Im Fegefeuer

Von Natascha Freundel |
In sechs Wochen beginnt die Fußball-EM, doch von Vorfreude ist in der Ukraine wenig zu spüren: Der Prozess gegen die Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko ist nur ein Beispiel. Es gebe "überhaupt keinen Enthusiasmus", was das Großereignis angehe, sagt der Schriftsteller Juri Andruchowytsch.
Andruchowytsch: "Das ist keinesfalls die beste Zeit in der ukrainischen jüngsten Geschichte. Das liegt vor allem an der Tatsache, dass es so eine unkompetente und gleichzeitig brutale Regierung, wie wir sie hier heute haben, noch nie bei uns gab.

Deswegen ist für mich dieses ganze Projekt mit Euro 2012 jetzt im Moment eigentlich sehr, sehr negativ. Ich finde, es ist immer noch nicht zu spät, das von uns wegzunehmen. Aber vielleicht ist es schon zu spät."

Juri Andruchowytsch ist wohl der international bekannteste Schriftsteller der heutigen Ukraine. In seinem neuen Buch, dem "Lexikon intimer Orte", erzählt er von seinen Lieblingsplätzen auf der ganzen Welt. Auch Städte in der Ukraine gehören dazu, Kiew und Lemberg, doch wenn Andruchowytsch heute über sein Land spricht, klingt es eher nach einer Hassliebe:

"Vor allem ist das hier ein Land, in dem es politische Häftlinge gibt. Ich weiß nicht, wie das mit den europäischen Werten passt. Wie die Europäer in so ein Land zu einem Fußballfest kommen, wo die zahlreichen Häftlinge zum Beispiel gefoltert werden.

Oder etwas anderes, wo man massenhaft die Straßenhunde vernichtet, vergiftet. Oder wo man ab und zu junge Frauen vergewaltigt. Das ist ein Land, das nicht mal eine Krise erlebt, sondern einfach einen Untergang."

Tatsächlich scheint über dem Land ein Schleier der Hoffnungslosigkeit, der Verwahrlosung und, ja, Entmenschlichung zu liegen. Nahezu alles befindet sich in einem Zustand des Verfalls - Gebäude, Straßen, Brücken, öffentliche Verkehrsmittel. Auch das soziale Miteinander. Es ist eine unheimliche Kälte in dieses Land eingezogen, das einmal für seine Herzlichkeit und Gastfreundschaft bekannt war.

Die Anschläge in Dnepropetrovsk verfestigen nur das Misstrauen der Menschen gegeneinander. Da wirken die neuen Sportstadien, soweit sie fertig gebaut sind, wie verirrte Ufos.

Andruchowytsch: "Diese Situation mit dem Fußball, mit Euro 2012, die passt überhaupt nicht. Auch für die Leute ist das jetzt in diesem Jahr keine besondere Hoffnung, die erwarten nichts Gutes, die haben überhaupt keinen Enthusiasmus diesbezüglich. Meistens sind sie sehr skeptisch. Dazu kommt noch etwas: So eine schwache Nationalmannschaft, die wir heute haben, hatten wir auch nie. Also auch im Fußball, im Spiel kann das eine Schande für uns sein."

Juri Andruchowytsch sieht schwarz für die Ukraine. Neben dem berühmten Fall Timoschenko gäbe es Dutzende unbekannte Opfer einer Machtjustiz, die sich auf politische Widersacher der Janukowitsch-Regierung konzentriere. Es fehle jede Solidarität in der Bevölkerung über einzelne Interessengruppen hinaus. Und der Graben zwischen der europäisch orientierten, ländlichen Westukraine und der noch immer sowjetisch geprägten, industrialisierten Ostukraine werde immer tiefer.

Andruchowytsch, 2004 begeisterter Anhänger der Orangenen Revolution, macht sich keine Illusionen über politische Wandlungsprozesse. Aber er glaubt an ihre Möglichkeit. Nicht die Fußball-EM, sondern die Parlamentswahlen im Oktober könnten ein Anfang sein. Den Druck der EU auf sein Land hält er für richtig, Rufe nach drastischen Maßnahmen allerdings kommentiert er kritisch:

"Man erwartet sehr viel von verschiedensten Sanktionen gegen Janukowitsch persönlich, gegen seine Leute. Objektiv würde das der Popularisierung der europäischen Idee in der Ukraine sehr stark helfen. Wenn eines Tages die Nachricht käme, dass dieses oder jenes Konto von Janukowitsch irgendwo in einer westlichen Bank verhaftet wurde, dann kommen die europäischen Werte bei uns hoch.

Da diese eigene innere Macht so feudalistisch ist und die Leute werden langsam zu Sklaven dieser Feudalen, erwarten sie als echte Sklaven, dass es auf der Welt noch jemanden gibt, der viel höher als dieser Feudal ist und ihn auch strafen kann. Deswegen ist für viele Ukrainer so eine Strafe für Janukowitsch sehr und sehr wünschbar."