Im Dauerfeuer der Spiellust

Von Stefan Keim |
Verzückt schaut Malvolio ins Publikum. Gerade hat er gelesen, dass seine Herrin ihn, den muffigen Mann im grauen Hausmeisterkittel, begehrt. Malvolio berauscht sich an seinen Sätzen, lutscht die Worte aus, spricht die Endungen mit selbstverliebter Überdeutlichkeit.
Er strahlt, in diesem Augenblick hält er sich für einen Star, und er ist es auch, denn das Publikum im Düsseldorfer Schauspielhaus hängt an den Lippen des Schauspielers Fritz Schediwy. Natürlich lachen die Zuschauer, aber Schediwy führt Malvolio nicht nur als arroganten Trottel vor, der ahnungslos in eine Falle tappt. Er zeigt auch einen verbiesterten Underdog, der sich einmal traut, sein Herz zu öffnen, einen Träumenden und Liebenden.

Lange, sehr lange dauert diese Szene aus William Shakespeares Komödie "Was ihr wollt". Aber die Zeit verfliegt, staunend schaut man den Schauspielern zu, die sich völlig dem Augenblick hingeben. Jürgen Gosch lässt die knackig aktualisierte Übersetzung von Angela Schanelec spielen und hat kaum etwas gestrichen. Seine letzten Shakespeare-Inszenierungen dauerten fast immer zweidreiviertel Stunden. Diesmal ist nach dieser Zeit erst Pause, und dann geht die Aufführung noch bis weit nach Mitternacht. Auch die Präsenz männlicher Genitalien, die zuletzt manchen Rezensenten nervte, ist auf ein dem Stücke dienliches Maß zurück gefahren. Jürgen Gosch ist, nachdem er sich zum Beispiel in Hannover mit "Wie es euch gefällt" eher selbst kopierte, wieder auf dem Weg. Er erfindet seinen Stil nicht komplett neu, treibt ihn aber weiter ins Extreme. Sein ohnehin rauschhaftes, extrem körperliches, spontanes Theater scheint nun die Grenzen der Zeit sprengen zu wollen, sich zu einem dionysischen Spektakel zu entwickeln.

Golden schimmert der Bühnenkasten, mit dem Ausstatter Johannes Schütz den Riesenraum des Düsseldorfer Schauspielhauses begrenzt. Die Bühne ballt die Energie der Schauspieler und schleudert sie nach vorne. Die ersten Minuten verbringt Guntram Brattia als Herzog Orsino damit, die Wände schwarz zu streichen. Er bekleckert sich schon ein wenig, doch das ist nur ein Vorbote des großen Farbgematsches, das noch folgen wird. Wenn die schiffbrüchige Viola und der Kapitän sich aus den Fluten retten, schütten die Kollegen eimerweise Wasser über ihnen aus. Die Schauspieler glitschen und gleiten, kämpfen häufig ums Gleichgewicht. Das passt zur Grundstimmung dieser Komödie, die ihre düsteren Abgründe nicht verbirgt.

Horst Mendroch, der schon im fast legendären Düsseldorfer "Macbeth" dabei war, ist ein hinreißend sanfter, schwermütiger Clown. Oft friert die Szene ein, und man hört seine verlorenen Mundharmonikamelodien, mitten im übermütigen Taumel spielt ein Narr sein Lied vom Tod. Die sonst oft problematischen und schnell in nervende Albernheit rutschenden Rüpelszenen haben anarchische Kraft. Michael Abendroth als Alkoholiker und Matthias Leja mit Andy-Warhol-Perücke zeigen kindliche Gemüter, die nur im Augenblick leben und sekundenschnell von brüllender Verzweiflung in den Triumph wechseln.

Die Qualität des "Macbeth" erreicht die Inszenierung dennoch nicht. Zu oft ist die überschäumende Spiellust nur Selbstzweck, der Spaß hat nur manchmal einen wahren Kern. Nicht alle Schauspieler können mit der Freiheit, die Gosch ihnen gibt, produktiv umgehen. Kathleen Morgeneyer bleibt als Gräfin Olivia zu sehr auf einem Leidenston. Dagegen vergisst Katharina Lorenz als Olivia, die sich als Mann verkleidet, vor lauter Spielfreude oft, worum es in ihrer Rolle geht. Vom Identitätskonflikt, dem Kampf mit dem eigenen Körper, dem Terror der Geschlechterrollen, spürt man über die direkte Situation hinaus wenig.

Nicht allen Szenen tut die Länge gut, manchmal hangelt sich die Inszenierung etwas unbeholfen zum nächsten Höhepunkt. Den Schluss inszeniert Gosch bewusst statuarisch. Das Ende bringt keine Erlösung sondern Erstarrung. Die Erkenntnis, wer sich hinter welcher Maske verbirgt, tötet das Spiel. Was bleibt, ist Leere. Und ein entsetzlich gedemütigter Malvolio, dem Fritz Schediwy, der lange nicht so gut war, einen grandiosen Abgang verschafft. Am Ende stehen sie alle als traurige Verlierer da. Aber sie haben einen großen Kampf geliefert. Und deswegen ist das Düsseldorfer Schauspielhaus an diesem langen Abend ein Gewinner.