Im Jaguar durch brennende Wälder

16.04.2013
Vladimir Nabokovs "Lolita" als Romanheldin einer feministischen Autorin – das ist die Ausgangslage. Messerscharf seziert Sara Stridsberg die Figur dieser rätselhaften Frau - als Kind, vom Vater misshandelt, als Männer verschlingender Vamp, als Mutter, Opfer und Täterin.
Sara Stridsbergs Debüt "Happy Sally" von 2004 handelt von der Kanalschwimmerin Sally Bauer. Ihr Roman "Traumfabrik" ist eine halbfiktive Biographie über die Radikalfeministin Valerie Solanas, die ein Manifest gegen die Männer verfasste und auf Andy Warhol schoss. Und die Heldin von "Darling River", ihrem dritten Roman, ist Nabokovs mythische Lolita. Stridsberg findet also ihre Modelle in der Wirklichkeit oder in einer Wirklichkeit gewordenen Fiktion.

Vladimir Nabokovs "Lolita" ist einer der umstrittensten Romane des 20. Jahrhunderts. Ist es die Geschichte einer Liebe oder die einer endlosen Vergewaltigung? Die Unwägbarkeiten des Falls und Lolitas Unergründlichkeit (ihr Verehrer ist einfacher gestrickt) haben die feministische Autorin Stridsberg herausgefordert.

Die Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit von Nabokovs "Lolita" stellt Stridsberg nach. Sie deutet, erweitert, widerlegt ihn. Ihr Roman ist ein Puzzle aus kraftvollen Naturbeschreibungen, poetischen Schilderungen, ekelhaften Erscheinungen, erotischen Situationen, tiefgründigen Reflexionen, ein Puzzle, das Stridsbergs Poetik und Intellektualität offenbart. Ihre Bücher sind wie Spiegelgalerien, in denen sich ihre Heldinnen endlos reflektieren – und mit ihnen auch deren Gedanken und Vorstellungen. So werden sie selbst zu einer Idee, einem Traum. In einem Gespräch sagte Stridsberg: "Valerie Solanas war der Albtraum des Patriarchats, Lolita der Wunschtraum."

Vier Figuren schildern ihre Sicht der Dinge: Lo, die von ihrem Vater im Jaguar durch apokalyptische Landschaften kutschiert wird, durch finstere, von Bränden erleuchtete Wälder, einem blass werdenden Horizont entgegen, wo sie sich als "letzte Menschen auf der Welt" fühlen. Dolores ("Schmerz") Haze, Nabokovs Heldin, die ihrem Stiefvater entflieht, einen gewissen Richard Schiller heiratet und im Wochenbett stirbt. Eine mysteriöse Mutter, die die Welt mit ihrer Kamera durchzieht. Und schließlich eine Äffin im Pariser Jardin des Plantes, der mit aller Gewalt das Zeichnen beigebracht werden soll.

Nun ist die Stimmung der verschiedenen Teile recht unterschiedlich. Drastisch, aber auch klischeegesättigt sind die Schilderungen weiblicher Unterjochung durch Mann und Natur – die Männer: Schlächter und kaputte Typen, die Geburt: ein Horror aus Schleim und Blut; auf der einen Seite der Ekel vor der Weiblichkeit, auf der andern die Verachtung der Männlichkeit. Von poetischer Kraft, von fast triumphierender Melancholie sind dagegen die Autofahrten durch die brennenden Wälder, bei denen der Vater genüsslich Tiere totfährt und sich Straßenmädchen ins Auto holt, während Lo im Fond zu schlafen vorgibt. So oder so, Sara Stridsberg ist eine immer wagemutige Autorin, der wir irritiert, begeistert oder angewidert folgen. Kalt lässt sie uns jedenfalls nicht.

Besprochen von Peter Urban-Halle

Sara Stridsberg: Darling River - Doloresvariationen
Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein
S. Fischer Verlag, Frankfurt / Main 2013
334 Seiten, 22 Euro