Im dritten Jahr

Von Stefan Keim |
Am Sonntag sind die 61. Ruhrfestspiele in Recklinghausen zu Ende gegangen. Selten wurde in Fazit so häufig über dieses Festival berichtet. Oft standen innerhalb einer Woche mehrere Ur- und Erstaufführungen auf dem Programm, darunter neue Stücke von George Tabori, Herbert Achternbusch und Henning Mankell. An großen Namen war kein Mangel in Recklinghausen, aber in diesem Jahr bot Festivalleiter Frank Hoffmann auch künstlerisch ein mutigeres Programm.
Ein neuer Besucherrekord, ein Medienecho wie noch nie, zufriedene Zuschauer – die Ruhrfestspiele hatten eine der erfolgreichsten Spielzeiten seit langem. Über 75.000 Karten wurden verkauft, die Auslastung lag bei 85 Prozent. Das ist besonders beachtlich, weil das Festival nicht wie in den Vorjahren unter Leitung von Frank Hoffmann vor allem auf populäre Namen und bekannte Stücke gesetzt hat. Natürlich waren weiterhin viele Stars in Recklinghausen. Aber vorher kamen sie vor allem mit Gastspielen, nun erlebten viele Stücke ihre Premiere in Recklinghausen. Frank Hofmann ist mutiger geworden:

„Ich war im Januar wirklich sehr nervös. Ich fürchtete, dass es nicht gehen könnte. Der Januar entscheidet, ob es läuft oder nicht, zumindest mit den Zuschauern. Ob es künstlerisch ein Erfolg wird, das entscheidet erst der Mai und der Juni.“

Auch künstlerisch steigt das Niveau der Ruhrfestspiele. Das zeigt sich schon an der großen Neuinszenierung des Festivalleiters selbst. Im Vorjahr scheiterte die kreuzbrave Desirée Nosbusch beim Versuch, Shakespeare zu spielen. In diesem Jahr inszenierte Frank Hoffmann Goethes „Torquato Tasso“ mit einem der besten deutschen Schauspieler in der Hauptrolle, mit Wolfram Koch:

„Es brennen mir die Sohlen auf diesem Marmorboden. Eher kann mein Geist nicht Ruhe finden bis der Staub des freien Wegs mich Eilenden umgibt. Ich bitte dich! Du siehst, wie ungeschickt in diesem Augenblick ich sei, mit meinem Herrn zu reden, siehst – ja wie kann ich es denn verbergen? – dass ich mir selbst in diesem Augenblick, mir keine Macht der Welt gebieten kann. Nur Fesseln sind es, die mich halten können.“

Natürlich waren nicht alle der insgesamt zwölf Uraufführungen Meisterwerke. „Einklang“ von Herbert Achternbusch war ein selbstmitleidiges Granteln, von Ernst M. Binder unendlich betroffen zu Tode inszeniert. Doch solche Flops nimmt man in einem experimentierfreudigen Umfeld in Kauf. Zumal sie selten blieben. Grandios gelang gleich die erste Uraufführung zur Eröffnung, Simon McBurneys fragmentarische, witzige und berührende Kreation „A disappearing number“.

Da zeigten die Ruhrfestspiele wahrhaftig Theater auf europäischem Niveau, einen Abend, der wie ein David-Lynch-Film oft ins Surreale gleitet, den Zuschauer als Mitschöpfer einbezieht. Besonders wichtig: Diese Aufführung war erstmals in Recklinghausen zu sehen und trat von dort ihre Tour durch die anderen Festspiele an. Die Ruhrfestspiele sind wieder ein Ort, an dem kreativ etwas entsteht. Das schien nachdem Frank Castorf mit seinem experimentellen Programm gescheitert war, nicht mehr möglich zu sein. Aber Frank Hoffmann hat es geschafft, nach einer Phase des Wiederaufbaus dem Festival eine klare Kontur zu geben:

