"Im Fußball wird ganz sicher gedopt"

Moderation: Dieter Kassel · 21.06.2007
Der Sportredakteur der "Süddeutschen Zeitung", Thomas Kistner, geht davon aus, dass Doping auch im Spitzenfußball weit verbreitet ist. In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten habe es immer wieder Hinweise darauf gegeben, sagte Kistner. Den Medien warf er vor, wesentlicher Teil des "Doping-Zwangssystems" zu sein.
Dieter Kassel: Wenn er pünktlich ist, dann wird Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble in knapp zweieinhalb Stunden einen nationalen Aktionsplan gegen das Doping im Spitzensport vorstellen. Vermutlich gibt es dann auch ein ganz umfangreiches neues Antidoping-Gesetz. Und Anlass für diese Hektik und auch für heftige Beratungen im Sportausschuss des Deutschen Bundestages in den letzten Tagen ist natürlich eigentlich der große Doping-Skandal im Radsport und die vielen Eingeständnisse von bereits verjährten Vergehen. Aber die Nation bewegt seit einer guten Woche eigentlich mehr was anderes. Der ehemalige Bundesligatrainer Peter Neururer hat behauptet, Doping im Fußball sei in den 70er und 80er Jahren gang und gäbe gewesen. Und nun wird natürlich heftig darüber spekuliert, nicht nur, ob das stimmt, sondern ob das nicht heute auch noch so ist. Manche tun jetzt sehr überrascht, manche sind auch nicht ganz so überrascht. Zur letzteren Gruppe gehört unter anderen Thomas Kistner. Er ist Sportredakteur bei der "Süddeutschen Zeitung" und hatte in diesem Metier schon oft genug Gelegenheit, sich mit Doping zu beschäftigen. Guten Morgen, Herr Kistner.

Thomas Kistner: Guten Morgen.

Kassel: Wird im Moment im deutschen Spitzenfußball gedopt?

Kistner: Ganz sicher wird da gedopt, denn es bringt ja auch eine Menge.

Kassel: Das ist aber doch interessant. Viele Menschen, Franz Beckenbauer, aber auch andere, auch Sportmediziner bestreiten das doch immer und sagen, dass in Mannschaftssportarten das Doping, wie wir es aus Leichtathletik, Radsport etc. kennen, nichts bringt?

Kistner: Das ist das übliche Mantra, das wir in allen Sportarten haben, wobei es jetzt speziell bei den genannten natürlich keinerlei Glaubwürdigkeit gibt in der Sache. Franz Beckenbauer zum einen, den Sie erwähnt haben, hat selber Ende der 70er Jahre auf Doping-Missbrauch im Fußball hingewiesen. Damals war er selber noch Spieler und ist dann sehr schnell und sehr massiv öffentlich mundtot gemacht worden. Vielleicht müsste man ihn daran mal erinnern. Und dass die Sportärzte insgesamt Doping für untauglich im Fußball halten, liegt leider wieder mal in der Natur der Sache. Zum einen ist es natürlich ein Witz schlechthin, wenn man Involvierte, in dem Fall involvierte Ärzte, zum Doping befragt, die werden ja schlecht sagen dann, doch es bringt eine Menge und wir haben täglich alle Hände voll zu tun, es abzulehnen. Zum anderen ist es so, dass saubere Sportärzte, also Ärzte, von denen die Athleten, die Betreuer wissen, dass die so was niemals mitmachen würden, niemals ins Zentrum von solchen Dingen vorstoßen könnten. Im Gegenteil, die werden weiträumig umkurvt. Dann geht der Spieler, Athlet, Betreuer usw., Trainer eben zusätzlich noch zu anderen Leuten, von denen man weiß, dass sie solche Dinge machen.

Kassel: In den 70er, 80er Jahren ging es ja vor allen Dingen um Aufputschmittel, auch immer ein ganz bestimmtes, das da offenbar häufiger verabreicht wurde. Wie ist das denn heute, welche Mittel sind das denn, die Fußballer tatsächlich offenbar zu höheren Leistungen verhelfen können?

