Im Bann der Bilder
Ein legendärer Vorfall in der Kino-Geschichte: Die Brüder Lumiere lassen in einem Film einen Zug auf das Publikum zurasen - und die Zuschauer fliehen in Panik. Dies ist nur ein Beispiel für die Verschmelzung des realen und fiktiven Raums im Kino. Nun befasst sich die Staatliche Kunsthalle Baden-Baden in der Ausstellung "Multiple Räume. Film - Ist und Als-Ob in der Kunst " mit diesem Phänomen.
Das Kino ist ein obskurer Ort der Illusionen. Kaum geht das Licht aus, verlieren die Zuschauer das Gefühl für Zeit und Raum. Aus der Frühzeit der Filmgeschichte, sagt Kurator Fritz Emslander, gibt es einen Streifen, der das Publikum mit einem simplen Trick regelrecht von den Plätzen jagte:
"Die Brüder Lumiere lassen im Film einen Zug auf das Publikum zufahre. Das Publikum gerät in Panik, weil es meint, überfahren zu werden im nächsten Moment, also die Katastrophe droht, und flüchtet aus dem Kinosaal. "
1895 war das, vor über hundert Jahren, und das Schweizer Künstlerduo Fischli-Weiss hat die historische Panik des Publikums in einer bewegten Lehmskulptur nachgebildet. Denn die Frage gilt auch heute noch: Wo sind wir eigentlich, wenn wir im Kino sind?
"Die These ist, dass im Kino, im Film eigentlich zwei Räume zusammen kommen, nämlich der Innen- und der Außenraum, die verschränkt werden. Der reale und der fiktionale Raum, die sich vermischen. Also ich sitze im Kino und ich sitze zugleich im Sessel, ich bin hier und bin aber auch dort. Das heißt, die Leinwand öffnet sich als Fenster in entfernte, in vergangene Räume, in die wir uns hineindenken, in diese visionären Welten. Und dadurch kommt es eben zu einer Verschränkung von dem architektonischen Kinosaal, von mir, der ich in meinem Körper stecke und von dem im Film konstruierten Raum. "
Die künstlerische Adaption solch filmischer Raumvisionen funktioniert schon mit den einfachsten Mitteln des Taschentheaters. Christian Boltanski inszeniert ein bizarres Schattentheater, indem er die Silhouetten kleiner Drahtfiguren mit Hilfe von Teelichtern über die Wände tanzen lässt. Ein filmisches Prinzip, gewiss, doch der Franzose hat das Licht-Spiel umgedreht: Die Lichter flackern, die Figuren bleiben statisch, leben nur als Projektion.
Andere Künstler haben schon viel früher mit ähnlichen Experimenten filmische Effekte erzielt. Marcel Duchamp etwa, der zeitweise vom Filmemachen träumte, ließ mit grafischen Mustern bemalte Pappscheiben auf einem Plattenspieler rotieren: bewegte Bilder aus der Pionierzeit kinetischer Kunst. Sein Kollege Laszlo Moholy-Nagy kreierte mit seinem berühmten "Licht-Raum-Modulator" von 1922 eine Projektionsmaschine, die ihr Lichtspielprogramm sogar mittels Radiowellen in die Wohnzimmer übertragen sollte – eine Frühform des Fernsehens und ein Plan, der pure Illusion blieb.
Wie kommt überhaupt die Kunst dazu, Fragen des Kinos zu beantworten?
"Die Künstler sehen wir schon sehr als die Wahrnehmungsfachleute, die uns sozusagen das Kino auch nochmals von der anderen Seite zeigen, die uns aufschließen, wie eben die Illusionsmaschinerie funktioniert. Zum Beispiel auch durch die Filmmusik, die ganz suggestiv wirkt, die uns emotional mitreißt. Aber man sagt ja immer, gute Filmmusik merkt man nicht. Also Filmmusik ist dann gut, wenn man sie eigentlich nicht hört, wenn sie einen unterbewusst lenkt in der Rezeption eines Films. "
Ein Musterbeispiel dafür ist ein Sechsminuten-Film von Matthias Müller, gesampelt aus stereotypen Schnipseln einschlägiger Hollywood-Produktionen.
"Bei Matthias Müllers "Homestories" sehen wir aus Hollywood-Melodramen der 60er Jahre Stars wie Tippy Hedren, die nachts im Bett aufwachen und sich wälzen und plötzlich merken, es scheint jemand im Haus zu sein. Es dringt das Unheimliche jeweils in diese Hollywood-Villa ein, und das Ganze ist seriell geschnitten, das heißt es sind zehn oder zwölf Frauen, die parallel das Gleiche machen. Und das Erstaunliche ist, sie folgen alle einem Stereotyp: Sie stehen dann auf, knipsen das Licht an, gucken zum Fenster raus, sehen nichts, gehen auf die Gänge, fangen an zu laufen, werden immer hysterischer, die Treppen hoch und runter, und wir sehen bei dem Ganzen nicht, warum sie Angst haben, also was sie erschreckt. Das heißt, der Schrecken, der Horror, ist offscreen, ist jenseits der Leinwand, ist nicht zu sehen. Und das ist ja schon eine sehr interessante Sache, wie ein Film Spannung erzeugt durch Dinge, die außerhalb des gezeigten Raums sich befinden, dadurch aber umso erschreckender sind. "
Gleichwohl: eine Kunsthalle ist kein Kino, und die Künstler zeigen ihre Analysen nicht auf Breitleinwand, sondern – so wie hier – meist auf kleinen Monitoren oder in abgedunkelten Kabinetten.
