Im Raritätenkabinett

15.09.2011
Andris Nelsons gehört zu den aufstrebenden Stars seiner Zunft. Der lettische Dirigent, 32 Jahre alt, reiht ein sagenhaftes Debüt an das andere. Entscheidender noch als die erste ist allerdings die zweite Einladung durch ein Orchester – dann hat man’s geschafft. So wie Andris Nelsons nun bei den Berliner Philharmonikern.
Wer will es einem jungen Dirigenten verdenken, dass er sich um Stücke reißt, die beim Publikum garantiert ankommen? Die Sinfonien von Gustav Mahler, die großen Ballettmusiken von Igor Strawinsky und Artverwandtes stehen bei debütierenden Kapellmeistern besonders hoch im Kurs. Auch bei Andris Nelsons, der mit solchen Werken mehrfach im Deutschlandradio Kultur zu hören war. Nun darf Nelsons neben Sir Simon Rattle eines der beiden Konzertprogramme der Berliner Philharmoniker im Rahmen des musikfest berlin leiten – und dirigiert ein Programm, das (abgesehen von der finalen Rosenkavalier-Suite von Richard Strauss) entlegener kaum sein könnte.

Vielleicht denkt der gelernte Trompeter Nelsons ja an seine frühen Instrumentalisten-Jahre, wenn er die zweite Konzerthälfte mit der Marsyas-Rhapsodie für Trompete, Schlagzeug und Orchester von Wolfgang Rihm einläutet. Andererseits stellt Rihm, dieser hochreflektierte Komponist zwischen allen Stühlen, einen idealen "heutigen" Kontrapunkt zu den düsteren, schweren, eher konservativen Komponisten des restlichen Programms dar. Heinrich Kaminski, heute nahezu vergessen, begab sich mit seiner 1934 entstandenen "Dorischen Musik" auf einen dritten Weg zwischen Tonalität und Atonalität. Wer solche Pfade sucht, der marschiert nicht überall mit: Im "Dritten Reich" geriet Kaminski zusehends in die Isolation und solidarisierte sich schließlich mit der Widerstandsgruppe "Die weiße Rose".

Kaminskis Mut hatten Richard Strauss und Hans Pfitzner nicht – beide ließen sich, jeder auf seine Weise, von den Nazis hofieren und mussten dafür später teuer bezahlen. Ihre in diesem Konzert erklingenden Werke, so vergrübelt und rückwärtsgewandt sie auch erscheinen mögen, entstanden allerdings viel früher in ganz anderen Zusammenhängen. Es sind skeptische Blicke ins musikalische und allgemeine Zeitgeschehen; Blicke, die sich des Vergangenen versichern, ohne die Gegenwart gänzlich zu verleugnen.


musikfest berlin
Philharmonie Berlin
Aufzeichnung vom 10.9.11


Hans Pfitzner
"Palestrina"
Musikalische Legende in drei Akten, Vorspiel zum 2. Akt

Heinrich Kaminski
"Dorische Musik" für Streichtrio und Orchester

ca. 20:45 Uhr Konzertpause mit Nachrichten
In den Fängen der Ahnenforscher - Heinrich Kaminski und der NS-Staat
Von Albrecht Dümling
Der Trompeter Gábor Tarkövi im Gespräch mit Volker Michael

Wolfgang Rihm
"Marsyas"
Rhapsodie für Trompete mit Schlagzeug und Orchester (2. Fassung)

Richard Strauss
Suite aus der Oper "Der Rosenkavalier" für Orchester


Gábor Tarkövi, Trompete
Jan Schlichte, Schlagzeug
Berliner Philharmoniker
Leitung: Andris Nelsons