Im Dienste der nationalsozialistischen Rassenideologie

Rezensiert von Susanne Billig · 28.07.2005
Der Historiker Hans-Walter Schmuhl zeichnet in seinem Buch "Grenzüberschreitungen" die Geschichte des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Jahren von 1927 bis 1945 nach. Der Wissenschaftler zeigt auf, wie das Grundkonzept des Instituts verschiedene wissenschaftliche Disziplinen miteinander verflechten sollte und wie sich das ehrgeizige Anliegen trefflich in das totale Programm der Nationalsozialisten einfügte.
"Von seiner Gründung im Jahre 1927 bis zu seiner Auflösung im Jahre 1945 überschritt das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin-Dahlem manche Grenze, ja, das Überschreiten von Grenzen war in gewisser Weise von vornherein seine raison d’êitre. "

Mit diesem programmatischen Satz beginnt Hans-Walter Schmuhl sein Mammutwerk "Grenzüberschreitungen". In seiner akribischen Recherche macht der Autor deutlich: Schon das Grundkonzept des Instituts sollte Grenzen sprengen, sollte Biologie, Medizin, Psychiatrie, Ökonomie und Soziologie mit der Eugenik verschmelzen und eine neue Leitwissenschaft vom Menschen schaffen. Das ehrgeizige Anliegen fügte sich trefflich in das totale Programm der Nationalsozialisten. Obwohl vielen Forschern das proletarisch-grobe Auftreten der Nazis unangenehm war - ihre Gesellschaftsutopie teilten sie: Eine umfassende Biopolitik sollte die menschliche Evolution gezielt steuern - nach Maßgabe der nationalsozialistischen Rassenideologie. Zudem erhoffte sich das Institut Forschungsgelder. So kam es zu dem, was Schmuhl "wechselseitige Indienstnahme" nennt und anhand vieler, zum Teil neuer Quellen und Beispiele belegt: Die braunen Machthaber lieferten Aufträge und gesellschaftliche Anerkennung. Die deutschen Forscher hielten der Nazi-Regierung in internationalen Fachkreisen den Rücken frei und dienten sich der Politik als Bio-Experten an. Hier sieht Schmuhl die zweite Grenzüberschreitung – zwischen Wissenschaft und Politik:

"Das erklärte Ziel war, die Grundlagen für eine verwissenschaftliche Politik zu schaffen. Dem lag ein technokratisches Modell der Politikberatung zugrunde, bei dem "wissenschaftlicher Sachverstand" Politik in lauter "Sachzwänge" auflöst und sich in letzter Konsequenz Wissenschaft an die Stelle der Politik setzt. "
Bis auf die sehr fachsprachlich geratene Einleitung liest sich die Institutsgeschichte spannend und anschaulich und macht einmal mehr deutlich: Die nationalsozialistischen Verbrechen fanden keineswegs in der dunklen Ecke unbegreiflicher Irrationalität statt, sondern die Ausgrenzungs- und Tötungsmaschinerie der Nazis agierte gesellschaftlich bestens eingebunden und auf damals höchstem wissenschaftlichen Niveau begründet. Wissenschaftler des Instituts bildeten SS-Ärzte aus, unterstützten Massensterilisierungen und die Tötung Behinderter, leisteten Hilfe bei der Verfolgung und Ermordung von Juden, Sinti und Roma und stellten Untersuchungen an Menschen an, die in KZ-Haft gefangen gehalten wurden. Ausführlich - und bisweilen in seiner Fülle etwas redundant - spürt Schmuhl den Biografien vieler Instituts-Forscher nach und stellt fest:

"Wissenschaftsethische Richtlinien wurden dabei auch und gerade von Forschern durchbrochen, die dem Nationalsozialismus mit einer gewissen Reserve gegenüberstanden. Wissenschaftlicher Machbarkeitswahn resultierte nicht aus politischer Indoktrinierung, sondern aus der Hybris der Forschung."

Die Hybris der Forschung ist nicht ausgestorben. Noch immer - und gerade in der Biopolitik - gibt es Experten genug, die grundlegende gesellschaftliche Entscheidung, etwa zum Umgang mit menschlichen Embryonen oder dem Klonen, zu Sachfragen umdefinieren möchten, welche die Wissenschaftsgemeinde am besten unter sich löst – hier liegt die Aktualität des Buches. Auf uneifrige, ruhige Weise zeigt der Autor, wohin es führen kann - das Amalgam aus Karrierestreben, naiver Wissenschaftsgläubigkeit und dem gezielten Ausblenden der problematischen Seiten der eigenen Forschung. Schmuhl hat ein wichtiges Buch geschrieben – nicht nur für seinen Auftraggeber, die Max-Planck-Gesellschaft, die sich nach jahrzehntelanger Weigerung nun selbstkritisch der eigenen Geschichte stellt. Wenn es hier eine Lektion der Geschichte gibt, so lautet sie: Die Grenzen der Forschung müssen von einer an Wissenschaft und Forschung interessierten Gesellschaft definiert werden. Wissenschaftsgeschichte sollte nicht in Fachgremien abgeschoben werden – dem Buch "Grenzüberschreitungen" sind darum viele Leserinnen und Leser zu wünschen.