Ilse in der Rosenstraße

Von Gerald Beyrodt |
Ende Februar 1943 verlangten die "Frauen von der Rosenstraße" in Berlin die Freilassung ihrer jüdischen Ehemänner, die von SA und Gestapo verhaftet worden waren. Unter den Verhafteten waren auch einige jüdische Frauen. Eine von ihnen war die Tante von Gerald Beyrodt.
Als ich dreißig wurde, bot mir meine Großtante an, in ihrer Wohnung zu feiern, in der Niehbuhrstraße in Berlin-Charlottenburg - eine Gegend, in der Ilse fast ihr ganzes Leben zubrachte. Das Kaffeetrinken und den Abend mit lauter jungen Leuten genoss Ilse sichtlich. Und meine Freunde mochten die alte Dame. Mit Anfang Neunzig strahlte sie noch Eleganz aus, trug ein blaues Kleid, war sorgfältig geschminkt.

Oft erzählte mir Ilse von ihrer Kindheit vor dem Ersten Weltkrieg in Berlin, von den vielen Juden, die es damals in Charlottenburg gab. Ihre Eltern waren mit der Mutter des Schriftstellers Kurt Tucholsky befreundet, gingen häufig zusammen in die Oper oder ins Konzert. Doris Tucholsky hatte einen speziellen Kosenamen für Ilse - Illerchen.

"Wenn sie abends mal weggingen, sagte Frau Tucholsky, 'Nicht wahr Illerchen, du gehst doch, du gehst doch ins Bett. Wir gehen zu einem Konzert, macht dir doch nichts. Nein, nein, Illerchen macht das schon.' Sie nannte mich ein bequemes Kind."

Ilse kam aus einer Generation von Juden, für die Deutschland alles war. Die Männer ihrer Generation hießen in unserer Familie Fritz und Wilhelm, trugen Kaisernamen. 1933 hat Ilse geheiratet, im Jahr, als das deutsche Parlament Hitler zum Kanzler wählte.

"Wir waren ja gar nicht aufgeboten. Es war wieder ein Gesetz rausgekommen, dass von Mischehen keine Kinder in bestimmte Schulen gehen können und nicht alles mitmachen können. Und da sagte rief mein Mann an und sagte: 'Ich gehe morgen mit dir aufs Standesamt.'"

Ilses Mann war von Beruf Rechtsanwalt - Rechtsanwalt Hummel. Den Vornamen habe ich vergessen und kann ihn nirgendwo finden. Ein Kind hätte sich Ilse gewünscht, einen Sohn. Heinz sollte er heißen. Doch weil Ilse den Naziterror fürchtete, hat sie nie ein Kind bekommen. 1938 brannten die Synagogen.

"Man kann es sich nicht vorstellen, wenn man in deiner Generation ist, man kann es sich wirklich nicht vorstellen. Überall waren Schilder dran, 'Kauft nicht bei Juden' und 'Geschlossen' und so weiter, und dann hat alles gebrannt, in der Fasanenstraße hat die Synagoge gebrannt. Und da habe ich mit meiner Mutter davor gestanden und das gesehen. Mir liefen die Tränen runter." (ihre Stimme kippt, Ilse weint) "Und da hat meine Mutter gesagt: 'Einem Volk, das Gotteshäuser anzündet, dem wird es nie gutgehen.' Das werde ich nie vergessen."

Die Ehe mit einem Christen gab Ilse einen gewissen Schutz. Sie musste den gelben Stern nicht tragen. Der Literatur ist zu entnehmen: Die Nazis planten sehr wohl, auch Juden zu ermorden, die in Mischehen lebten, nur eben später. 1943 sollte Ilse deportiert werden. Man hatte sie ins Arbeitsamt bestellt.

"Und nach einer Weile kamen sie mit Lastwagen und allem möglichem anderen an und aufgeladen und man wusste nicht, wohin. Und ich stand da, stehen natürlich, stand da mit einer sehr netten Dame, die sagte: 'Wissen Sie, ich gehe ja auch nur mit meinem Mann mit, weil ich wissen will, wo er hinkommt.' Die war keine, also auch eine Mischehe wahrscheinlich, nicht? Und da habe ich ihr in dem Wagen, wo wir alle stehen mussten, noch schnell unsere Telefonnummer gegeben und habe gesagt: 'Wenn es Ihre Zeit erlauben würde, ich wäre sehr dankbar.' 'Ja', sagt sie, 'ich will nur wissen, wo sie hinkommen. Und ich rufe dann Ihren Mann an', sagt sie, 'und werde ihm sagen, wo sie hingekommen sind.' Und das war dann die Rosenstraße."

Unter den Häftlingen der Sammelstelle in Mitte waren viele jüdische Männer, die mit Christinnen verheiratet waren, nur wenige jüdische Frauen wie Ilse. Die christlichen Frauen protestierten lautstark: "Wir wollen unsere Männer wiederhaben". Nach einiger Zeit wurden die Juden auf den Hof bestellt, wo sie viele Stunden warten mussten.

"Da saß ein SA-Mann da, der natürlich ein junges Mädchen auf dem Schoß hatte. Und jedes Mal, wenn er einen Stempel machte, man kriegte einen mit in den Ausweis, den musste man noch haben, er einen Stempel machte, hat er der einen Kuss gegeben. Und wir mussten dastehen und um unser Leben bangen."

Dann hieß es: "Leider können wir Sie nicht transportieren." Ilse und die anderen wurden freigelassen. Ilse rief ihren Mann an und stieg in die S-Bahn. Ihr Mann holte sie ab. Das Kriegsende erlebten beide gemeinsam im Luftschutzkeller.

"Wir durften sogar den Hund mitnehmen. Wir sind zum Polizeirevier gegangen. Hat der gesagt: 'Hunde dürfen nicht.' Hab ich gesagt: 'Der Führer hat gesagt, Rassehunde dürfen.'"

Geschichten von Überlebenden sind immer tückisch. Allzu leicht vergisst man, dass das Überleben die Ausnahme war, die absolute Ausnahme. Ilses Mutter wurde ermordet, Ilses Schwester wurde ermordet, Ilses Schwager wurde ermordet, auch Doris Tucholsky wurde ermordet. Mehr als fünfzig Jahre lang lebte Ilse nach dem Krieg in Berlin. Ich habe sie gefragt, ob sie jemals ein Wort der Entschuldigung gehört hat.

"Entschuldigen? Wer soll sich denn entschuldigen? Na, das gab's doch nicht."

Ilses Ehe hat nicht gehalten, denn ihr Mann betrog sie mit der Sekretärin. Nach der Scheidung wurde die Sekretärin seine Frau, auch diese Ehe hielt nicht. Ilse hat den Kontakt zu ihrem Ex-Mann immer aufrecht erhalten und verstand sich prächtig mit dessen dritter Frau. "Die hat mir ja nichts getan", sagte Ilse pragmatisch.

Auch Ilse liebte das Leben und liebte die Männer, hatte viele Bekanntschaften. Flirten konnte sie, so lange sie lebte. Das letzte Mal sah ich sie im Jüdischen Pflegeheim, wo ich sie viel zu selten besuchte. Ilse war verwirrt, wusste nicht genau, wo sie war, erkannte mich aber trotzdem, blickte dann den Zivildienstleistenden an, setzte einen Jungmädchenblick auf und sagte ihm, dass er schöne weiße Zähne habe. Der junge Mann strahlte.


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Unter den "Frauen von der Rosenstraße" war auch Ruth Recknagel:

Themenabend 1949 - Zeitzeugin Ruth Recknagel
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