Im Geisterhaus

Von Peer Vorderwülbecke · 13.11.2013
Gleich zwei Frauen sind beim Rennen um den Präsidentenposten in Chile im Endspurt: die ehemalige Amtsinhaberin Michelle Bachelet und die Ex-Arbeitsministerin Evelyn Matthei. Als Kinder spielten sie miteinander, weil ihre Väter befreundet waren. Dann schlug das Schicksal zu.
Die Geschichte von Michelle Bachelet ist schmerzhaft; so schmerzhaft, dass die Präsidentschaftskandidatin öffentlich nicht darüber spricht. Bachelet wurde zusammen mit ihrer Mutter zwei Monate im berüchtigten Folterlager Villa Grimaldi interniert. Was dort genau passiert ist, das hat die 62-jährige Politikerin bis heute nicht erzählt. Cristian Gutierrez kann es sich zumindest vorstellen. Der Historiker arbeitet in der Gedenkstätte Villa Grimaldi.

"Diese geheimen Gefangenenlager wie Villa Grimaldi, existierten, um zu foltern. Wer hier landete, wurde in größerem oder geringerem Maße gefoltert. Sei es durch Prügel oder durch Stromschläge. Und allein, dass man festgenommen und entführt wird und in so einem Ort eingesperrt wird - das ist Folter."

Von der Gedenkfeier in den Wahlkampf

Die Zellen, in denen vier bis fünf Frauen eingepfercht wurden, waren fensterlose Verschläge mit einer Grundfläche von einem Quadratmeter. Fast 5000 politische Häftlinge wurden in der Vila Grimaldi gefoltert, 229 wurden getötet oder sind bis heute verschollen.

Im vergangenen September, zum 40. Jahrestag des Militärputsches war Michele Bachelet als eines von vielen Opfern in das Folterlager zurückgekehrt – mit einer Rose in der Hand und Tränen in den Augen. Einige Stunden später hat sie bei einer weiteren Gedenkfeier eine Rede gehalten, diesmal als Präsidentschaftskandidatin. Sie appellierte an die chilenische Bevölkerung, in der Opfer und Täter nach wie vor zusammen leben.

"Eine Versöhnung ist nur möglich, wenn wir verstehen, dass man die Vergangenheit nicht ungeschehen und nicht wieder gut machen kann. Und wir trotzdem bereit sind für eine gemeinsame Zukunft. Eine Zukunft, ohne Vergessen und mit Gerechtigkeit. Nur so können wir sicher sein, dass wir aus dieser schrecklichen Lektion gelernt haben. Wir werden nicht zulassen, dass sich diese Geschichte wiederholt."

Der eine hielt zum Präsidenten, der andere zum Putschisten

Fast scheint es aber, als wird Michelle Bachelet im Wahlkampf von ihrer eigenen Geschichte eingeholt. Die regierende konservative Partei hat Evelyn Matthei ins Präsidentschaftsrennen geschickt, eine Jugendfreundin Bachelets. Die beiden sind gemeinsam aufgewachsen, weil die Väter zusammen in der chilenischen Luftwaffe gearbeitet haben.

Die tiefe Freundschaft der Väter zerbrach Jahre später durch den Militärputsch. Alberto Bachelet hat zum demokratisch gewählten Präsidenten Allende gehalten. Fernando Matthei hat sich den dem putschenden General Pinochet angeschlossen. Bachelet wurde festgenommen und gefoltert. Ausgerechnet in den Kellergewölben der Kriegsakademie der Luftwaffe. Deren Leitung hatte zu diesem bereits Fernando Matthei übernommen. Alberto Bachelet starb im Frühjahr 1974.

Diese tragische Geschichte der beiden Präsidentschaftskandidatinnen wurde im Wahlkampf nicht thematisiert. Und das, obwohl mitten in den Wahlkampf die umfangreichen Gedenkfeiern zum 40. Jahrestag des Militärputsches fielen. Der Polit-Analyst Patricio Navía hat dafür eine Erklärung parat:

Vergangenheit spielt keine Rolle

"Das ist ein großes Thema für die ausländische Presse, aber es ist kein großes Thema für die Chilenen. Das ist keine Wahl bei der die Chilenen auf die Vergangenheit zurückblicken. Wenn sie nämlich zurückblicken, dann sehen sie eine schlimme Vergangenheit, eine Vergangenheit in schwarz und weiß, mit Armut, Arbeitslosigkeit und Verletzung der Menschenrechte.

Mit dieser Vergangenheit wollen sie nichts mehr zu tun haben. Die Herkunft von Bachelet und Matthei ist nicht wichtig, wichtig ist ihre Fähigkeit, Treppen zu bauen, damit die Menschen den sozialen Aufstieg schaffen."

Diese Fähigkeit wird Michelle Bachelet offensichtlich viel eher zugetraut als Evelyn Matthei. In den letzten Umfragen liegt Bachelet uneinholbar vor Matthei.

Wenn die Favoritin Bachelet am Sonntag nicht die absolute Mehrheit erreicht, dann wird es in vier Wochen zu einer Stichwahl zwischen den beiden ehemaligen Jugendfreundinnen kommen. Ihre tragische Vergangenheit wird auch dann keine Rolle spielen.