Im Land der aufgehenden Sonne

Dimitri Prigow bricht als erster aus seinem Moskauer Hinterhof aus, um Japan zu entdecken. Zurück in Russland hat er viel zu erzählen: von Zuschauer zerquetschenden Sumoringern, langwierigen Teezeremonien und seltsamen Begräbnisritualen.
"Moskau – Japan und zurück" des Mitte Juli im Alter von 66 Jahren gestorbenen Dmitri A. Prigow ist kein Roman oder Reisebericht, sondern, so heißt es unmissverständlich, "non-fiction". Es ist also etwas nicht, und präziser lässt sich das Gebräu, das der russische Schriftsteller seinen Lesern frohgemut auftischt, mit Sicherheit nicht beschreiben. Fakten stehen neben Fiktionen, Kalauer neben Kurzessays, Erzählungskerne neben Impressionen. Manches ist komisch, manches lehrreich, und manches haltlos.

Prigows Erzähler schätzt sich glücklich, als erster aus seinem Moskauer Hinterhof nach Japan reisen zu dürfen. Daher muss er von seinen Erlebnissen berichten, man ist den Kumpeln ja was schuldig. Zumal der erste Besucher ein "einziger Alleinherrscher" ist: Was immer er schreibt, es ist alles wahr! Obwohl, ganz so einfach ist es auch nicht. Für die Themen Essen, Sex, Erotik, Trinken, Rauchen und Drogen gibt es Liebhaber und Profis. Davon also kein Wort. Auch nicht über das Leben eines Playboys, wenngleich der Reisende aus dem Hinterhof in puncto Saufen und Herumhuren, Prügeln und sonstiges savoir vivre recht gut unterrichtet zu sein scheint. Tja, dann bleibt wohl nichts übrig. Nichts als die Leere. Immerhin, sie ist überall, fällt dem Erzähler ein, auch im Lebensmittelgeschäft: "Haben Sie keinen Fisch?" "Kein Fisch gibt’s in der Fischabteilung, bei uns gibt’s kein Fleisch." "Verstehe." Moment mal, das war jetzt aber das sowjetische Moskau, oder? Damals, als Prigow ein Star des künstlerischen Undergrounds war, den Konzeptualismus miterfand, in Performances mit Rockmusikern auftrat und bis 1989, bis zu seinem 49. Lebensjahr, ungedruckt blieb.

Wie sieht es denn nun in Japan aus? Der Reisende fürchtet selbst, darüber schon bald keine Auskunft mehr geben zu können. Schließlich droht das "objektive Gesetz der direkten Proportionalität zwischen der Verringerung von Fähigkeit, Gelegenheit und Lust zum Erzählen über das Aufenthaltsland einerseits und der Anzahl der dort verbrachten Kalendertage andererseits". Also hurtig drauflos geschrieben über langwierige Teezeremonien, seltsame Begräbnisrituale und heftige Ehestreitigkeiten, deren Beschimpfungen der Reisende trotz fehlender Sprachkenntnisse einfühlsam zu übersetzen vermag. Dank Wittgenstein-Lektüre und Kommunalka-Erfahrung sogar "unter Berücksichtigung hiesiger Eigenart und kultureller Tradition", und zwar wie folgt: "Du Sau, du Nutte! Ich mach dich platt!"

Kein Zweifel, dieser charmante und mit recht vielen Wassern gewaschene Schwadroneur geht aufs Ganze, wozu neben einer grandiosen Stalin-Parodie auch Bitterzartes über Sumo-Ringer gehört. Letztere Fettberge stürzen von ihren berückend kleinen Kampfpodesten des öfteren auf Richter wie Zuschauer hinunter. Den Ringern macht das nichts, neue Richter werden gestellt, und "von neuen Zuschauern spreche ich erst gar nicht". Sie dürften allerdings zu den wenigen Phänomenen in Japan und auch in einem besonderen Moskauer Hinterhof gehören, denen Prigows Erzähler Schweigen zuteil werden lässt. Sein Reisender verschafft dem Begriff "All inclusive" nämlich eine ganz neue Bedeutung.

Rezensiert von Jörg Plath.

Dmitri Prigow: Moskau – Japan und zurück. non-fiction.
Aus dem Russischen von Christiane Körner.
Folio Verlag. Wien/Bozen 2007.
272 S., 22,50 €.