Auch das wirkt mitunter noch erstaunlich suggestiv. Eine geschlagene Stunde lang kann man zusehen, wie in einer wandgroßen Projektion von Susanne Kutter ein Wohnzimmer voll Wasser läuft, und immer wieder kriegt man das Gefühl, die Überschwemmung könne gleich auf den Ausstellungssaal übergreifen. Der Raum, ein Alptraum, und doch nur Kino.
Die Ausstellung wird auch an Stellen fündig, wo man es nicht vermutet hätte. Von Oskar Schlemmer, dem Bauhaus-Meister mit reichlich Theater- und Choreographie-Erfahrung, hängen einige Aquarelle, deren Raumkonstruktion geradezu filmisch wirkt.
"Er hat sozusagen schon den filmischen Blick gehabt und man guckt das Aquarell an, es kommt einem vor wie ein eingefrorener Moment. Verschiedene Raumfluchten öffnen sich von einem Standpunkt aus, es wirkt wie ein Splitscreen, oder es wirkt wie ein eingefrorener Moment aus einem Standbild, ein Filmstill, und im nächsten Moment geht die Handlung los. "
Dass die Handlung losgeht, darauf wartet man bei den raffinierten Inszenierungen von Oliver Boberg allerdings vergebens. So wie uns das große Hollywood-Kino mit Spezialeffekten an der Nase herumführt, bastelt Boberg kleine Szenerien und filmt sie ab. Etwa ein Fabrikgebäude bei Nacht, bei dessen Betrachtung sofort die Spannung steigt. Doch es passiert – nichts. Kino im Kopf. Es ist ein filmgeprägtes mediales Memory, mit dem wir solche Räume bespielen.
Wie sehr der Film inzwischen auch persönliche Verhaltensmuster prägt, zeigt der Hamburger Stefan Panhans, der die filmreife Selbstinszenierung junger Frauen in Fußgängerzonen oder Supermärkten fotografiert – sie wirken allesamt, als agierten sie in einem Werbeclip.
Das Leben – ein Film, und eine Schau, bei der nicht nur Cineasten voll auf ihre Kosten kommen.
Die Ausstellung in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden ist noch bis zum 4. Dezember 2005 zu sehen.
"Die Brüder Lumiere lassen im Film einen Zug auf das Publikum zufahre. Das Publikum gerät in Panik, weil es meint, überfahren zu werden im nächsten Moment, also die Katastrophe droht, und flüchtet aus dem Kinosaal. "
1895 war das, vor über hundert Jahren, und das Schweizer Künstlerduo Fischli-Weiss hat die historische Panik des Publikums in einer bewegten Lehmskulptur nachgebildet. Denn die Frage gilt auch heute noch: Wo sind wir eigentlich, wenn wir im Kino sind?
"Die These ist, dass im Kino, im Film eigentlich zwei Räume zusammen kommen, nämlich der Innen- und der Außenraum, die verschränkt werden. Der reale und der fiktionale Raum, die sich vermischen. Also ich sitze im Kino und ich sitze zugleich im Sessel, ich bin hier und bin aber auch dort. Das heißt, die Leinwand öffnet sich als Fenster in entfernte, in vergangene Räume, in die wir uns hineindenken, in diese visionären Welten. Und dadurch kommt es eben zu einer Verschränkung von dem architektonischen Kinosaal, von mir, der ich in meinem Körper stecke und von dem im Film konstruierten Raum. "
Die künstlerische Adaption solch filmischer Raumvisionen funktioniert schon mit den einfachsten Mitteln des Taschentheaters. Christian Boltanski inszeniert ein bizarres Schattentheater, indem er die Silhouetten kleiner Drahtfiguren mit Hilfe von Teelichtern über die Wände tanzen lässt. Ein filmisches Prinzip, gewiss, doch der Franzose hat das Licht-Spiel umgedreht: Die Lichter flackern, die Figuren bleiben statisch, leben nur als Projektion.
