Im großen Stil eine Chance verpasst

Rezensiert von Marius Meller |
Die Erwartungen an das Buch des renommierten Münchner Neuropsychologen Ernst Pöppel sind hoch. Verspricht es doch einen substantiellen "Blick des Gehirns auf unser Ich" zu vermitteln. Allerdings ist das informative Sachbuch zur kulturphilosophischen Betrachtung "hochgetunt". Der nötige Dialog zwischen Geistes- und Naturwissenschaften bleibt jedoch aus.
Wie schafft unser Gehirn unser Ich? Sind wir frei handelnde Wesen, oder spielt uns unser Körper nur ein Theater der Freiheit vor? In diese Grundfragen der Philosophie hat sich seit einiger Zeit die Zunft der Hirnforscher kräftig eingemischt. Die Öffentlichkeit spitzt die Ohren, wenn ungelöste philosophische Probleme scheinbar im Handstreich durch die harten Fakten der exakten Wissenschaft erledigt werden sollen. Dann geht es immer auch um die berühmten "zwei Kulturen" – Natur- und Geisteswissenschaft –, und der Dialog zwischen beiden scheint bisweilen so schwierig wie zwischen Vertretern zweier fremder Religionen.

So sind die Erwartungen an das gewichtige Buch "Der Rahmen" des renommierten Münchner Neuropsychologen Ernst Pöppel hoch. Verspricht es doch auf fast 600 Seiten einen substantiellen "Blick des Gehirns auf unser Ich" zu vermitteln. Der erste Blick zeigt zudem, dass hier offenbar einer offen ist für die Welt des Kulturellen und Ästhetischen, dass hier einer die so verschiedenen "Rahmen" menschlicher Intelligenz in seine Betrachtungen einzubeziehen bereit ist.

Bei der Lektüre stellt sich jedoch schon auf den ersten Seiten die Frage, warum ein informatives Sachbuch unbedingt zur kulturphilosophischen Betrachtung "hochgetunt" werden muss wie ein Mazda mit Heckspoilern. Und warum muss eines, das viel Anregendes aus der Hirnforschung für den Laien aufbereiten und lesbar präsentieren könnte, so zwanghaft auf postmodernes Bekenntnisbuch getrimmt sein?

Bereits in der Einleitung von Ernst Pöppels großangelegter Arbeit über Gehirnforschung und Kognitionspsychologie, muss man jedes Zaudern und jede kleine Seitenassoziation des Münchner Ordinarius in Klammern gesetzt lesen. Das erschwert die Lektüre und bereits leicht irritiert ahnt man die Absicht: der Schreibduktus soll irgendeine Beziehung zu den Bewusstseinsstrukturen referieren, über die das Buch doch eigentlich handelt. So liest man Sätze wie:

"Aus praktischen Gründen beginnt ein Buch am sogenannten Anfang, wenn man es liest, wenn man es schreibt. Damit tut man so, als gäbe es einen Anfang, als gäbe es überhaupt einen Beginn (als gäbe es stets für irgend etwas einen wirklichen Beginn)."

Der Leser wird gezwungen, mit dem Autor kokett zu seufzen: "(Ich spreche nicht von Wahrheit, denn ich weiß eigentlich nicht, was mit Wahrheit gemeint ist.)" Als Pöppel die Kapitelstruktur erklärt, und sagt, dass es keine gebe, sondern nur Ziffern und einige Stichworte zu jedem Abschnitt, fügt er scheinbar resignativ hinzu: "ich glaube nicht (mehr) an Kapitel."

Als Ausgleich ist jedes Nicht-Kapitel zur beflissenen Erbauung des Lesers gleich mit vier bis fünf Prunkzitaten geschmückt. Überhaupt sucht der Autor gerne Rat bei den Großen seines Schlags. Name-Dropping nur vom Feinsten – wenn es nur der ja leider per definitionem unmöglichen Wahrheitsfindung diente! Pöppels Spezialgebiete sind nämlich eigentlich das Sehen und die zeitliche Koordination von Verhalten und Bewusstseinsprozessen.

Zugegeben: der Laie, der doch hier auch unterrichtet sein will, mag vieles interessant finden und einiges ist anschaulich erklärt, aber nichts ist sensationell. Aber auf Sensation ist der Leser in einer Veröffentlichung wie dieser auch nicht unbedingt aus, sondern eher auf eine solide Einführung. Und er war gespannt auf eine Begegnung zwischen Geistes- und Naturwissenschaft. Die sprachlichen Arabesken legen aber den Verdacht nahe, dass hier der Hirnforschungshype und der entsprechende Bedarf an Büchern ausgenutzt wurde, damit ein seriöser Naturwissenschaftler sich mal alles ganz unseriös von der Leber schreiben durfte.

Und was nun den so nötigen Dialog zwischen Geistes- und Naturwissenschaften angeht: Kant wird zwar ab und zu zitiert. Aber seine Lehren werden nicht erörtert. Wo bleibt die Debatte um die Beiträge des transzendentalen Idealismus zur Bewusstseinslehre und die Hirnforschung – so wie seinerzeit von Detlev B. Linke versucht? Wo würde man das erwarten, wenn nicht in dem Buch eines Autors, der wie Ernst Pöppel doch offenbar mit beiden Kulturen vertraut ist?

Auf die Metapher des "Rahmens" kommt es Ernst Pöppel an. Aber es wird einfach nicht klar, wozu der Begriff dienen soll. Am Ende bleibt die vage Feststellung, dass wir ohne vorgegebene oder vorkonstruierte "Rahmen" keine Wahrnehmungen oder Erkenntnisse haben können. Womit wir philosophisch gerade mal den "Rahmen" des Konstruktivismus erreicht haben. Aber das haben wir bei Ernst von Glasersfeld oder Paul Feyerabend schon präziser gelesen.

Auch die Darstellung kognitionspsychologischer Experimente, ist zunächst interessant. Aber die diffuse Art wie sie mit der geisteswissenschaftlichen "Kultur" in Beziehung gesetzt werden, geht am Kern der Sache vorbei. Nichts gegen einen populärwissenschaftlichen Plauderton. Aber die ständigen Entschuldigungen Pöppels, dass er der Kunst aus der Distanz zuschaue und sich eben so seine Gedanken mache, wirken oft wie ein Eingeständnis, dass es mit dem Dialog der Kulturen doch nicht weit her ist. Hier wurde im großen Stil eine große Chance verpasst.

Ernst Pöppel,
Der Rahmen. Ein Blick des Gehirns auf unser ich.

Carl Hanser Verlag, München 2006. 549 Seiten, 25 Euro 90.