in kleinen Choreografien skurril aussieht. Immer wenn die Stimmung allzu ausgelassen wird, kommt ein Schlag in die Magengrube. Dann heulen Sirenen oder Männer in Trenchcoats mit Gesichtsmasken kontrollieren die Ausweise. Einen Mann entfernen sie aus dem Sandkasten. Die anderen sitzen bloß da und schauen zu.

Es gibt einige schöne Bilder und packende Szenen. Am Ende wird der Sandkasten samt Ensemble von einer durchsichtigen Plastikplane abgedeckt, der Tod war schon vorher ein ständiger Begleiter dieser Aufführung. Aber manchmal wirkt die Aufführung etwas beliebig, spröde, schwerblütig.

Dass Roberto Ciulli nicht einfach die Erwartungen an ein Stück zum Stadtjubiläum erfüllt, ist mutig. Doch richtig weit ist er mit seinem philosophischen Theateressay über das Erinnern nicht gekommen.