Andere Künstler haben schon viel früher mit ähnlichen Experimenten filmische Effekte erzielt. Marcel Duchamp etwa, der zeitweise vom Filmemachen träumte, ließ mit grafischen Mustern bemalte Pappscheiben auf einem Plattenspieler rotieren: bewegte Bilder aus der Pionierzeit kinetischer Kunst. Sein Kollege Laszlo Moholy-Nagy kreierte mit seinem berühmten "Licht-Raum-Modulator" von 1922 eine Projektionsmaschine, die ihr Lichtspielprogramm sogar mittels Radiowellen in die Wohnzimmer übertragen sollte – eine Frühform des Fernsehens und ein Plan, der pure Illusion blieb.
Wie kommt überhaupt die Kunst dazu, Fragen des Kinos zu beantworten?
"Die Künstler sehen wir schon sehr als die Wahrnehmungsfachleute, die uns sozusagen das Kino auch nochmals von der anderen Seite zeigen, die uns aufschließen, wie eben die Illusionsmaschinerie funktioniert. Zum Beispiel auch durch die Filmmusik, die ganz suggestiv wirkt, die uns emotional mitreißt. Aber man sagt ja immer, gute Filmmusik merkt man nicht. Also Filmmusik ist dann gut, wenn man sie eigentlich nicht hört, wenn sie einen unterbewusst lenkt in der Rezeption eines Films. "
Ein Musterbeispiel dafür ist ein Sechsminuten-Film von Matthias Müller, gesampelt aus stereotypen Schnipseln einschlägiger Hollywood-Produktionen.
"Bei Matthias Müllers "Homestories" sehen wir aus Hollywood-Melodramen der 60er Jahre Stars wie Tippy Hedren, die nachts im Bett aufwachen und sich wälzen und plötzlich merken, es scheint jemand im Haus zu sein. Es dringt das Unheimliche jeweils in diese Hollywood-Villa ein, und das Ganze ist seriell geschnitten, das heißt es sind zehn oder zwölf Frauen, die parallel das Gleiche machen. Und das Erstaunliche ist, sie folgen alle einem Stereotyp: Sie stehen dann auf, knipsen das Licht an, gucken zum Fenster raus, sehen nichts, gehen auf die Gänge, fangen an zu laufen, werden immer hysterischer, die Treppen hoch und runter, und wir sehen bei dem Ganzen nicht, warum sie Angst haben, also was sie erschreckt. Das heißt, der Schrecken, der Horror, ist offscreen, ist jenseits der Leinwand, ist nicht zu sehen. Und das ist ja schon eine sehr interessante Sache, wie ein Film Spannung erzeugt durch Dinge, die außerhalb des gezeigten Raums sich befinden, dadurch aber umso erschreckender sind. "
Gleichwohl: eine Kunsthalle ist kein Kino, und die Künstler zeigen ihre Analysen nicht auf Breitleinwand, sondern – so wie hier – meist auf kleinen Monitoren oder in abgedunkelten Kabinetten.
Auch das wirkt mitunter noch erstaunlich suggestiv. Eine geschlagene Stunde lang kann man zusehen, wie in einer wandgroßen Projektion von Susanne Kutter ein Wohnzimmer voll Wasser läuft, und immer wieder kriegt man das Gefühl, die Überschwemmung könne gleich auf den Ausstellungssaal übergreifen. Der Raum, ein Alptraum, und doch nur Kino.
Die Ausstellung wird auch an Stellen fündig, wo man es nicht vermutet hätte. Von Oskar Schlemmer, dem Bauhaus-Meister mit reichlich Theater- und Choreographie-Erfahrung, hängen einige Aquarelle, deren Raumkonstruktion geradezu filmisch wirkt.
"Er hat sozusagen schon den filmischen Blick gehabt und man guckt das Aquarell an, es kommt einem vor wie ein eingefrorener Moment. Verschiedene Raumfluchten öffnen sich von einem Standpunkt aus, es wirkt wie ein Splitscreen, oder es wirkt wie ein eingefrorener Moment aus einem Standbild, ein Filmstill, und im nächsten Moment geht die Handlung los. "
Dass die Handlung losgeht, darauf wartet man bei den raffinierten Inszenierungen von Oliver Boberg allerdings vergebens. So wie uns das große Hollywood-Kino mit Spezialeffekten an der Nase herumführt, bastelt Boberg kleine Szenerien und filmt sie ab. Etwa ein Fabrikgebäude bei Nacht, bei dessen Betrachtung sofort die Spannung steigt. Doch es passiert – nichts. Kino im Kopf. Es ist ein filmgeprägtes mediales Memory, mit dem wir solche Räume bespielen.
Wie sehr der Film inzwischen auch persönliche Verhaltensmuster prägt, zeigt der Hamburger Stefan Panhans, der die filmreife Selbstinszenierung junger Frauen in Fußgängerzonen oder Supermärkten fotografiert – sie wirken allesamt, als agierten sie in einem Werbeclip.
Das Leben – ein Film, und eine Schau, bei der nicht nur Cineasten voll auf ihre Kosten kommen.
Die Ausstellung in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden ist noch bis zum 4. Dezember 2005 zu sehen.