Im ärmsten Stadtteil Kölns

Was ist arm?

Suppenküche vor dem Dom in Köln
Bedürftige warten am 28.10.2016 vor einer mobilen Suppenküche vor dem Dom in Köln (Nordrhein-Westfalen). © picture alliance/dpa/Foto: Rolf Vennenbernd
Von Vivien Leue  · 12.12.2016
Mit Statistiken wird versucht, Armut zu definieren und diese Statistiken orientieren sich meistens am Einkommen. Aber Geld allein macht Armut nicht aus, das sagen die, die es wissen müssen: die Bewohner des ärmsten Stadtteils in Köln.
Es ist ein Dienstagvormittag in Köln. Vor der Kirchengemeinde St. Theodor im Stadtteil Vingst hat sich eine lange Schlange gebildet – 50, 60 Menschen stehen im großen Innenhof der Kirche und warten, unter ihnen Silke. Die 43-Jährige kommt fast jeden Dienstag hierhin – zur Essensausgabe für Bedürftige.
"Norbert wird gleich die Nummern verteilen und dann kriegt jeder eine Nummer und dann geht das am Nachmittag um halb vier erst los."
Auch ihre Mitbewohnerin Sonja steht in der Schlange. Beide sind sie arbeitslos, hangeln sich von Minijob zu Minijob und leben von Hartz IV.
Sonja: "Normalerweise kriege ich 413, dann wird noch was abgezogen. Was habe ich dann, 310, 300 Euro, vielleicht gerade mal zum Leben. Dann kommen noch Schulden, die ich abbezahlen muss. Dann bleiben mir zum Leben 200 Euro. Das ist dann wirklich schon ziemlich eng."
Sonja und Silke sind bedürftig, aber sind sie auch arm? Die Definition von Armut richtet sich hier in der Kirchengemeinde nicht nach Statistiken. Arm ist, wer nicht dazu gehört. Und dazugehören, das können alle, die wollen. Ralf zum Beispiel, ebenfalls Stammgast bei der Essensausgabe.
"Ich kann nicht mehr arbeiten, weil ich habe die Knie kaputt, Rücken kaputt. Das kannste voll vergessen. Vielleicht ehrenamtlich, das kannste noch machen. Werde ich nachher auch hier mal nachfragen und so."

Bedürftige werden in die Pflicht genommen

Ehrenamtliche kann die Kirchengemeinde St. Theodor immer gebrauchen. Pfarrer Franz Meurer engagiert sich seit Jahrzehnten in dem Viertel – und setzt ganz bewusst darauf, die Bedürftigen seiner in die Pflicht zu nehmen.

"Herr Grziwa?"
"Hi…"
"Ach, da sind Sie ja, alles klar?"
Jetzt ist er bei seinem Rundgang durch das große, moderne Kirchengebäude – überall wird gewerkelt und gearbeitet: Neben der Essensausgabe gibt es eine Kleiderkammer, eine Fahrradreparatur und diverse andere Werkstätten. In einer davon spricht Pfarrer Meurer mit seinem Schreiner gerade die neuesten Projekte ab.
"Wir haben hier in unserem Viertel 17 Kindergärten, wir haben sieben Schulen und Herr Grziwa ist hier der Schreinermeister, der einfach zuarbeitet und pflegt."
Dutzende Menschen engagieren sich in der katholischen Gemeinde und dem Viertel:
"Also wir haben zwar die meisten Überschuldungen in Köln, mehr als Chorweiler, 28 Prozent, also hier ist der ärmste Stadtteil von Köln, aber wir versuchen alles schön zu machen."

Die Kirche kümmer sich mit ums Viertel

Jedes Jahr werden im Viertel zehntausende Blumen gepflanzt, im Herbst sorgt die Kirche dafür, dass das Laub von den Straßen verschwindet, Helfer hängen Hundetüten auf, machen verrottete Bänke wieder fit und zu Weihnachten sorgen Pfarrer Meurer und sein Team für eine stimmungsvolle Straßenbeleuchtung:
"Hier ist eins von zwei Lagern mit Weihnachtssternen. Wir haben 130 Weihnachtssterne, die wir an Straßenlaternen hängen. Wo es arm ist, darf es nicht ärmlich sein, muss eben schön sein. Das heißt, wir müssen gucken, dass man versucht, stolz auf sein Viertel zu sein. Dann ist egal, wieviel Geld man verdient. Denn Armut hat ja erstmal gar nichts mit Geld zu tun, sondern Armut heißt Ausschluss, Exklusion, du gehörst nicht dazu."
Günter Wagner ist Frührentner, gehbehindert und kann nicht mehr voll arbeiten. Über einen Ein-Euro-Job ist er zur Kirche gekommen – und dort geblieben, als die Arbeitsmaßname auslief. Mittlerweile hilft er als eine Art Hausmeister, um das Viertel hübsch zu machen.
Meurer: "Was machst Du denn mit den Bänken?"
Wagner: "Ja, Abschmirgeln, dann neu hobeln, neu streichen und dann werden die wieder im Viertel aufgestellt."
Wagner ist stolz, mithelfen zu können.
"Man wird angesprochen, von den älteren Leuten, dass sie das sehr gut finden, dass hier aufgeräumt wird von uns."
Ein paar dieser älteren Leute sitzen gerade vor der Kirche und ruhen sich aus. Sie waren schon sehr früh am Tag hier, um sich einen guten Platz in der Schlange vor der Essensausgabe zu sichern. Unter ihnen Monika, 75 Jahre alt:
"Ich bin jetzt im zweiten Jahr erst hier, ich habe mich vorher nicht getraut. Ich würde jetzt… ich sage – ja, ich brauche das und deshalb komme ich auch hierher."
Sie sitzt mit einigen anderen Frauen an einem Tisch, vor ihnen Plastikdosen mit Frikadellen, Gürkchen und Brot – jeder hat etwas mitgebracht, um gemeinsam die Wartezeit bis zur Öffnung der Essensausgabe am Nachmittag zu überbrücken. Und jeder hat eine Geschichte zu erzählen – von Krankheiten, die das Arbeiten unmöglich machen, einer Trennung oder dem Tod des Partners.
Dabei geht es Vielen nicht nur um die Arbeit – sondern auch um die sozialen Kontakte – darum, dazuzugehören zum Rest der Gesellschaft. Neben der großen Tüte mit frischen Lebensmitteln, die die Essensausgabe von St. Theodor jeden Dienstag in Köln-Vingst bereit hält, ist das auch ein Grund, warum Elke regelmäßig vorbeikommt.
"Es ist besser, als zuhause zu sitzen und zu warten, bis Godot kommt – lacht – der dann doch nicht kommt."
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