„Im ersten Jahr hatte ich keine andere Möglichkeit. Da hatte ich drei Monate, da musste ich eilig ein Programm zusammen stellen und gleichzeitig wusste ich, ich muss die Menschen wieder gewinnen. Ich hatte im zweiten Jahr schon mehr Freiraum. Und diesen Freiraum habe ich auch genutzt, wir hatten mehr Eigenproduktionen. Aber das reichte mir noch nicht. Ich hatte immer noch das Gefühl, wir sind schon weit vorwärts gekommen, aber wir haben noch nicht das erreicht in der Ausstrahlung, in der Außenwirkung, was die Ruhrfestspiele eigentlich sind. Sie sind ein sensationelles Festival für alle Menschen, die hier waren.“

Frank Hoffmann gerät ins Schwärmen, wenn er von den Begegnungen der Schauspieler erzählt. Nach einer Aufführung von Dimiter Gotscheffs grandioser „Tartuffe“-Inszenierung vom Thalia-Theater Hamburg seien spontan Ideen für ein neues Projekt entstanden. Obwohl die Zuschauer in fremdsprachige Aufführungen nicht so besonders strömen, wird Frank Hoffmann am Anspruch eines europäischen Festivals fest halten. Das ist auch gut so, denn das frühe Stück „Procés Ivre“ (Trunkener Prozess) von Bernard-Marie Koltès war eine der Entdeckungen des Festivals. Vorlage war der Roman „Schuld und Sühne“ von Dostojewski. Koltés schaut in den Kopf des „Helden“ Raskolnikov, jenes Studenten aus armseligen Verhältnissen, der glaubt, aufgrund seiner geistigen Überlegenheit andere Menschen töten zu dürfen. Doch er hat die Rechnung ohne sein Gewissen gemacht. Plötzlich spürt er Reue. Sein Mordopfer geistert ebenso durch seine Träume, wie Mutter, Schwester, sein bester Freund und der Polizist, der ihn verdächtigt. Die Themen aus den späteren Stücken von Koltès sind schon präsent. Es gibt keine wirkliche Kommunikation, kein Weg zum Anderen. Jeder denkt, lebt und stirbt für sich allein.

Auch das Fringe-Festival, die Off-Variante der Ruhrfestspiele, hat sich sehr positiv entwickelt. Knapp 8000 Besucher haben die zum Teil sehr schrägen und eigenwilligen Aufführungen gesehen. Da gab es zum Beispiel „Das Kloster“ aus Norwegen, eine Geschichte über drei hungrige Nonnen, die mit allen Mitteln um die letzten Brotstücke kämpfen. Oder das „Cabaret Décadanse“ aus Kanada, in dessen schräger Show die Körper von Puppen und ihren Spielern zu faszinierenden Mischwesen verschmelzen. Durch die Vielzahl der Angebote hat es Frank Hoffmann geschafft, eine sehr breite Zuschauerschicht anzusprechen. Knapp ein Viertel aller Besucher waren junge Leute, die nicht nur zu den Jugendaufführungen kamen sondern sich auch Stücke von Goethe anschauten. Also Zufriedenheit allerorten? Frank Hoffmann schränkt ein:

„Wenn man irgendwann einmal als Künstler das Gefühl hat, angekommen zu sein, dann ist man auch schon am Ende. Ich muss weiter selbst Spaß und Freude dran haben und die Menschen mitziehen, ihnen auch konträre Aufführungen zeigen, die sich auch von den Stilen her widersprechen. Das kann auch nur ein Festival.“

Durch diese Lust an Konfrontation und Kantigkeit haben sich die Ruhrfestspiele wieder zu einem bedeutenden Festival entwickelt. Fast schienen sie zur kleinen, populär orientierten Schwester der Ruhrtriennale zu verkommen, die im September wieder beginnt. Jetzt sind die beiden großen Theaterfestivals in Nordrhein-Westfalen wieder auf Augenhöhe.

Internet: www.ruhrfestspiele.de