Kistner: Also früher war es so, dass zu Zeiten, als der gute alte Fußball gespielt wurde, den wir heute noch auf Bildern aus den 70er, 80er Jahren mehr oder weniger als Standfußball wahrnehmen – denn das Spiel war längst nicht so schnell und athletisch, wie es heute ist –, dass also zu diesen Zeiten eigentlich nur die Aufputschmittel wirklich direkten Bezug aufs Spiel hatten, dass sich Spieler über Aufputschmittel wirklich stärken oder in den entsprechenden Zustand versetzen konnten, weil das meiste doch über die psychische Komponenten ablief. Mit Aufputschmitteln kann man die Aggression verstärken, man kann Ängste abbauen, was ja auch ganz wichtig ist in diesem Spiel. Das hat also unmittelbar viel gebracht für die psychische Spielvorbereitung. Mittlerweile ist das Spiel so athletisch geworden, so schnell und so kämpferisch, dass man selbst als größtes Talent der Welt nicht mehr auf Spitzenniveau mithalten kann, wenn man nicht über die entsprechende athletische Physis verfügt. Wir haben das Beispiel, können wir nehmen, vergangenes Jahr bei der Fußball-WM hier in Deutschland gesehen. Die war ja rein von den Ereignissen her und vor allem von den Ergebnissen her sehr, sehr mau. Es gab kaum mal ein Spiel, in dem es zwei oder mehr Tore gegeben hat. Wenn wir das Eröffnungsspiel gegen Costa Rica ausklammern, war das ein Schnitt von eins Komma irgendwas Toren. Trotzdem waren die Spieler hochklassig, sie waren rassig, es ging auf hohem kämpferischen, athletischen Niveau hin und her. Und um da mitzuhalten, da braucht’s unabdingbar eine starke Physis, es braucht viel Luft, um eben nicht in der 70. Minute, 80. Minute dann wegzubrechen, weil der Gegner mehr Luft hat. Und das bringt enorm viel. Es ist die Voraussetzung, um Spitzenfußball auf diesem Niveau zu betreiben.

Kassel: Es stellt sich ja bei Doping immer wieder die Frage: Die Sportler selber, sind das Täter oder Opfer? Wie ist das in Ihren Augen im Fußball? Wissen die Fußballer und wussten sie auch früher, was sie tun?

Kistner: Na gut, im Fußball sind sicherlich auch viele schlichte Gemüter unterwegs, die sehr viel von Fußball verstehen und sich sehr wenig mit anderen Dingen befassen. Einer, den ich jetzt nicht direkt unter diese Kategorie miteinbeziehen will, der aber trotzdem beispielhaft für die Mentalität im Fußball steht, ist Felix Magath, bis vor kurzem immerhin hier Trainer des deutschen Spitzenvereins Bayern München, der ja am Samstag sich zu der Frage geäußert hat und dabei zum einen eingeräumt hat, er sei da nicht kompetent, was natürlich schon mal ein interessanter Hinweis ist. Wenn sich ein Cheftrainer nicht kompetent in der Doping-Frage wähnt und zum anderen gemeint hat, er steht nach wie vor zu der Einschätzung, die er schon vor 15 Jahren hatte, dass man beispielsweise in der Regeneration, also nach Verletzungen usw., durchaus mit Anabolika arbeiten sollte, wenn der Spieler einverstanden ist. Dass der Spieler dann einverstanden ist, wenn er vom Arzt oder vom Trainer diesen Vorschlag bekommt, natürlich mit dem Hinweis, wir machen das ja nur, dass du schneller fit bist, dass du in allen Bereichen praktisch besser wirst, das versteht sich von selbst. Denn der Spieler verdient zum einen sein Geld damit, und zum anderen ist er ja geneigt, sich auf das Wort der Fachleute zu verlassen.

Kassel: Sie sind selber Journalist, das heißt, Sie sind Teil auch der Medienberichterstattung über den Sport. Das war natürlich wieder vom Anlass her der Radsport-Dopingskandal. Es hat eine "Tagesthemen"-Sendung gegeben, da hat sich der ARD-Sportreporter, der ist auf Radfahren und Doping interessanterweise spezialisiert, Hajo Seppelt, sich sogar bei den Zuschauern entschuldigt wegen des Fehlverhaltens der Medien im Zusammenhang mit Doping. Wie groß ist denn dieses Fehlverhalten? Es hat da immer wieder Stimmen gegeben. 1987/88 die Autobiografie von Toni Schumacher, wo drin stand, es hat Doping gegeben, es hat immer wieder Fälle gegeben, im Ausland auch, wo Fußball-Doping eindeutig aufgetaucht ist, und man hatte das Gefühl, die Medien haben es nicht ernst genommen. Muss man denen das heute vorwerfen?

Kistner: Man muss es den Medien unbedingt vorwerfen. Diese Medien, namentlich die Sportmedien, sind ein Teil, ein wesentlicher Teil des Doping-Zwangssystems, das sich im Spitzensport breitgemacht hat, ganz einfach deswegen, weil es gerade in diesem Genre viel zu viele Leute gibt, die sich im Grunde genommen als Berufsjubler verstehen, also als diejenigen, die die Ware Sport weiterveredelt an den Endkonsumenten ausreichen, also ein Spiel noch mal in den schönsten Farben oder auch entsprechend vernichtenden Begleitungen an den Leser oder an den Zuschauer weiterreichen. Dann im Fernsehbereich natürlich die Leute, die die für viel Geld eingekaufte Ware schönreden müssen. Denn sonst laufen die Leute ja weg, die verstehen sich ungefähr so wie der Marktschreier auf dem Marktplatz, wenn man plötzlich rufen würde: Faule, wurmstichige Äpfel heute besonders gut, heute besonders giftig, kaufen Sie trotzdem. Also das geht ja nicht, ich muss das Zeug anpreisen, schönreden usw. Und da nun mal ein Großteil oder ein signifikanter Teil sich in diesem Job aus der Branche selbst auch regeneriert, ist es so, dass sich da eigentlich sehr viele Leute im Sport mittlerweile festgesetzt haben, die es eigentlich nur über die Absperrung geschafft haben. Als Fans, vormals, sitzen sie jetzt auf der anderen Seite und sollen berichten. Ein Weiteres ist, dass es ein großes Bildungs- und Ausbildungsproblem in diesem Bereich gibt, dass also sehr viele Sportjournalisten von all diesen pharmazeutischen Fragen beispielsweise, aber auch von den ethischen Fragen und damit letztendlich von berufsethischen Fragen keinerlei Ahnung haben.

