Im Kessel der Emigranten

Marseille im Jahr 1942, im unbesetzten Teil Frankreichs der letzte Fluchthafen für all jene, die vor den Nazis fliehen. Im billigen Hotel Baalbek sind mehrere jüdische Emigrantenfamilien abgestiegen, es herrscht ein Klima zwischen Todesangst, vager Hoffnung und Fatalismus. Fred Wander rekonstruiert dies auf brillante Weise anhand von konkreten Geschehnissen um einzelne Personen.
"Jemand sollte diese Geschichte erzählen, der imstande ist, eiskalt zu bleiben, die Bilder, Zeichen und Farben in Worte und Sätze zu gießen, wie man aus kochendem Blei die Lettern gießt, die dann erstarren werden, mit klarem Verstand sollte er sie setzen, mit Gleichmut und Bedacht."

Der Konjunktiv dieses Satzes macht es deutlich: Der Schreiber dieser Zeilen hat sich selbst durchaus nicht als einen Erzähler gesehen, der in der Lage wäre, "eiskalt" zu bleiben. In diesem Sinn ist der Roman "Hotel Baalbek" des Wiener Juden Fred Wander (1917-2006) ein Ringen darum, "diese Geschichte" zugleich mit großer Authentizität, aber auch mit dem Sinn für den wesentlichen, den existentiellen Kern des Geschehenen zu erzählen.

"Diese Geschichte" hat einen ähnlichen Hintergrund wie ihn Anna Seghers in ihrem Roman "Transit" in den Blick rückt. Marseille im Jahr 1942, Deutschland hat große Teile Frankreichs besetzt, im unbesetzten Teil des Landes ist die Stadt der letzte mögliche Fluchthafen für all jene, die um ihr Leben bangen müssen, falls die Okkupation (oder die Kollaboration des Vichy-Regimes) auch das unbesetzte Territorium erfasst.

Im billigen Hotel Baalbek sind mehrere jüdische Emigrantenfamilien abgestiegen, um fieberhaft ihre Fluchtaktivitäten voranzutreiben. In erster Linie die Beschaffung von Visa, dann sofort die Besorgung von Schiffspassagen, um vorzugsweise in die USA oder - da in diesem Fall die Hürden sehr hoch sind - zunächst in ein lateinamerikanisches Land auszureisen. Ganz nebenher muss man die Hauptsache, das tägliche Überleben, organisieren und sichern.

Stark autobiographisch gefärbt berichtet der Ich-Erzähler des Romans von seiner eigenen Geschichte und von der einzigartigen Atmosphäre in diesem Kessel der Emigranten. Das Wissen um die eigene existentielle Gefährdung und die Unzahl von Gerüchten, die einander immerzu widersprechen, erzeugen ein Klima des Eingezwängtseins zwischen Todesangst, vager Hoffnung und Fatalismus, in dem dennoch ständig "vernünftige" Entscheidungen zu treffen sind.

Fred Wander rekonstruiert es auf brillante Weise anhand von konkreten Geschehnissen um einzelne Personen. Gleichzeitig besteht auch das ganz "normale" Leben weiter. Der junge Ich-Erzähler ist verliebt, recht eigentlich in zwei Frauen zur gleichen Zeit, und dieser überaus sensibel erzählte Strang des Romans entfaltet eine Aura, die sich kaum unterscheidet von den Schilderungen der emotionalen Irrungen und Wirrungen eines jungen Mannes in viel undramatischeren Zeiten.

Damit kontrastiert die wohl am tiefsten gehende Dimension dieses Textes: Das Privileg des Erzählers, sich "vorwärts und rückwärts gewandt" zu erinnern, nutzt Fred Wander, um die Schicksale einiger der Figuren bis zu deren Ende zu erzählen. Und dieses Ende ist oft genug der Tod in einem Konzentrationslager oder auf dem Weg dorthin, oder es ist der Tod in einem ungleichen Widerstandskampf.

Der Umstand, dass alle Anstrengung, alle Erfindungsgabe und alles Improvisationstalent so vielen Menschen am Ende nichts genützt haben werden, lastet wie ein Albdruck auf diesem Roman und spürbar auch auf seinem Autor. Die Tragik der Geschichte mischt sich mit dem Drama des Überlebens - Fred Wanders "Hotel Baalbek" ist eines der am dichtesten gewebten Zeugnisse zu diesem Thema.


Rezensiert von Gregor Ziolkowski

Fred Wander: Hotel Baalbek
Mit einem Nachwort von Erich Hackl.
Wallstein Verlag, Göttingen 2007, 230 Seiten, 19,90 Euro