Im Höhenrausch

Von Johannes Halder · 15.01.2011
Die einzigartige Leuchtkraft seiner Bilder, die er meist in freier Natur malte, machte Giovanni Segantini (1858-1899) zu einem Erneuerer der modernen Landschaftsmalerei. In Riehen bei Basel werden rund 70 seiner Bilder und Zeichnungen gezeigt, die vom Zauber der Bergwelt künden.
Bis zu den Knien steht der Maler im Schnee, auf dem Schafberg, fast 3000 Meter hoch im Engadin, vor sich auf der Staffelei eine mächtige Leinwand. "Der Tod oder Vergehen", heißt das Bild, der dritte Teil seines Alpentriptychons, das sein Vermächtnis werden sollte. Denn bald darauf, am letzten Septembersonntag 1899, starb der Maler, 41 Jahre alt, dort oben in einer Hütte, die heute ein Treffpunkt für Touristen ist.

"Ich möchte meine Berge sehen", sollen die letzten Worte des Sterbenden gewesen sein, und der Satz passt perfekt in eine Kunstgeschichte, die direkt fürs Herz geschrieben scheint.

Giovanni Segantini, das war lange Zeit nicht mehr als ein Fall, als ein belächeltes Phänomen. Manche seiner Bilder wurden durch massenhafte Rezeption so verkitscht, dass man sie auch heute noch kaum unvoreingenommen sehen kann.

Allen voran das "Ave Maria bei der Überfahrt": Ein junges Ehepaar mit Kind auf einem mit Schafen beladenen Kahn, in die Andacht vor Gott und die Naturschönheit versunken und in ein wunderbares, reines Licht getaucht. Der Wasserspiegel, der Himmel – ein Bild wie ein Gebet. Eigentlich, wie man hier sehen kann, ein betörend schönes Werk, aber es hing in abertausenden Schlafzimmern, wo es die Gefühle rührte und die harmonische Einheit von Mensch und göttlich beseelter Natur beschwor.

Die oberitalienischen Seen waren zunächst das Revier des Malers, der früh verwaist und staatenlos geworden, in Mailand das städtische Milieu der Arbeiter und kleinen Leute in düsteren Farben schilderte und sich dann buchstäblich hinaufmalte auf die Höhen seines Ruhmes.

nd vielleicht war es tatsächlich so, dass Segantini, dem Ausgestoßenen, der weder reisen noch die Mutter seiner vier Kinder heiraten konnte, da er keinen Pass besaß, nur der Weg nach oben blieb, in die Einsamkeit der Berge und seiner Bewohner, die er verherrlicht in monumentalen Formaten, vor denen der Kurator Ulf Küster gerne zu kleinen Übertreibungen neigt:

"Ich gehe ja immer so weit zu sagen: Ohne Segantini wäre ein Bild wie ‚Guernica’ von Picasso nicht zu denken, weil Segantini derjenige ist, der dieses Monumentalformat in gewisser Weise in die Moderne rübergerettet hat."

Groß sind sie, Segantinis Bilder, und die Motive – oft in mächtige Goldrahmen gefasst – sind packend. Wir sehen raue Idyllen mit schlafenden Hirten und saufenden Kühen am Trog, Bäuerinnen am Brunnen oder mit Brennholz beladene Schlitten im Schnee. Es sind Bilder, in denen die sozialrealistische Anteilnahme an einem Leben voller Härte und Entbehrungen verschmilzt mit den malerischen Errungenschaften der Moderne.

Wie etwa malt man Schnee, das kristalline Schimmern dieser glitzernden Substanz? Segantini tat dies in der divisionistischen Manier, indem er die Farben zerlegte.

"Das sind ja diese ganz langen, faserartigen Pinselstriche von wenig gemischter, sehr starker Farbe, die übereinander gelegt werden und aus denen das Bild aufgebaut wird. Und das gibt dieses Leuchten, diese Klarheit, diese große Weite in den Landschaften."

Er habe "den Geist der Alpen" in sich aufgenommen, sagte Segantini von sich selbst, und was uns heute an ihm fasziniert, ist die einzigartige Verbindung zwischen monumentalem Naturraum und menschlicher Gesellschaft. Es sind Inbilder einer heilen Natur, deren Verlust wir heute beklagen; eine Bildwelt, die berührt, weil sie elementar ist.

"Auf jeden Fall war er – ähnlich wie van Gogh, sein Zeitgenosse – interessiert an den essentiellen Dingen des Lebens. Und die essentiellen Dinge des Lebens fand er in den Landschaften, in den einfachen Leuten. Da war er ja nun gar nicht alleine in der damaligen Zeit."

Einzigartig fühlte Segantini sich schon. Es gab Wartelisten für seine Bilder, und der Erfolg stieg ihm zu Kopf. Auf seinen Selbstporträts stilisiert er sich zum Propheten, zum einsamen Genie.

"Als Person war er, ja, der einsame Künstler auf dem Berg, der nach der Höhe strebt, der sich junge Adler fing; und das letzte, was er noch tun wollte, wäre sozusagen fliegen gewesen."

Tatsächlich hatte Segantini, wie in der Schau zu sehen ist, einen Flugapparat gezeichnet, die spleenige Idee eines Malers im Höhenrausch, der sich dort oben, in der luftigen Weite der Bergwelt, grenzenlos frei fühlte.

Das große Leuchten seiner Bilder erfüllt jetzt auch die Räume der Fondation Beyeler. Nur ein paar Schritte sind es zu Segantinis Zeitgenossen van Gogh und Cézanne in der Sammlung, zwischen denen sich der Alpenmaler souverän behauptet. Und hier, in den lichtdurchfluteten Sälen, darf Segantinis Werk sich ganz zuhause fühlen.

Die Schau ist bis zum 25. April 2011 in der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel zu sehen.