Kassel: Geht das in die Richtung, dass ein Großteil früher und heute gar nicht genau weiß, was in Bezug auf Doping im Fußball, um dabei jetzt zu bleiben, passiert, oder ist es nicht eher so, dass viele Sportjournalisten, Fußball-Reporter das wissen und wussten und einfach davon ausgegangen sind, das ist nicht Teil ihrer Aufgabe, darüber auch zu berichten?

Kistner: Also im Fußball, der hat ja seit jeher eine Sonderrolle inne. Im Fußball kann ich mir vorstellen, dass sich das Gros der Sportjournalisten nie wirklich mit dieser Frage beschäftigt haben, denn sie ist dort nie besprochen worden. Die Verbände und die Spieler und die Vereine sagen, das gibt’s hier nicht, wir brauchen das nicht, und damit gilt das. Das steht dann in Erz gegossen für die Sportjournalisten, die das Thema nicht aufgreifen. In anderen Bereichen ist es ja so, dass man da eben durch die Affären, die es immer wieder gegeben hat, zwangsläufig dann irgendwann mal auf den Trichter gekommen ist, dass da was faul sein muss. Im Fußball steht dieser Prozess noch bevor, und man wird davon ausgehen müssen, dass dann eigentlich auch Journalisten aus anderen Fachbereichen da reingehen müssen. Denn die braven Fußball-Schreiberlinge, die braven Fußball-Reporter, die werden diese Leistung nicht bringen können.

Kassel: ARD und ZDF haben gerade erst relativ viel Geld ausgegeben für die Übertragungsrechte an der nächsten Fußball-Europameisterschaft. Es ist auch die Entscheidung gefällt worden, die Tour de France in diesem Sommer geht ja bald wieder los, zu übertragen und alle, die Medien, aber auch die Sportverbände haben doch jetzt riesengroße Angst davor, dass wenn, in welchem Sportbereich auch immer, jetzt zu viel aufgedeckt wird und man wirklich den Eindruck hat, ohne Doping läuft da gar nichts mehr, dass dann plötzlich die Zuschauer das nicht mehr sehen wollen? Glauben Sie wirklich, dass ein richtig großer Doping-Skandal im Fußball plötzlich dafür sorgen würde, dass in Deutschland kaum noch einer ein Fußball-Länderspiel im Fernsehen guckt?

Kistner: In Sachen Fußball speziell glaube ich das nicht. Fußball ist ganz tief verwurzelt in unserem Freizeitverhalten, in der Kultur schlechthin, nicht nur hier im Lande, sondern eigentlich europaweit. Das ist so ein Bestandteil der Grundversorgung. Und dann kommt hinzu, dass Doping im Fußball immer nur als mittelbares Doping wahrgenommen werden wird, denn in der Tat ist es ja so, dass man hier im Fußball nicht seine spielerische Brillanz mit Doping-Mitteln verbessern kann. Es ist ein wertvoller Helfer, um auf der athletischen Ebene mitzuhalten. Und so wird das dann auch immer wahrgenommen. Anders ist es bei diesen Sportarten wie Radsport, Nordisch Ski usw. usf., diese ausdauernden Kraftsportarten, wo es unmittelbar anschlägt, wo man direkt sagen kann, okay, hätte er das und das nicht genommen, dann wäre er natürlich zwei Minuten später durchs Ziel gefahren. Und diese Sportarten, die ja dann auch wiederum in ihrer Außenwirkung sehr von einzelnen Athleten abhängig sind – beispielsweise Radsport, das war Thema Null in Deutschland, bis Jan Ullrich kam, nehmen wir Tennis, das ist jetzt wieder out, seit Steffi und Boris nicht mehr spielen –, also das so wahrgenommen wird, die drohen dann in der Tat wegzubrechen. Da wird es eine kleine harte Klientel geben, die den Radsportlern weiter die Stange halten, und das wird dann sicherlich in den Bereich Freakshow abdriften, wo es dann auch hingehört, dass also ein großer Teil sich abwendet und der Sport gesellschaftlich nicht mehr vertretbar ist, sich aber eine kleine Klientel das auch weiterhin reinzieht und sagt, okay, ist uns egal, ist ’ne Freakshow wie Schlamm-Catchen und Wrestling, in dem Fall Radsport mit Doping.

Kassel: Wer macht was und wer weiß was? Thomas Kistner, Sportredakteur bei der "Süddeutschen Zeitung" war das über Fußball-Doping und Doping in anderen Bereichen. Herr Kistner, ich danke Ihnen.

Kistner: Bitte schön.