Im Gefängnis des Alltags

02.09.2008
Der italienische Schriftsteller Massimo Carlotto saß als vermeintlicher Staatsfeind einst selbst 18 Jahre lang in Haft. Danach schrieb er Kriminalromane, die von Mal zu Mal bitterer wurden. In "Die dunkle Unermesslichkeit des Todes" erzählt er mit kalten, klaren Worten die Geschichte eines erbarmungslosen Rachefeldzugs.
Massimo Carlotto ist ein italienischer Schriftsteller mit einem bemerkenswerten Lebenslauf. In den 70er Jahren war er Mitglied der linksradikalen Gruppe "Lotta Continua". In Padua geriet er als Zeuge in die Ermittlungen zu einem Mord, und seine politische Einstellung wurde ihm zum Verhängnis.

Obwohl es keine Beweise gegen ihn gab, wurde der vermeintliche Staatsfeind kurzerhand zu 18 Jahren Haft verurteilt. Er floh aus dem Gefängnis, setzte sich nach Südamerika ab, wurde gefasst und ausgeliefert und kam wieder in Haft, bis das skandalöse Urteil 1993 doch noch aufgehoben wurde. Damals begann Carlotto zu schreiben, Krimis, die von Mal zu Mal bitterer wurden. Jetzt ist ein neuer Roman von ihm auf deutsch erschienen: "Die dunkle Unermesslichkeit des Todes".

Silvano Contin verliert seine Frau und seinen Sohn. Zwei maskierte Männer nehmen sie nach einem missglückten Überfall auf ein Juweliergeschäft als Geiseln, um sie dann kaltblütig zu erschießen. Einer der beiden Täter kann entkommen, der andere wird verhaftet. Raffello Beggiato gibt an, dass sein Komplize die tödlichen Schüsse abgegeben habe, aber weil er dessen Namen nicht preisgeben will, wird er wegen "schwerem Raub, Entführung und Doppelmord" zu lebenslanger Haft verurteilt.

15 Jahre später erkrankt er im Gefängnis unheilbar an Krebs. Er reicht ein Gnadengesuch ein, um nicht in seiner Zelle sterben zu müssen. Als Angehöriger der Opfer muss Silvano Contin zu dem Fall Stellung nehmen. Damit ist der Augenblick gekommen, auf den er lange gewartet hat: Endlich hat er ein Druckmittel in der Hand, um Beggiato den Namen des Mittäters und wahren Mörders zu entlocken.

Mit kalten, klaren Worten erzählt Massimo Carlotto die Geschichte eines erbarmungslosen Rachefeldzugs. "Die dunkle Unermesslichkeit des Todes" ist ein Kriminalroman von geradezu alttestamentarischer Wucht - und darüber hinaus ein verstörend hellsichtiger Roman über die Macht der Normalität, mit der Menschen sich über die Tragödie ihres Daseins hinwegtäuschen.

Selbst das Gefängnis stellt keine Ausnahme dar. Carlotto beschreibt (vermutlich aus eigener Erfahrung), wie der "lebenslängliche" Beggiato sich über die endlosen Nächte rettet, indem er sich immer wieder den starren Ablauf von Wecken und Frühstück, Putzdienst, Hofgang und Einschluss vor Augen führt.

Silvano Contin dagegen schafft sich sein Gefängnis selbst. Er bekämpft den Schmerz über den Verlust seiner Frau und seines Sohnes mit einem zutiefst "banalen Leben": ambitionslose Arbeit in einem anonymen Einkaufszentrum, Single-Mahlzeiten aus der Tiefkühltruhe und Promi-Shows im Fernsehen.

Erst als Contin feststellen muss, dass sich der Mörder in einer ähnlichen Kulisse eingerichtet hat, in einem Einfamilienhaus mit "gepflegtem Rasen", gemauertem Gartengrill und einem "Holzschuppen im Alpenstil", gerät das neurotische Gleichgewicht ins Wanken. Allerdings nur für kurze Zeit.

Massimo Carlotto lässt seinen Roman in einem Massaker enden, um die blutbefleckten Fassaden des Alltags zuletzt umso stabiler wieder aufzubauen. Das Leben geht immer weiter: Das ist die grausame Wahrheit dieses Buches.

Rezensiert von Kolja Mensing

Massimo Carlotto: Die dunkle Unermesslichkeit des Todes
Roman, Aus dem Italienischen von Hinrich Schmidt-Henkel,
Tropen Verlag, Stuttgart 2008,
188 Seiten, 18,90 Euro